Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zum Wirklichkeitsbegriff Rudolf Steiners

(Stand 20.01.2018)

Kapitel 6

Vorgegebenheit, Rekomposition und Abbildung von Wirklichkeit

Was die Frage der Abbildung von Wirklichkeit angeht, so möchte ich zuerst betonen, was nach Steiners Auffassung die Erkenntnis nicht ist: Sie ist nicht die Abbildung von an sich bestehenden, bewußtseinsjenseitigen Seinsverhältnissen und sie ist nicht die abbildliche Wiederholung einer klassisch genommenen Wahrnehmungswirklichkeit im erkennenden Bewußtsein, sondern sie ist die Synthese zweier fragmentierter Wirklichkeitshälften zu einem angeschauten Ganzen.

Diese beiden Wirklichkeitshälften muß ich natürlich voraussetzen, denn sonst könnte ich sie ja weder in ihrer sinnlichen und begrifflichen Form wahrnehmen noch vereinigen. Gegeben sind uns also streng betrachtet nicht nur die Sinneswahrnehmungen, sondern auch die Wahrnehmungen des Denkens. Der Umstand, daß das Denken auf unserer eigenen Aktivität beruht, tut dieser Tatsache der Gegebenheit keinen Abbruch. Die ideellen Beziehungen, die das Denken etwa zwischen den einzelnen Wahrnehmungen konstatiert, sind nicht erfunden sondern gefunden. Das heißt: sie existieren bereits, bevor das Denken ihrer ansichtig wird. Das ist eine Grundüberzeugung der Philosophie Steiners. Das Denken, schreibt Steiner, darf "auch nicht so gefaßt werden, als wenn es zu dem Inhalt der Wirklichkeit etwas hinzubrächte. Es ist nicht mehr und nicht weniger Organ des Wahrnehmens wie Auge und Ohr. So wie jenes Farben, dieses Töne, so nimmt das Denken Ideen wahr."49

Die ursprüngliche Seins-Wirklichkeit muß demnach ontologisch - nicht erkenntnistheoretisch - vorgegeben sein. Dieses Vorgegebensein darf der Erkenntnistheoretiker am Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie keinesfalls voraussetzen, aber er kann es hernach als Resultat erkennender Betrachtung konstatieren, wenn er sich mit dieser Wirklichkeit entsprechend auseinandergesetzt hat.

Wäre die Seins-Wirklichkeit nicht vorgegeben, dann würden wir in unserer Erkenntnis nicht die Prinzipien eines vorhandenen Seienden anschauen sondern irgend eine solipsistische oder illusionistische Gaukelei. Oder aber wir wären Götter, welche die Wirklichkeit in allen ihren Gesetzen und wahrnehmlichen Aspekten erst erzeugten. "Schelling sagt: Die Natur erkennen, heißt die Natur schaffen. - Wer diese Worte des kühnen Naturphilosophen wörtlich nimmt, wird wohl zeitlebens auf alles Naturerkennen verzichten müssen. Denn die Natur ist einmal da, und um sie ein zweites Mal zu schaffen, muß man die Prinzipien erkennen, nach denen sie entstanden ist. Für die Natur, die man erst schaffen wollte, müßte man der bereits bestehenden die Bedingungen ihres Daseins abgucken. Dieses Abgucken, das dem Schaffen vorausgehen müßte, wäre aber das Erkennen der Natur, und zwar auch dann, wenn nach erfolgtem Abgucken das Schaffen ganz unterbliebe. Nur eine noch nicht vorhandene Natur könnte man schaffen, ohne sie vorher zu erkennen. Was bei der Natur unmöglich ist: das Schaffen vor dem Erkennen; beim Denken vollbringen wir es. Wollten wir mit dem Denken warten, bis wir es erkannt haben, dann kämen wir nie dazu. Wir müssen resolut darauf losdenken, um hinterher mittels der Beobachtung des Selbstgetanen zu seiner Erkenntnis zu kommen. Der Beobachtung des Denkens schaffen wir selbst erst ein Objekt. Für das Vorhandensein aller anderen Objekte ist ohne unser Zutun gesorgt worden."50

Diese Ansicht ist durchaus mit einer Auffassung verträglich, die im Erkennen eine Art Bild oder Abbild der Wirklichkeit sieht, auch wenn sie in Steiners Augen unbefriedigend ist. Zumindest kann es nach meiner Überzeugung aus Steiners Sicht keine ernsthaften Einwände gegen die prinzipielle Abbildbarkeit der Wirklichkeit im Erkennen geben. Wenn er sich trotzdem dagegen verwahrt, so hat dies andere Gründe als die Abbildungsunfähigkeit der Wirklichkeit.

In der erläuternden Sekundärliteratur zu Steiner wird überwiegend Wert auf die Feststellung gelegt, daß das Erkennen nach Steiner kein Abbilden sei, was natürlich richtig ist -, aber lediglich in einem sehr eingeschränkten Sinne. Man muß sich einmal die Sachzusammenhänge ansehen, in denen Steiner gegen ein Abbildungsverständnis opponiert. Man wird nie finden, daß er die generelle Möglichkeit einer Abbildbarkeit von Wirklichkeit schlechthin kritisiert, sondern stets eingeschränkte Aspekte von Abbildung. Einer der am häufigsten anzutreffenden Fälle von Kritik ist jener, der sich entschieden gegen die Meinung stellt, Erkennen sei das Abbilden einer in der Sinneswahrnehmung fertig vorgegebenen Wirklichkeit. Hier opponiert Steiner vor allem gegen jene positivistische Ansicht seiner Zeit, die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit sei schon die vollständige, und diese würde im Erkennen lediglich abgebildet. Zielpunkt seiner Kritik ist hier nicht die Abbildungsmöglichkeit schlechtweg, sondern eine irreführende Ansicht hinsichtlich der eigentümlichen Leistung des Denkens und der besonderen Artung der begrifflichen Inhalte des Denkens.

