Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Goethe, Kant und das intuitive Denken in Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit.

(Stand 09.09.18)

Vorbemerkung

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine Gedankenskizze, die in groben Linien eine Ideenentwicklung nachzeichnet, die von Kant über Goethe bis auf Rudolf Steiner reicht. Es ist bislang eine grobe und lückenhafte Skizze, die in vielen Einzelheiten zu vervollständigen ist, was eine sehr umfängliche und durchaus lohnende Arbeit wäre. Versucht wird in Umrissen sichtbar zu machen, daß der von Kant rein hypothetisch angenommene anschauende Verstand eines göttlichen Wesens bei Steiner eine radikale Umwidmung erfährt. Dahingehend, daß ein das übersinnliche Wesen der Erscheinungswelt anschauender Vernunftgebrauch, von Kant außerhalb aller menschlichen Möglichkeiten und damit nur bei einem göttlichen Wesen angesiedelt, dem Verständnis Steiners nach schon im ganz alltäglichen Erkenntnisleben des Menschen anzutreffen ist.

Wie bei den meisten hier veröffentlichten Studien wird es auch bei dieser im Laufe der Zeit vermutlich Erweiterungen und Vervollständigungen geben.

Jost Schieren über Goethes anschauende Urteilskraft

Zu den bemerkenswertesten Arbeiten der jüngeren Vergangenheit, die man sich im Bücherregal eines jeden anthroposophisch Interessierten wünscht, dem es an mehr gelegen ist, als nur oberflächlich philosophisch in die Weltanschauung Rudolf Steiners einzudringen, zählt die 1998 in Buchform erschienene Dissertation von Jost Schieren. 1) Dieses Buch beschäftigt sich nicht im eigentlichen Sinne mit der Philosophie Steiners, sondern mit dem Wissenschaftsverständnis Goethes. In der Akribie und Weitläufigkeit aber, mit der vom Autor vorgegangen wird, ist es auch ein ungemein wertvoller Beitrag zum Verständnis der Anthroposophie Steiners, die ja bekanntlich von Goethes Weltanschauung ihren Ausgang nimmt. So gesehen kann man die Schrift Schierens als vorzügliche Ergänzung und Vertiefung zu Steiners an Goethe orientiertem philosophischem Schrifttum auffassen, indem es zahlreichen Details, die dort von Steiner mehr in größere philosophische Zusammenhänge eingebettet und entsprechend verallgemeinert vergleichsweise nur angedeutet werden, eine nach vielen Seiten hin aufgearbeitete und abgesicherte detailreichere Beleuchtung gibt. Auch eine Beleuchtung im begrifflich klärenden Sinne, insofern, als es vielfache Anregung und Hilfestellung anbietet, manchen problematischen Begriff aus Steiners Philosophie durch eine philosophisch kontextuelle Betrachtung in ein deutlicheres Licht zu rücken. Im Zentrum von Schierens Bemühungen steht vor allem – der Titel sagt es schon – Goethes Begriff der anschauenden Urteilskraft. Und daran anknüpfend möchte ich einige Gedanken des Verfassers aufgreifend, diesmal von einer etwas anderen Seite her als in einigen hier schon veröffentlichten Beiträgen erneut die Betrachtung lenken auf Steiners Begriff des intuitiven Denkens in seiner Philosophie der Freiheit.

Für manchen wohl etwas überraschend ist ein ganz entscheidendes Resultat, das Schieren gegen Ende seiner Arbeit (S. 210) resümierend zusammenfaßt: „Anschauende Urteilskraft“ im Sinne Goethes, so das Fazit des Verfassers, „ist … nicht nur – wie es ein naives Verständnis zunächst nahelegt – ein Denken, das mit anschaulichen Elementen operiert und sich auf diese stützt. Anschauende Urteilskraft ist ein Denken, das im Sinne des blicklenkenden Begriffsgebrauchs selber anschaut, und zwar im Falle des gelungenen wissenschaftlichen Urteils objektiv seinen eigenen ideellen Gehalt als konstitutives Prinzip der Erscheinungswelt und subjektiv sich selbst in seiner eigenen ideellen Bewegung in der Erscheinungswelt.“ Was den ersten Teil dieser Konklusion angeht, so möchte ich vor allem mit Rücksicht auf den Kontext, innerhalb dessen Goethe zu dieser Begrifflichkeit der anschauenden Urteilskraft kommt – es ist im engeren Sinne Kants Kritik der Urteilskraft -, dem Autor vorbehaltlos beipflichten. Goethes anschauende Urteilskraft ist ein anschauendes Denken, das den von ihm selbst auf ganz objektiv-wissenschaftliche Weise geschöpften und objektiv auch vorhandenen ideellen Weltgehalt als das konstitutive Wesen der Erscheinungswelt anschaut. Gewissermaßen den wesenhaften Kern der Erscheinungswelt auf den sich sein erkennendes Interesse richtet. Es schaut diesen konstitutiven Kern an, nicht auf eine sinnliche, sondern, - dies folgt aus der theoretischen Vorgabe Kants zu diesem Begriff, - auf eine übersinnliche Art.

