Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zum Wirklichkeitsbegriff Rudolf Steiners

(Stand 27.07.05)

Kapitel 2

Vorgegebene und geschaffene Wirklichkeit

Die Verständnisschwierigkeiten hinsichtlich des Erzeugungsaspektes im Steinerschen Wirklichkeitsbegriff liegen - wie Firgaus Ausführungen deutlich machen - vor allem in der Unterscheidung zwischen einer ontologischen Sicht der Wirklichkeit und einer epistemologischen Sicht. Der von uns unabhängige Status der Wirklichkeit scheint durch ein erzeugendes Erkennen gefährdet und zwangsläufig in eine solipsistische Konstruktion zu münden. Oder anders gesehen: wir können dem Solipsismus anscheinend nur entgehen, wenn wir den unabhängigen Bestand einer vorgegebenen Wirklichkeit voraussetzen.

Wenden wir uns noch einmal den Ausführungen Werner Firgaus zu, seiner Forderung, eine kategoriale Unterscheidung zu treffen zwischen einer Wirklichkeit als Ergebnis meiner Erkenntnisleistung und jener ontisch vorgegebenen Wirklichkeit, auf welche sich meine Erkenntnisbemühungen beziehen: Ergänzend zu der von ihm zitierten Passage der Anmerkungen zu S. 16 der "Grundlinien ..." lassen sich der wissenschaftssystematische Teil der "Grundlinien ..." und die Einleitungen in Goethes Naturwissenschaftliche Schriften zur Bestätigung seiner Auffassung einer vorgegebenen und von uns unabhängigen Wirklichkeit beiziehen. Und was diese Abschnitte wiedergeben ist unzweideutig die Ansicht, daß die Wirklichkeit ganz unabhängig von jeglicher Erkenntnisleistung vorhanden sei, woraus dann zu folgern wäre, daß sich unser Erkenntnisvermögen einer schon vorhandenen aber noch unoffenbaren Wirklichkeit bemächtigt und diese in einem produktiven Akt der Nachschöpfung zur Abbildung bringt.

Zu Beginn des 17. Kapitels der "Grundlinien ..." lesen wir über die Aufgabe des Menschengeistes in den Naturwissenschaften folgendes: "Es fiel ihm [dem Menschengeist] sozusagen die Aufgabe zu, den Weltprozeß selbst zum Abschlusse zu bringen. Was ohne den Geist da war, war nur die Hälfte der Wirklichkeit, war unvollendet, in jedem Punkte Stückwerk. Der Geist hat da die innersten Triebfedern der Wirklichkeit, die zwar auch ohne seine subjektive Einmischung Geltung hätten, zum Erscheinungsdasein zu rufen. Wäre der Mensch ein bloßes Sinnenwesen, ohne geistige Auffassung, so wäre die unorganische Natur wohl nicht minder von Naturgesetzen abhängig, aber sie träten nie als solche ins Dasein ein. Es gäbe zwar Wesen, welche das Bewirkte (die Sinnenwelt), nicht aber das Wirkende (die innere Gesetzlichkeit) wahrnähmen." 9 Dieselbe Aussage finden wir im 13. Kapitel dieser Schrift: "Wenn die Welt bloß von Sinnenwesen bewohnt wäre, so bliebe ihr Wesen (ihr ideeller Inhalt) stets im Verborgenen; die Gesetze würden zwar die Weltprozesse beherrschen, aber sie kämen nicht zur Erscheinung. Soll das letztere sein, so muß zwischen Erscheinungsform und Gesetz ein Wesen treten, dem sowohl Organe gegeben sind, durch die es jene sinnen-fällige, von den Gesetzen abhängige Wirklichkeitsform wahrnimmt, als auch das Vermögen, die Gesetzlichkeit selbst wahrzunehmen. Von der einen Seite muß an ein solches Wesen die Sinnenwelt, von der anderen das ideelle Wesen derselben herantreten, und es muß in eigener Tätigkeit diese beiden Wirklichkeitsfaktoren verbinden." 10

Es ist keine Frage, wie Steiner sich die Geltung des naturgesetzlichen Wirkens denkt: auch wenn wir diese Gesetzlichkeit nicht auf dem Erkenntniswege wahrnähmen, wäre sie gleichwohl wirksam. Es kann also nicht darum gehen, eine noch nicht vorhandene Naturgesetzlichkeit im Erkennen (mit) zu erzeugen - diese ist nach Steiner existent, ob der Mensch sie nun erkennt oder nicht. Es geht im Erkenntnisprozeß darum, die vorhandenen Prinzipien der Naturwirksamkeit zur Erscheinung zu bringen und sie nicht etwa ontologisch in einem primären Schöpfungsakt zu installieren.