Diese Stoßrichtung des Steinerschen Bemühens findet sich exemplarisch und prägnant in den "Rätseln der Philosophie" gegen Ende dieses Werkes: "Solange man den Glauben hegt, in der Welt, welche sich durch die Sinne offenbart, sei ein Abgeschlossenes, ein auf sich Beruhendes gegeben, das man untersuchen müsse, um sein inneres Wesen zu erkennen, solange wird man aus der Wirrnis nicht herauskommen können, welche durch die angedeuteten Fragen sich ergibt." schreibt Steiner dort. Und weiter: "Die Menschenseele kann ihre Erkenntnisse nur in sich selbstschöpferisch erzeugen. Das ist eine Überzeugung, die mit Berechtigung sich herausgebildet hat aus den Voraussetzungen, welche in dem Kapitel dieses Buches «Die Welt als Illusion» und bei der Darstellung der Gedanken Hamerlings geschildert worden sind. Dann aber, wenn man zu dieser Überzeugung sich bekennt, kommt man über eine gewisse Klippe der Erkenntnis so lange nicht hinweg, als man sich vorstellt: die Welt der Sinne enthielte die wahren Grundlagen ihres Daseins in sich; und man müsse mit dem, was man in der Seele selbst erzeugt, irgendwie etwas abbilden, was außerhalb der Seele liegt. [...] Nur eine Erkenntnis wird über diese Klippe hinwegführen können, welche ins geistige Auge faßt, daß alles, was die Sinne wahrnehmen, sich durch seine eigene Wesenheit nicht als eine fertige, in sich beschlossene Wirklichkeit darstellt, sondern als ein Unvollendetes, gewissermaßen als eine halbe Wirklichkeit. [...] Sobald man voraussetzt, man habe in den Wahrnehmungen der Sinnenwelt eine volle Wirklichkeit vor sich, wird man nie dazu kommen, der Frage Antwort zu finden: Was haben die selbstschöpferischen Erzeugnisse der Seele zu dieser Wirklichkeit erkennend hinzuzubringen? Man wird bei der Kantschen Meinung stehen bleiben müssen: der Mensch muß seine Erkenntnisse als die Eigenprodukte seiner seelischen Organisation ansehen, nicht als etwas, was ihm als eine wahre Wirklichkeit sich offenbart. Liegt die Wirklichkeit außerhalb der Seele in ihrer Eigenart gestaltet, dann kann die Seele nicht das hervorbringen, was dieser Wirklichkeit entspricht, sondern nur etwas, das aus ihrer eigenen Organisation fließt."51 Und kurz darauf heißt es zusammenfassend: "Strebt man also danach, im Erkennen nur nachzubilden, was schon vor dem Erkennen beobachtet wird, so erlangt man kein wahres Erleben in der vollen, sondern ein Abbild der «halben Wirklichkeit»."52

Wie man sieht nimmt Steiner hier keinen Anstoß an einer Abbildungstheorie des Erkennens im allgemeinen, sondern an einer solchen, die meint, im Erkennen würde lediglich die Wahrnehmungswirklichkeit abgebildet. Die Unzulänglichkeit eines Erkenntnisbegriffs greift er an, und nicht die Abbildbarkeit von Wirklichkeit. Man kann sich nach dem Vorangehenden die Frage stellen, ob es aus Steiners Sicht überhaupt irgendwelche prinzipiellen oder triftigen Einwände gegen eine Abbildung der vollen Wirklichkeit gibt. Oder anders gesagt: Schließt sein erkenntnistheoretischer Standpunkt ein Abbilden der vollen Wirklichkeit grundsätzlich aus - oder schließt er ihn nicht viel eher sogar ein?

Ich darf den Leser dazu einmal an die Anmerkung 3a) verweisen und die dort vorgebrachten Beispiele a) - h), die Steiners Auseinandersetzung mit einer Abbildtheorie des Erkennens exemplarisch wiedergeben. Sie sind sicherlich nicht vollständig, aber sie sind auf jeden Fall repräsentativ. Schaut man sich diese Beispiele an, dann fällt auf, daß Steiner grob überschlagen drei Typen von Einwänden vorbringt:

I. Solche die gegen ein eingeschränktes oder partielles Verständnis der Abbildung von Wirklichkeit gerichtet sind: Etwa Beispiel a) und d). Hier wendet sich Steiner unter anderem gegen die Ansicht, der Begriff sei als eine Art Bild oder Fotografie von Wahrnehmungsgegenständen aufzufassen. Was er dort genau genommen kritisiert, ist nicht ein Abbildungsverständnis des Erkennens im allgemeinen, sondern eine bestimmte Theorie des Begriffs, die im Begriff gleichsam eine abbildliche Wiederholung der Wahrnehmungswirklichkeit sieht.

II. Solche die gegen ein Abbilden erkenntnisjenseitiger Wirklichkeit argumentieren: Etwa Beispiele c), d) und e). Hinsichtlich dieser Fälle darf ich den Leser an das Kapitel 5 dieser Arbeit verweisen und beschränke mich hier auf die Bemerkung, daß eine erkenntnisjenseitige Wirklichkeit prinzipiell nicht abgebildet werden kann. Das folgt notwendig aus dem Begriff (besser: Unbegriff) einer erkenntnisjenseitigen Wirklichkeit. Denn zu einer derartigen Wirklichkeit besteht kein Zugang, weil sie nicht existiert. Folglich kann man sich auch kein Bild davon machen. Bei näherem Zusehen geht es in diesen Fällen ebenfalls nicht um das Abbilden von bewußtseinszugänglicher Wirklichkeit, sondern um einen absurden Erkenntnis- und Wirklichkeitsbegriff.