Was den zweiten Teil angeht, ob sich dieses Denken dabei subjektiv zugleich auch selbst anschaut, dazu möchte ich Bedenken anmelden und mir die Frage erlauben, ob Jost Schieren dies heute, zehn Jahre nach Abfassung seiner Arbeit, wohl noch genau so beurteilen würde. Ganz sicher gilt, und dieses sichtbar gemacht zu haben gehört ebenfalls zu den verdienstvollen Erträgen an Schierens Arbeit, daß Goethe sich über sein eigenes Denken und Erkennen weit mehr den Kopf zerbrochen hat, als es ein von ihm der Nachwelt überliefertes Wort - nämlich nie über das Denken gedacht zu haben – vordergründig vermuten läßt. Erkenntniswissenschaftliche und erkenntnispsychologische Betrachtungen wie in Goethes Aufsätzen Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt oder Anschauende Urteilskraft sind ja kaum anders zu haben als auf dem Wege einer gedanklichen Reflexion der eigenen Erfahrungen mit dem Denken und Erkennen. Das heißt einer wissenschaftsphilosophisch orientierten Beleuchtung introspektiver Befunde im Hinblick auf dieses Denken und Erkennen. Insofern ist auch die pauschale Annahme, Goethe habe eine Abneigung gegen Introspektion und Selbsterkenntnis gehabt, mit einiger Zurückhaltung aufzunehmen. Schieren gibt sich da übrigens (etwa S. 145 ff und an zahlreichen anderen Stellen) alle Mühe, hier zu einer differenzierteren Sichtweise zu kommen und macht sich keineswegs einer vorschnellen Bewertung schuldig. Simultane Selbstanschauung des Denkens indessen ist schon erkenntnispsychologisch ein sehr spezielles Problem, das einer ganz eigenen Aufarbeitung bedarf. 2) Doch dies nur in Parenthese. An dieser Stelle ist mir vor allem der erste Teil an Schierens Zusammenfassung wichtig, und ihn möchte ich nachdrücklich unterstreichen; über den zweiten wird sich noch diskutieren lassen.

Mir scheint vor allem für das Verständnis belangvoll, daß sich dieses Denken im Sinne der anschauenden Urteilskraft dem ideell-geistigen Wesensgehalt der Welt, und nicht etwa dem sinnlichen Wahrnehmungsgehalt anschauend zuwendet. Es ist von seinem Bedeutungskern her, auch wenn dies in manchen Ohren paradox klingen mag, kein anschauliches, sondern ein unanschauliches, sinnlichkeitsfreies Denken. Dieser Hinweis scheint mir dringend geboten, weil sich im Rahmen einer gewissen popularisierenden anthroposophischen Trivialphilosophie inzwischen Verständnisweisen eingebürgert haben, die diesen zentralen übersinnlichen Aspekt der Goetheschen anschauenden Urteilskraft wie selbstverständlich und ohne weiter nachzufragen dem bloßen Vorstellungsleben zuordnen, das noch nicht einmal die Stufe des reinen Denkens erreicht. So geht etwa eine Auffassung, diese anschauende Urteilskraft sei auf der Ebene des sinnlichkeitsgesättigten Vorstellungslebens im Sinne des Umgangs mit individualisierten Begriffen und unterhalb des reinen Denkens anzusiedeln, wie sie das Dornacher Vorstandsmitglied Sergej Prokofieff im Methodenkapitel seines jüngsten Buches weitestgehend unbelegt und unabgesichert vertritt, ganz am Kern dieser Angelegenheit vorbei. Prokofieff schreibt dort auf S. 13 die Stufen der anthroposophischen Erkenntnis erläuternd, nachdem er die unterste Stufe, die der der sinnlichen Wahrnehmung behandelt hat: „Die zweite Stufe ist die «Vorstellung», von Rudolf Steiner auch «individualisierter Begriff» … genannt. Sie hat immer einen bildhaften Charakter. Auch die Fähigkeit der «anschauenden Urteilskraft» gehört als weitere Steigerung dazu. Mit ihrer Hilfe versucht der Mensch, der um ihn herum schaffenden Natur in seinem Denken geistig teilhaftig zu werden. Goethe beschreibt sie als die Fähigkeit, mit der «wir uns durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten » … Das bedeutet, dass diese «anschauende Urteilskraft» sich in dem Gebiet der Seele entfaltet, das zwischen dem äußeren Wahrnehmen und dem reinen Denken liegt. Und dazu gehört vor allem das Gebiet der Vorstellungen.“ 3)