Im Sinne gleichlautend eine Passage aus den "Einleitungen in Goethes naturwissenschaftliche Schriften": "Als das zuerst und unmittelbar Gegebene tritt uns die Sinnenwelt gegenüber; sie sieht uns wie ein ungeheures Rätsel an, weil wir das Treibende, Wirkende derselben in ihr selbst nimmermehr finden können. Da tritt die Vernunft hinzu und hält mit der idealen Welt der Sinnenwelt die prinzipielle Wesenheit gegenüber, die die Lösung des Rätsels bildet. So objektiv die Sinnenwelt, so objektiv sind diese Prinzipien. Daß sie für die Sinne nicht, sondern nur für die Vernunft zur Erscheinung kommen, ist für ihren Inhalt gleichgültig. Gäbe es keine denkenden Wesen, so kämen diese Prinzipien zwar niemals zur Erscheinung; sie wären deshalb aber nicht minder die Essenz der Erscheinungswelt." 11 und auf S. 139 derselben Schrift: "Im Erkennen erfahren wir, welches die ideellen Bedingungen der Sinneserfahrung sind; wir bringen die Ideenwelt, die in der Wirklichkeit schon liegt, zum Vorschein; wir schließen also den Weltprozeß in der Hinsicht ab, daß wir den Produzenten, der ewig die Produkte hervorgehen läßt, aber ohne unser Denken ewig in ihnen verborgen bliebe, zur Erscheinung rufen." Auch hier die Feststellung, daß die naturgesetzliche Wirksamkeit auch dann vorhanden wäre, wenn der Mensch sie nicht in seinem erkennenden Bewußtsein zur Offenbarung brächte. Steiner läßt nicht den geringsten Zweifel aufkommen, daß er vom unabhängigen Bestand einer uns vorgegebenen Wirklichkeit überzeugt ist.

Die Wirklichkeit ist uns von zwei Seiten gegeben und das ist eine Folge unserer spezifischen Verfassung, wie Rudolf Steiner in der "»Philosophie der Freiheit«" sagt: "Nicht an den Gegenständen liegt es, daß sie uns zunächst ohne die entsprechenden Begriffe gegeben werden, sondern an unserer geistigen Organisation. Unsere totale Wesenheit funktioniert in der Weise, daß ihr bei jedem Dinge der Wirklichkeit von zwei Seiten her die Elemente zufließen, die für die Sache in Betracht kommen: von seiten des Wahrnehmens und des Denkens. Es hat mit der Natur der Dinge nichts zu tun, wie ich organisiert bin, sie zu erfassen.."12 Die ontisch vorgegebene Wirklichkeit ist eine Einheit, die für uns zerlegt ist als Folge unserer leiblich-geistigen Doppelwesenheit. Und im Erkenntnisprozeß fügen wir die einzelnen Fragmente wiederum zusammen. Unmißverständlich geht aus dem bisherigen hervor, daß Wirklichkeit und Naturgesetze auch dann vorhanden sind bzw. gelten, wenn sie nicht im erkennenden Bewußtsein zur Erscheinung kommen. Es handelt sich im Erkenntnisvorgang, wie Werner Firgau ganz richtig sieht, auf der einen Seite um eine Art Nachschöpfung (Rekomposition bei Witzenmann) von bereits bestehender Wirklichkeit. Auf der anderen Seite entsteht allerdings durch diese Nachschöpfung ein neues Seinsgebiet, das ohne die Erkenntnistätigkeit nicht vorhanden wäre. Es ist dies der Zustand des "Angeschaut-Werdens" der weltwirksamen Prinzipien. Und in der Schaffung dieses neuen Seinsgebietes sieht Steiner die notwendige Vollendung des Weltprozesses.

Damit ist auch klar, was oben schon angedeutet wurde, daß nämlich Rudolf Steiner mit dem "Erschaffen der Wirklichkeit" nicht etwa eine solipsistische oder illusionistische Auffassung vertritt, dergestalt, daß wir in unserem Erkennen auch die Gesetze der Wirklichkeit oder diese selbst in einem ursprünglichen Schöpfungsakt erzeugten. Wie Steiner sich zu diesen Weltauffassungen äußert läßt sich am besten den einschlägigen Kapiteln seiner "Philosophie der Freiheit" bzw. seiner Schrift "Die Rätsel der Philosophie" entnehmen. 13 Und ebenso unmißverständlich scheint sich zu ergeben, daß diese Sicht der Dinge mit einem Abbildungsverständis des Erkennens durchaus kompatibel ist - wir machen uns in unserem Erkennen ein Bild einer vorgegebenen, von uns unabhängigen Wirklichkeit, wie Steiner selbst sagt: "Erkennen heißt: zu der halben Wirklichkeit der Sinnenerfahrung die Wahrnehmung des Denkens hinzufügen, auf daß ihr Bild vollständig werde."14 Denn wie anders sollten wir den Ausdruck der Nachschöpfung oder Rekomposition verstehen wenn nicht als Schaffen eines Wirklichkeitsbildes in unserem Bewußtsein. Die Rekomposition der Wirklichkeit ist ja kein tatsächliches Nachschaffen in extenso, wenn auch vielfach empirisch-experimentelle Vorgehensweisen partiell einen solchen Charakter erkennen lassen.