III. Sowie solche, die sich dagegen wenden, daß das Erkennen nur das Abbilden einer schon ganz und gar vollendeten Wirklichkeit sei: Beispiele f), g) und h)

Aber es gibt keinen einzigen Fall der Beweisführung gegen die grundsätzliche Möglichkeit einer Abbildung der vollen, bewußtseinszugänglichen Wirklichkeit. Ich glaube es ist nicht zufällig so, daß Steiner solche Argumente nicht vorbringt, sondern sachlich bedingt. Denn wenn man seinen Standpunkt einnimmt, gibt es auch keine derartigen Argumente. Das heißt: Die prinzipielle Abbildbarkeit von Wirklichkeit wird von seinem Gesichtspunkt nicht etwa grundsätzlich ausgeschlossen, sondern grundsätzlich eingeschlossen. Sie ist eine notwendige Bedingung für die Philosophie Steiners. - Aber sie ist nicht hinreichend; sie greift zu kurz. Sie reicht nicht aus, um das zu würdigen und zum Ausdruck zu bringen, was beim Erkennen und durch dasselbe tatsächlich geschieht, und in dieser abstrakten Verengung und Vereinseitigung auf bloße Abbildung ist sie auch schon wieder falsch. Die Auffassung, das Erkennen sei nur die Abbildung einer fix und fertigen Wirklichkeit, verleugnet die Tatsache, daß das Erkennen selbst zur Wirklichkeit gehört, und nur mit ihr im Zusammenhang gesehen werden kann - eine Einheit mit ihr bildet. Der Beobachter und sein Erkennen ist Teil dieser Wirklichkeit, den man nicht willkürlich von ihr abtrennen kann. Deswegen muß dieser Prozeß des Erkennens in die Gesamt-Wirklichkeitsbilanz eingerechnet werden. Eine Wirklichkeitstheorie also, die sich nicht dem Vorwurf aussetzen will essentielle Teile der Wirklichkeit schlicht auszublenden, muß daher auch eine Theorie des Beobachters enthalten, sowie eine Theorie jenes Prozesses, durch den der Beobachter zu seiner Wirklichkeitsauffassung gelangt. Und schließlich auch unterschlägt die bloß abstrakte Verengung auf Abbildung Sinn und Bedeutung, die der Mensch und sein Erkennen in der Welt und für die Welt hat. Sie kann prinzipiell keinen Blick gewinnen dafür, was dieses Erkannt- und Angeschaut-Werden für die Wesen der Natur selbst bedeutet. Einzig aus diesen Günden ist sie in Steiners Augen abzulehnen, und nicht etwa, weil die Wirklichkeit prinzipiell nicht abgebildet werden kann.

Diese Einstellung Steiners schildert vor allem nachfolgendes Zitat aus seiner Autobiographie (GA-28, 1962, S. 320 f): "Es lebte in meinem ganzen Seelenwesen die Begeisterung für dasjenige, was ich später «wirklichkeitsgemäße Erkenntnis» nannte. Und namentlich war mir klar, daß der Mensch mit einer solchen «wirklichkeitsgemäßen Erkenntnis» nicht in irgendeiner Weltecke stehen könne, während sich außer ihm das Sein und Werden abspielt. Erkenntnis wurde mir dasjenige, was nicht allein zum Menschen, sondern zu dem Sein und Werden der Welt gehört. Wie Wurzel und Stamm eines Baumes nichts Vollendetes sind, wenn sie nicht in die Blüte sich hineinleben, so sind Sein und Werden der Welt nichts wahrhaft Bestehendes, wenn sie nicht zum Inhalt der Erkenntnis weiterleben. Auf diese Einsicht blickend, wiederholte ich bei jeder Gelegenheit, bei der es angebracht war: der Mensch ist nicht das Wesen, das für sich den Inhalt der Erkenntnis schafft, sondern er gibt mit seiner Seele den Schauplatz her, auf dem die Welt ihr Dasein und Werden zum Teil erst erlebt. Gäbe es nicht Erkenntnis, die Welt bliebe unvollendet. In solchem erkennenden Einleben in die Wirklichkeit der Welt fand ich immer mehr die Möglichkeit, dem Wesen der menschlichen Erkenntnis einen Schutz zu schaffen gegen die Ansicht, als ob der Mensch in dieser Erkenntnis ein Abbild oder dergleichen der Welt schaffe. Zum Mitschöpfer an der Welt selbst wurde er für meine Idee des Erkennens, nicht zum Nachschaffer von etwas, das auch aus der Welt wegbleiben könnte, ohne daß diese unvollendet wäre."

Durch die spezifische Akzentuierung des konstruktivistischen Aspektes von Steiners Wirklichkeitsauffassung, der ausdrücklichen Betonung des Nicht-Vorgegebenseins von Wirklichkeit gegenüber dem Erkennen und der Abweisung jeglichen abbildlichen Momentes auf der einen Seite bei gleichzeitiger Hervorhebung des re-kompositorischen Charakters des Erkennens auf der anderen, bekommt diese Wirklichkeitsauffassung einen eigentümlich schwebenden, unklaren und dunklen Status in der kommentierenden Sekundärliteratur zu Steiner. Man fragt sich unwillkürlich, was denn da eigentlich durch unsere Organisation zunächst de-komponiert und hernach re-komponiert wird und in welchem Verhältnis Ausgangs- und Endprodukt dieses Vorganges zueinander stehen, wenn nicht in dem der Repräsentanz, also der Abbildung.

"Für die Erkenntnistheorie Steiners ist die im Hinblick auf ihren Zusammenhang dekomponierte Wirklichkeit der Ausgangspunkt einer bewußten Wirklichkeitserkenntnis. Die Wirklichkeit wird im gelingenden Erkenntnisexperiment durch die Hinzufügung ihrer begrifflichen Äquivalente zur ursprünglichen Einheit rekomponiert. Die im Erkennen entstehende Form der Wirklichkeit ist somit eine Metamorphose der vorbewußten Wirklichkeit oder die Wirklichkeit in der Form der individuellen Bewußtheit." schreibt Marcelo da Veiga Greuel.53 Dem ist zuzustimmen. Wirklichkeit ist vorbewußt vorgegeben und metamorphosiert sich zur Wirklichkeit in der Form der individuellen Bewußtheit. Doch gleich darauf scheint diese Vorgegebenheitsthese wieder zurückgenommen und durch eine solipsistische Perspektive ersetzt zu werden wenn es heißt: "Die Wirklichkeit ist also für Steiner nicht eine außerhalb des Bewußtseins vorauszusetzende Gegebenheit. Daher kann sie auch im Erkennen nicht abgebildet werden, wie dies der naive Realismus annimmt, sondern geht aus diesem erst hervor."54

Wenn wir uns das letzte Zitat ansehen, dann müssen wir sagen: Der Autor kommt hier zu einer unzureichenden Teilkonklusion. Richtig ist: "Die Wirklichkeit ist ... für Steiner nicht eine außerhalb des Bewußtseins vorauszusetzende Gegebenheit." Unbefriedigend dagegen ist ein Teil der Folgerung, die er Autor daraus ableitet: "Daher kann sie auch im Erkennen nicht abgebildet werden, wie dies der naive Realismus annimmt, sondern geht aus diesem erst hervor." Gewiß, sie kann nicht auf naiv-realistische Weise abgebildet werden, aber auf andere Weise - nämlich im Sinne des Steinerschen Erkennens. Und zwar deswegen, weil sie eben nicht eine "außerhalb des Bewußtseins vorauszusetzende Gegebenheit" ist, sondern diesseits des Bewußtseins liegt. Diese Möglichkeit wird vom Autor nicht bedacht. Ergo: Es spricht aus Steiners Sicht eigentlich nichts gegen die Möglichkeit einer Abbildung von Wirklichkeit im Erkennen, sondern alles dafür. Vom Verbot einer Abbildung von Wirklichkeit sind zumindest zwei Weltanschauungsrichtungen betroffen: der Dualismus, welcher eine grundsätzliche Schranke zwischen seinen Welten postuliert und der Solipsismus, der auf nichts Vorgegebenes zurückgreift. Die eine könnte nichts abbilden und die andere hätte nichts abzubilden. Da sich Steiners Weltanschauung weder als Dualismus noch als Solipsismus versteht, gilt ein solches Verdikt für ihn logischerweise nicht. Wie Steiner ja, wie schon weiter oben in Kapitel 2 zur Anmerkung14) ausgeführt, explizit selbst davon spricht, daß man sich von der Wirklichkeit ein Bild macht: "Erkennen heißt: zu der halben Wirklichkeit der Sinnenerfahrung die Wahrnehmung des Denkens hinzufügen, auf daß ihr Bild vollständig werde." Es läßt sich stattdessen behaupten: nur wenn dem erkennenden Bewußtsein eine vorhandene Wirklichkeit auch erreichbar ist, ist sie im Bewußtsein auch grundsätzlich abbildbar - die Frage ist nur: wie?

Etwas radikal formuliert: Wenn überhaupt eine Weltanschauung Anspruch darauf erheben kann, die Wirklichkeit abzubilden, dann ist es die Steinersche. Denn eine Wirklichkeit, von der behauptet werden darf, sie sei im Bewußtsein rekomponiert, setzt ein Original voraus, das rekomponierbar ist. Das mindeste, was man also von einer derart rekomponierten Wirklichkeit behaupten darf, ist, daß sie ein Bild jener einheitlichen Wirklichkeit ist, die durch unsere Organisation auseinandergerissen wurde. Aber sie ist eben nicht nur Bild - und darin vor allem liegt Steiners Unbehagen gegenüber einer Abbildungstheorie der Erkenntnis. Nicht weil er theoretisch eine solche Abbildungsmöglichkeit ausschließt, sondern weil ihm die Beschränkung auf die bloße Abbildung viel zu eng und einseitig ist - und damit auch widersinnig. Er lehnt sie ab, weil sie den erkennenden Menschen wie etwas Überflüssiges der Wirklichkeit gegenüberstellt, das man ebensogut hätte weglassen können. Und weil sie den Eindruck vermittelt, daß seine Erkenntnistätigkeit für die Welt nicht die geringste Bedeutung habe. Er weist sie zurück, weil sie achtlos an der Tatsache vorübergeht, daß das menschliche Erkennen selbst ein Weltprozeß ist, in dem sich die Welt selbst anschaut und mit sich auseinandersetzt.

Daß die im Erkennen rekomponierte Wirklichkeit eine Metamorphose der vorbewußten Wirklichkeit ist, schließt nicht generell aus, daß es sich dabei um eine Art Bild handelt. Warum sollte sich die Wirklichkeit nicht zum Bild metamorphosieren können, das beides zugleich ist: Bild und Wirklichkeit. Dieses Bild-Erzeugen müssen wir uns ja nicht ausschließlich auf naiv-realistische Weise vorstellen oder sonstwie kausal und affektionstheoretisch. Nur wenn wir annehmen, die Wirklichkeit sei generell außerhalb des Bewußtseins gelegen, bzw. von diesem grundsätzlich nicht erreichbar, dann wäre eben dies der allerbeste Beleg für die Unmöglichkeit ihrer Abbildung - das haben wir weiter oben schon erläutert. Abbildbar kann prinzipiell nur dasjenige sein, was dem Bewußtsein auch geöffnet ist. Vom Abbildungsverdikt ist daher der Dualismus betroffen, weil er eine unüberwindliche Grenze zwischen seinen Welten annimmt. Und ebenso betroffen ist ein Solipsismus, der tatsächlich seine Wirklichkeit erst schafft, denn er hätte ja nichts, worauf sich sein Abbildungsbemühen beziehen könnte. Wir haben oben schon zitatweise gesehen, daß die Wirklichkeit von Steiner durchaus vorausgesetzt wird. Weder die Wahrnehmungen noch die Begriffe als sogenannte „halbe Wirklichkeiten“ sind ein willkürliches oder subjektives Erzeugnis des Menschen. Und da die Wirklichkeit generell von ihm als dem Bewußtsein zugänglich gedacht wird, bringt sie auch gute Bedingungen für ihre mögliche Abbildung mit sich. Wir haben oben bemerkt, daß die Wirklichkeit von Steiner als ursprüngliche Totalität gedacht wird, in der alles eine Einheit bildet. Nur für den Menschen zerlegt sich seiner Auffassung nach diese Totalität infolge seiner eigentümlichen Organisation in sinnlich-wahrnehmliche und begriffliche Komponenten, die er im Erkennen wieder zusammenfügt. Das alles wird vorausgesetzt - aber es wird nicht erkenntnistheoretisch vorausgesetzt. Das Verbot, etwas vorauszusetzen, gilt einzig für den Bereich der Erkenntnistheorie, oder genauer: für den Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie, und ist nicht etwa auszudehnen auf den Bereich der nichtepistemischen Einzelerkenntnis. Sollte ein Wissenschaftler in seiner Forschung nichts voraussetzen, er würde nicht weit kommen.