Wenn man ausschließlich die obigen Zitate betrachtet, dann könnte es fast so scheinen, als setze Steiner eine ontisch vorgegebene Wirklichkeit auch erkenntnistheoretisch voraus. Gerade dies aber ist nicht der Fall, darf es auch nicht sein und dieser Umstand macht seine Ansicht vielleicht schwer zugänglich. Hier unterscheidet er sich nicht nur von positivistischen Richtungen sondern auch von solchen, wie etwa der Hartmannschen, die sich idealistisch verstehen, aber sich erkenntnistheoretisch auf die Gesetze von Physik oder Physiologie berufen und diese als Eingangsprämissen in ihre epistemischen Grundpositionen einfließen lassen. 15 Für Steiner ist solches Vorgehen ein logisch unhaltbarer Rückfall in den naiven Realismus. 16 Das, was in ontologischem Sinne die Welt bevölkert, kann erkenntnistheoretisch nicht vorausgesetzt werden, sondern lediglich in einem zweiten Schritt nach Klärung der erkenntnistheoretischen Grundfrage: Was ist Erkenntnis? als Resultat erkennender Betrachtung angegeben werden, andernfalls kommt es zu einer Verwirrung der erkenntnistheoretischen Systematik mit allen entsprechenden Folgen wie der behaupteten Unerkennbarkeit der Dinge an sich und so fort. Alle einzelwissenschaftlichen Fragen sind der epistemologischen Grundfrage gegenüber nachrangig. Die Einhaltung dieser systematischen Ordnung ist für Steiner zwingend, denn es geht ja der Erkenntnistheorie darum, eine Basis für Einzelerkenntnisse überhaupt erst zu veranlagen. Die Heranziehung von Einzelerkenntnissen zur Schaffung eines Erkenntnisfundamentes wäre nicht nur im logischen Sinne zirkulär und damit eine epistemologische Luftbuchung, sondern müßte mit jeder Revision des Einzelwissens die von ihm abhängige erkenntnistheoretische Basis neuerlich infrage stellen.

Um diesen Punkt bemüht sich Steiner im Nachweis der Voraussetzungslosigkeit seiner Erkenntnistheorie: "Vor aller erkennenden Tätigkeit stellt sich im Weltbilde nichts als Substanz, nichts als Akzidenz, nichts als Ursache oder Wirkung dar; die Gegensätze von Materie und Geist, von Leib und Seele sind noch nicht geschaffen. ... Aber auch jedes andere Prädikat müssen wir von dem auf dieser Stufe festgehaltenen Weltbilde fernhalten. Es kann weder als Wirklichkeit noch als Schein, weder als subjektiv noch als objektiv, weder als zufällig noch als notwendig aufgefaßt werden; ob es «Ding an sich» oder bloße Vorstellung ist, darüber ist auf dieser Stufe nicht zu entscheiden. Denn daß die Erkenntnisse der Physik und Physiologie, die zur Subsummierung des Gegebenen unter eine der obigen Kategorien verleiten, nicht an die Spitze der Erkenntnistheorie gestellt werden dürfen, haben wir bereits gesehen." 17

Die ontologische Seins-Wirklichkeit ist nach Steiner, wie die Textstellen weiter oben zeigen, in der Tat unabhängig von uns vorgegeben, doch das ist im engeren Sinne keine epistemologische Aussage mehr. Anders gesprochen: die Wirklichkeit ist vorgegeben, aber nicht der Erkenntnistheorie an ihrem Ausgangspunkt. Das ontologisch Primäre ist erkenntnistheoretisch ein Sekundäres. "Dem Philosophen ... handelt es sich nicht um die Weltschöpfung, sondern um das Begreifen derselben. Er hat daher auch nicht die Ausgangspunkte für das Schaffen, sondern für das Begreifen der Welt zu suchen." 18 Die Entscheidung über den ontologischen Status des Vorgefundenen kann der erkenntnistheoretischen Klärung lediglich nachfolgen und ihr nicht vorausgeschickt oder zu Begründungszwecken einbezogen werden. Auf der ersten Stufe der Erkenntnistheorie ist es demnach völlig offen, ob die uns umgebende Wirklichkeit in irgend einem Sinne besteht oder lediglich Illusion ist, ob ihr ontologisches Sein den Ausgang von uns nimmt oder unabhängig besteht.

Darüber hinaus ist die Wirklichkeit dem faktischen Erkennen auch nicht fertig oder vollständig vorgegeben in der Art einer sinnlichen Wahrnehmungswirklichkeit, so daß dieses Fertige lediglich zu reproduzieren oder abzubilden wäre, gerade das zeigt ja der sprunghafte Wandel der wissenschaftlichen Auffassungen im Verlauf der Geschichte, wie man dem Kuhnschen Werk entnehmen kann.

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