Bei Herbert Witzenmann finden wir die Abbildungs- bzw. Vorgegebenheitsfrage folgendermaßen formuliert: "Dieses Durchdringen des Wahrnehmlichen mit Begriffen (bei gleichzeitiger Durchdringung der Begriffe durch das Wahrnehmliche) ist ... ein Wiederaufbau der abgebauten Wirklichkeit. Der Mensch steht also nicht einer ohne sein Zutun fertig vorhandenen Wirklichkeit gegenüber. Von einer solchen könnte er sich nur ein mehr oder weniger ähnliches Abbild machen oder auch nicht machen. Die seelische Beobachtung des Erkenntnisvorgangs zeigt indessen, daß der Mensch in diesem Vorgang die Wirklichkeit für sein Bewußtsein nicht reproduziert, sondern produziert. Das Erkennen ist also ein Verwirklichen (Realisieren)."55 Und an anderer Stelle: "Der Grundgedanke der Erkenntniswissenschaft Rudolf Steiners ist, daß eine unserem Erkennen vorgegebene Wirklichkeit eine unzulässige Voraussetzung ist." 56 Und wiederum an anderer Stelle: "Die Idee der im Erkennen erst entstehenden, diesem also nicht vorgegebenen Wirklichkeit ist von grundlegender Bedeutung für das Werk Rudolf Steiners."57

Es bleibt auch bei Herbert Witzenmann an diesen Stellen unklar und widersprüchlich, in welchem Verhältnis die wiederaufgebaute Wirklichkeit zu ihrem ursprünglichen Ausgangszustand steht. Warum sollte der Wiederaufbau keine Re-Konstruktion sein? Re-Konstruktion ist doch auch Produktion und gehört entsprechend dem Gesamtwirklichkeitsgeschehen an. Und was sollten wir wieder aufbauen, wenn es nicht schon einmal aufgebaut, also vorgegeben gewesen wäre? Was abgebaut wird - die Wirklichkeit - muß vorher aufgebaut gewesen sein. Wenn Herbert Witzenmann bemerkt, die Wirklichkeit entstehe erst im Erkennen und sei diesem nicht vorgegeben, so läßt sich das eigentlich nur im Sinne einer solipsistischen Wirklichkeitserzeugung deuten - vielleicht ist es von ihm nicht so gemeint, doch zumindest legt sie eine solche Auffassung sehr nahe. Aber was nicht fertig vorgegeben ist, kann gleichwohl vorgegeben sein – nämlich in ihren objektiv vorhandenen wahrnehmlichen und begrifflichen Teilbestandteilen. Es ist für das erkennende Bewußtsein eben nur noch nicht fertig bzw. vollendet. Zuzustimmen ist auch Herbert Witzenmann darin, daß der Erkenntnistheorie an ihrem Ausgangspunkt die Wirklichkeit nicht vorgegeben sein darf, denn was Wirklichkeit bedeutet, das hat sie ja erst noch zu klären. Doch dem nicht-epistemischen Erkennen ist die Wirklichkeit durchaus vorgegeben - nur eben in einer fragmentierten Form, die erst noch zu vervollständigen ist. Der Laborwissenschaftler hat nicht im Grundsatz zu klären, was Wirklichkeit ist, sondern wie er zu einer ihm gegebenen Wahrnehmung den adäquaten Begriff findet - häufig auch umgekehrt. Das heißt: er muß die gegebenen Wahrnehmungen und Begriffe nicht nur aktiv zusammenfügen sondern auch richtig zusammenbringen, damit seine Erkenntnis gültig, wirklichkeitsgemäß ist.

Der unverkennbar solipsistische Einschlag bei Witzenmann kommt nicht von ungefähr, sondern hat einen klar erkennbaren Grund: Witzenmann wirft hier nämlich zwei Dinge durcheinander, die unbedingt getrennt werden müssen. Er vermengt die Frage der Vorgegebenheit von Wirklichkeit und die spezielle erkenntnistheoretische Frage der Voraussetzungslosigkeit.

Während die erste Frage auf die unabhängige Existenz der Wirklichkeit vom erkennenden Bewußtsein zielt (wobei unabhängige Existenz nicht etwa heißt: für das Erkennen unerreichbar, sondern: auch dann vorhanden, wenn wir unser Erkenntnisvermögen nicht darauf richten), befaßt sich die zweite mit den Möglichkeiten und Grenzen einer vorurteilsfreien Wirklichkeitsenthüllung. Und dazu ist tunlichst unbefangen und frei von Vorwegannahmen jedweder Art zunächst zu klären, was Erkenntnis überhaupt ist, denn auch das gehört für Steiner zur Wirklichkeitsenthüllung. Die Frage der Vorgegebenheit von Wirklichkeit ist im engeren erkenntnistheoretischen Sinn vom Problem der Voraussetzungslosigkeit insofern betroffen, als ich nach Auffassung Steiners verbindliche Aussagen über die Wirklichkeit - also auch über ihre Vorgegebenheit oder Nicht-Vorgegebenheit - erst machen kann, wenn ich weiß was Erkenntnis seinem Wesen nach ist. Deswegen wendet er sich unermüdlich gegen den von Kant geprägten philosophischen Zeitgeist, der immer schon im voraus behauptet, die eigentliche Wirklichkeit, das "An Sich der Dinge", liege jenseits der Erkenntnis, ohne den Erkenntnisbegriff hinreichend geklärt zu haben. Das Prinzip der Voraussetzungslosigkeit ist in der Erkenntnistheorie gleichbedeutend mit dem Prinzip eines radikalen methodischen Zweifels an Wirklichkeit, beziehungsweise einer aufs äußerste getriebenen Enthaltung von Urteilen über die Wirklichkeit. Und es wird eben methodisch auch an jeglicher Vorgegebenheit der Wirklichkeit gezweifelt, beziehungsweise es werden darüber keine Aussagen gemacht. Alle (möglicherweise falschen) Prädikationen über Wirklichkeit haben in dieser Umgebung nichts zu suchen, weil sie andernfalls einen irreführenden Einfluß auf die Klärung des Erkenntnisbegriffes nehmen. Diese radikale und umfassende Urteilsenthaltung betreffend Wirklichkeit überhaupt hat aber auch nur innerhalb dieser Umgebung einen Sinn. Solange eben, bis der Erkenntnisbegriff geklärt ist.

Sobald der Erkenntnisbegriff klar ist lassen sich berechtigterweise Aussagen über die Wirklichkeit machen, also auch über ihre Vorgegebenheit oder Nicht-Vorgegebenheit. Was bei Steiner übrigens auch deutlich zu erkennen ist, wie wir im Verlauf dieser Arbeit wiederholt demonstriert haben. Eine voraussetzungslose Untersuchung des Erkennens zeigt nach Steiner, daß im Erkennen eine unoffenbar existierende Wirklichkeit auf dem Wege einer produktiven Synthese offenbar wird. Nach allem was wir hier zu seiner Wirklichkeitsauffassung vorgetragen haben, gibt es gar keinen Zweifel, daß er von einer Existenz der Wirklichkeit in Unabhängigkeit vom erkennenden Bewußtsein überzeugt war. Die Wirklichkeit und ihre Gesetze bestehen auch wenn es gar kein erkennendes Bewußtsein gäbe, das sie zur Offenbarung brächte. Textstellen mit diesem Inhalt haben wir genugsam vorgebracht. Für Steiner ist Wirklichkeit demnach vorgegeben - allerdings in einer Form eben, die erst noch durch die Erkenntnis freizulegen ist. Doch vorgegeben ist sie allemal.

Das Eigentümliche und Verwirrende an Witzenmanns Auffassung ist, daß er einerseits implizit die Vorgegebenheit der Wirklichkeit unterstellt - um sie an anderer Stelle wieder zu kassieren. So betont er einmal den Wiederaufbau einer abgebauten Wirklichkeit - was vollkommen im Einklang mit Steiners Auffassung steht. Dann müßte Witzenmann aber konsequenterweise auch die Vorgegebenheit der Wirklichkeit zugestehen. Denn abbbauen und wieder aufbauen kann man nur, was vorgegeben ist. Doch diesen Schritt macht er nicht, sondern beharrt strikt darauf, daß die Wirklichkeit auf gar keinen Fall vorausgesetzt werden dürfe. Und damit bringt er den ersten Gedankengang wieder zum Einsturz. Das Unzulängliche seines Vorgehens liegt darin, daß er den Anwendungsbereich des Prinzips der radikalen Voraussetzungslosigkeit, das innerhalb der engeren erkenntnistheoretischen Umgebung, aber auch nur dort, voll und ganz berechtigt ist, weit über dieses Gebiet hinaus ausdehnt und auf Wirklichkeitserkenntnis schlechthin erweitert. Diese darf generell nicht vorausgesetzt werden -, und das ist absurd und steht ganz und gar nicht im Einklang mit Steiners Auffassung. Faktisch bedeuten Witzenmanns Überlegungen, daß bei jeder wirklichkeitsbezogenen Einzelerkenntnis der gesamte Aufmarsch erkenntnistheoretischer Philosopheme aufs neue durchzuexerzieren ist.

Mir war lange Zeit nicht deutlich, woher Witzenmann diese merkwürdig schillernde und augenfällig widersprüchliche Wirklichkeitsauffassung hat. Denn daß Rudolf Steiner die Wirklichkeit nicht als vorgegeben betrachtet, kann ernsthaft kein Mensch behaupten, der sich mit Steiners Äußerungen zu diesem Sujet umfassend auseinandersetzt. Inzwischen glaube ich diese Frage wenigstens zu einem guten Teil beantworten zu können: Der in Kapitel 5 besprochene Umgang Witzenmanns mit der Anmerkung Steiners aus den Grundlinien ... scheint maßgeblich mit dafür verantwortlich zu sein, denn mit dieser Anmerkung versucht er seine Position in einem nicht unbeträchtlichen Ausmaß zu untermauern. Und diese Anmerkung ist auch die einzige Stelle im erkenntnistheoretischen Werk Steiners, die sich bei isolierter Betrachtung im Sinne Witzenmanns verstehen - genauer gesagt: mißverstehen läßt. Sie ist auch die einzige, bei der das Schaffen von Wirklichkeit mit der Frage ihrer Vorgegebenheit und implizit mit dem Thema Voraussetzungslosigkeit scheinbar so eng verknüpft ist. Vor allem in der sinngemäßen, aber falschen Zitierweise Witzenmanns »Die Wirklichkeit kann durch das Erkennen nicht gefunden werden, weil sie als Wirklichkeit im Erkennen erst geschaffen wird.«

Insbesondere Witzenmanns These: "Die Idee der im Erkennen erst entstehenden, diesem also nicht vorgegebenen Wirklichkeit ist von grundlegender Bedeutung für das Werk Rudolf Steiners." aus seiner Schrift Die Voraussetzungslosigkeit der Anthroposophie, S. 61 (Siehe Anmerkungen 57; 44), steht im Zusammenhang mit der folgenschweren Fehldeutung der Anmerkung in Steiners Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, mit der wir uns in Kapitel 5 ausführlicher befaßt haben. Bei Witzenmann führt diese Verkennung dazu, den Begriff der Voraussetzungslosigkeit auf eine unannehmbare Weise in den Bereich der Steinerschen Wirklichkeitsauffassung hineinzutragen. Und dadurch entsteht (nicht immer, aber häufig) diese unverkennbar solipsistisch anmutende Schräglage seiner Wirklichkeitsauffassung, die ja auch diejenige Steiners sein soll. Wenn Witzenmann beispielsweise auf Seite 61 seiner Schrift zusammenfassend weiter schreibt: "Die Wirklichkeit wurde also damals und wird auch noch heute vorausgesetzt", so kommentiert und paraphrasiert er damit nicht die Anmerkung Steiners aus den Grundlinien ..., auf die er sich beziehen und stützen will, sondern ein sprachlich verstümmeltes, grandioses Trugbild dieser Anmerkung. Denn Steiner thematisiert und kritisiert dort überhaupt nicht das Voraussetzen beziehungsweise die Vorgegebenheit von Wirklichkeit im allgemeinen, wie es Witzenmann irrtümlich herausliest, sondern lediglich das ganz spezielle Voraussetzen einer Wirklichkeit die "außer dem Erkennen" liegen soll - einer solchen, die jenseits der Erkenntnis liegt. Und daß Steiner die Wirklichkeit natürlich als gegeben voraussetzt, zeigen seine vorangehenden Ausführungen in derselben Anmerkung auf S. 137: "Im Erkennen schafft der Mensch nicht für sich allein etwas, sondern er schafft mit der Welt zusammen an der Offenbarung des wirklichen Seins." Die Welt, mit der er da zusammen schafft, muß er natürlich als gegeben voraussetzen, sonst könnte er ja nicht mit ihr zusammen etwas schaffen. Das heißt: Mit dem Thema Voraussetzungslosigkeit in dem von Witzenmann unterstellten Sinn hat diese Anmerkung rein gar nichts zu zu tun. Nur ist Witzenmann dieser Sachverhalt offenbar nicht klar geworden. Infolgedessen kommt er zu der irrtümlichen Auffassung, die Wirklichkeit dürfe grundsätzlich nicht vorausgesetzt werden, beziehungsweise sie sei prinzipiell nicht vorgegeben.

Es ist klar, daß auch Witzenmann sich gegen ein Abbildungsverständnis des Erkennens wenden muß. Aber die Gründe sind bei ihm ganz andere als bei Steiner. Bei Witzenmann kann die Wirklichkeit nicht abgebildet werden, weil sie nicht vorausgesetzt werden darf und dementsprechend auch nicht vorgegeben ist. Und was nicht vorgegeben ist, von dem läßt sich verständlicherweise auch kein Abbild machen. Allerdings ist das wie gesagt nicht die Auffassung Steiners. Steiners Argumente gegen ein Abbildungsverständnis des Erkennens liegen nicht etwa auf derselben Linie wie diejenigen Witzenmanns, sondern sie liegen am genau entgegengesetzten Ende der Argumentationsskala. Steiner lehnt dies ab, nicht weil die Wirklichkeit nicht vorausgesetzt werden darf, wie Witzenmann meint, sondern weil sie vorausgesetzt werden muß. Denn nur, wenn man die Tatsache einer vorgegebenen Wirklichkeit anerkennt, läßt sich überhaupt jene Sichtweise des Erkennens vertreten, die es in organischer Einheit mit einer bestehenden Wirklichkeit sieht. Nur dann läßt sich das Erkennen als eine Vollendung des Weltprozesses begreifen. Setzt man die Wirklichkeit dagegen nicht voraus, so muß jeder Ansatz zunichte werden, der es als eine solche Vollendung des Weltprozesses versteht.

Ich glaube übrigens nicht, daß einer der erwähnten Autoren Steiner ganz bewußt eine solipsistische Auffassung unterstellen möchte. Dafür findet sich weder implizit noch explizit ein eindeutiger Hinweis. "Die Wirklichkeit entsteht zwar innerhalb des Erkenntnisprozesses für den Beobachter, ist aber dennoch nicht seine Erfindung." schreibt Wilfried Gabriel.58 Das ist eine Auffassung, der man ohne Einschränkungen zustimmen kann. Auf der anderen Seite aber betont er: "Alle Abbildungstheorien des Erkennens sind ... nach Steiner zu verwerfen. Die Welt des Beobachters ist kein mehr oder weniger deutliches bzw. ähnliches Abbild einer vorgegebenen Wirklichkeit, sondern sein eigenes Erzeugnis." (Siehe Anmerkung 3). Daß die beiden Aussagen Gabriels mit einander nicht verträglich sind, dürfte einleuchten. Denn wenn die Erkenntnisprodukte des Beobachters nicht in irgend einem Sinne einer vorgegebenen Wirklichkeit entsprechen, dann sind sie nichts anderes als Erfindungen oder solipsistische Schöpfungen. Bei Gabriel herrscht eine analoge Widersprüchlichkeit, wie wir sie weiter oben schon bei Witzenmann bemerkt haben. Also hat man irgendwie den Eindruck, daß es von der Sache her in der Sekundärliteratur vielfach auf einen Solipsismus hinausläuft oder zumindest in eine bedrohliche Nähe zu ihm gerät - wenn auch unbeabsichtigt. 59 Man könnte die Positonen dieser Autoren daher einen ungewollten und mehr oder weniger inkonsequenten Solipsismus nennen. Am entschiedensten in diese Richtung bewegt sich Herbert Witzenmann. Ihn bewahrt eigentlich nur noch der Rekompositionsaspekt vor dem vollen Abrutsch in den Solipsismus. Doch was er da eigentlich re-komponieren will, dafür kann er streng genommen keinen Inhalt angeben, weil er sich durch die unglückliche und sachwidrige Fesselung seines Wirklichkeitsbegriffs an den der Voraussetzungslosigkeit jeden Zugang dorthin theoretisch versperrt hat. Eine Wirklichkeit, die dem Erkennen nicht vorgegeben ist, muß entweder inhaltsleer bleiben, oder sie wird zur reinen Schöpfung des erkennenden Bewußtseins.

(Zusatz 26.01.04: Eine sehr ausgedehnte und differenzierte Erläuterung seines Verständnisses vom Wirklichkeitsschaffen im Erkennen gibt Steiner vortragsweise am 30. August 1921 in Stuttgart. [GA-78, Dornach 1968, S. 32 ff, Vortrag vom 30. August 1921] Sie ist einerseits sehr erhellend, weil der Facettenreichtum dieses Wirklichkeitsschaffens in seltener Übersichtlichkeit zur Darstellung kommt. Aber sie enthält implizit auch noch manche gedanklichen Abgründe in Richtung Solipsismus, die uns hier beschäftigen. Wegen ihrer Länge habe ich die entsprechende Passage in der Anmerkung 59a untergebracht.)

Ich muß allerdings noch einmal betonen, daß sich die hier geäußerte Kritik an Witzenmann nur auf einen bestimmten, beschränkten Aspekt seines Umgangs mit Steiners Wirklichkeitsbegriff und den der Voraussetzungslosigkeit bezieht. Es ist keine Generalkritik an seinem Buch Die Voraussetzungslosigkeit der Anthroposophie und kann auch kein Ersatz dafür sein. Dazu müßte man - wie ich bereits im Kommentar zu dieser Arbeit gesagt habe - dieses Buch umfassender in den Details untersuchen. Eine solche Prüfung halte ich auch für dringend erforderlich, weil Witzenmann mit seinen Darstellungen erheblichen Einfluß auf das Denken von Anhängern der Anthroposophie hat. Und zwar nicht nur jener, denen die Philosophie eher fremd ist.

Herr Christoph Mahler hat mich in diesem Zusammenhang dankenswerterweise in einigen sehr fundierten Zuschriften darauf hingewiesen, daß meine Kritik an Witzenmann doch etwas einseitig sei und Witzenmanns Wirklichkeitsauffassung vor allem in Abschnitten der späteren Schrift Goethes universalästhetischer Impuls, Dornach 1987, durchaus keinen solipsitischen Einschlag erkennen lasse. Ich kann dem nicht generell widersprechen. Es ist tatsächlich so, daß Witzenmann Steiners Wirklichkeitsbegriff an anderen Stellen auch in einer Form expliziert, die nicht so kritikabel ist. Darauf habe ich auch weiter oben schon hinzudeuten versucht. Aber an welche Position Witzenmanns soll sich sein Leser halten, da der Autor selbst nicht für eine entsprechende Vereinheitlichung gesorgt und seine unhaltbaren Ansichten aus dem Buch Die Voraussetzungslosigkeit der Anthroposophie, so weit erkennbar, nie öffentlich revidiert hat, und seine Schriften schon zu seinen Lebzeiten nebeneinander erschienen? Es gehört in meinen Augen auch zu den Aufgaben der Steinerforschung auf diesen Mangel und die ungeklärte Sachlage innerhalb der Steinerrezeption hinzuweisen.

Mir scheint, wie ich schon erwähnt habe, dieser solipsistische Einschlag vor allem an einem beharrlichen Insistieren auf der Nicht-Vorgegebenheit von Wirklichkeit und der damit einhergehenden uneingeschränkten Ausdehnung der erkenntnistheoretischen Eingangsperspektive auf Erkenntnis schlechthin zu liegen - dieser Eindruck drängt sich zumindest auf. Es besteht aber wie schon gesagt ein großer Unterschied zwischen den Wendungen: "Es ist etwas vorgegeben" und "Es ist etwas fertig vorgegeben". Während im ersten Fall Vorgegebenheit überhaupt thematisiert wird, liegt im zweiten Falle der Akzent auf der Vollständigkeit eines Vorgegebenen. Wenn die Wirklichkeit somit nach Steiner dem Erkennen auch nicht fertig vorgegeben ist, so ist sie dessen ungeachtet dennoch vorgegeben, sobald der erkenntnistheoretische Standpunkt klar ist. Sie ist vorgegeben in der Form von Wahrnehmungen und Begriffen, den beiden von Steiner so genannten "Wirklichkeitshälften". Am Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie freilich kann sie weder in der einen noch in der anderen Form als vorgegeben betrachtet werden.

Eine große Differenz besteht auch zwischen einer epistemologischen und einer einzelwissenschaftlichen Betrachtungsebene von Vorgegebenheit und Wirklichkeit. Die Erkenntnistheorie darf in den Augen Steiners zumindest an ihrem Ausgangspunkt nichts voraussetzen - sie darf also keine ontologischen Aussagen über Sein und Wirklichkeit machen, weil sie aus untersuchungssystematischen Gründen über keinen Begriff von Wirklichkeit verfügt, den sie voraussetzen könnte oder dürfte. Es fehlen ihr die Erkenntnisgrundlagen und entsprechend auch die Rechtsgründe für solches Tun. Solange sie nicht weiß was Erkenntnis ist, weiß sie auch nicht, was Wirklichkeit ist. Der Wirklichkeitsbegriff steht infolgedessen in logischer Abhängigkeit vom Erkenntnisbegriff - diese logische Abhängigkeit des Wirklichkeitsbegriffes vom Erkenntnisbegriff darf keinesfalls mit einer ontologischen Abhängigkeit der faktischen Wirklichkeit vom Erkennen gleichgesetzt werden. Wenn wir die notwendige logisch-erkenntnistheoretische Priorität des Erkenntnisbegriffes gegenüber dem Wirklichkeitsbegriff mit einer faktischen Priorität des Erkennens gegenüber der Wirklichkeit verwechseln, dann stehen wir mitten im Solipsismus.

An ihrem Ausgangspunkt, bzw. vor der Klärung des Erkenntnisbegriffes, gibt es daher für die Erkenntnistheorie auch nichts Vorgegebenes im Sinne einer ontologisch prädizierten Vorgegebenheit. Sie stellt dann im Zuge ihrer Untersuchungen fest, was Erkenntnis seinem Wesen nach ist und was Wirklichkeit und daß die Wirklichkeit sich dem Menschen in einer unfertigen Weise in grundlegenden Teilaspekten zeigt - in der Form von Wahrnehmungen und Begriffen, die zusammenzufügen sind, um eine dem Erkennen unfertig vorliegende Wirklichkeit zu vervollständigen. Damit ist aber die Grenze des epistemologischen Kernbezirks erreicht und es besteht nachfolgend kein Anlaß mehr, nichts mehr ontologisch vorauszusetzen, weil wir nunmehr über entsprechende Rechtsgründe für solche Behauptungen verfügen, gesetzt den Fall, diese Gründe erscheinen uns einleuchtend. Es gibt jetzt keine Veranlassung mehr, die Wirklichkeit nicht vorauszusetzen - eben dies haben wir bei Steiner gesehen. Jetzt geht es im Prinzip "nur" noch darum, in der Einzelerkenntnis die vorgegebenen Teilaspekte von Wirklichkeit zu synthesisieren und damit Wirklichkeit für das menschliche Bewußtsein in ihrem vollen Umfang und in sämtlichen Erfahrungsbereichen zu komplettieren, das ist: die ursprüngliche Totalität der Wirklichkeit auf allen Ebenen des Erkennens wiederherzustellen. Das heißt: die Wirklichkeit, soweit sie nicht erkannt ist, ist für den nach-epistemischen Gesichtswinkel nur noch unfertig beziehungsweise unoffenbar - aber sie ist in ihren unfertigen Bestandteilen objektiv vorgegeben und diese muß ich jetzt notwendig ebenso voraussetzen wie die ursprüngliche Einheit des Wirklichen.

Ende Kapitel 6


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