Angesichts derart hanebüchener literarischer Erzeugnisse eines Autors, der (S. 34) mit der Erklärung seinen Leser bedient, mit einem "wirklichen anthroposophischen Verstehen" an die Philosophie der Freiheit heranzutreten und ihn gleich im ersten Kapitel sachkundig über die anthroposophische Methode zu unterrichten vorgibt, stellt sich geradezu mit Notwendigkeit die Frage: Wie ignorant darf eigentlich ein Dornacher Vorstand in wissenschaftlichen Fragen sein? Der Autor scheint mir in der fraglichen Thematik vollkommen ahnungslos. Und tatsächlich ist, was Prokofieff hier seinem Leser zumutet, ein skandalöser Vorgang, der in gewisser Weise auch ein bezeichnendes Licht auf die gesamte anthroposophische Bewegung wirft, die so etwas zuläßt und ihren Vorständen so etwas unwidersprochen abnimmt.

Abgesehen davon, daß mir die dort auf Seite 13 vorgeführte Stufengliederung des Erkennens in mancher Hinsicht wie ein Durcheinander von Mißverständnissen vorkommt, hat sich der Verfasser mit Goethes Aufsatz und seinem philosophischen Hintergrund augenfällig niemals ernsthaft befaßt. Und ebensowenig mit Sekundärliteratur darüber. Immerhin liegt die Dissertation von Schieren seit fast zehn Jahren vor, wurde sogar mit Mitteln der deutschen anthroposophischen Landesgesellschaft offiziell gefördert, und auch in anthroposophischen Zeitschriften besprochen. Im Prinzip hätte es Prokofieff also besser wissen können, zumal es auch bei verschiedenen anderen anthroposophischen Autoren genügend eindeutige Hinweise in die richtige Richtung gibt. Und geht man schließlich dem von Prokofieff in diesem Zusammenhang auf S. 13 angeführten Verweis auf Steiners Vortrag Goethe als Vater einer neuen Ästhetik nach, so wird das Bild noch düsterer. Man fragt sich ob er die angegebene Quelle überhaupt gelesen hat. Dort nämlich findet man nichts dergleichen, was seine Lesart: - Goethes anschauende Urteilskraft liegt irgendwo im gesteigerten Vorstellungsleben, unterhalb des reinen Denkens - bestätigt. Vielmehr vertritt Rudolf Steiner in diesem Vortrag eine Sichtweise, die ziemlich genau auf der Linie dessen liegt, was Jost Schieren in seinem Buch als Kern des Verständnisses herausarbeitet: Die anschauende Urteilskraft Goethes hat für Steiner nichts mit sinnlicher Wahrnehmung oder Vorstellungen zu tun, sondern liegt im Bereich des sinnlichkeitsfreien reinen Ideenerlebens, wo sie ihrem an Kant anknüpfenden philosophischen Kontext gemäß auch hingehört. Steiner ist in dieser Sache ganz unzweideutig wenn er dort sagt: „Goethe flieht die Wirklichkeit nicht, um sich eine abstrakte Gedankenwelt zu schaffen, die nichts mit jener gemein hat; nein, er vertieft sich in dieselbe, um in ihrem ewigen Wandel, in ihrem Werden und Bewegen, ihre unwandelbaren Gesetze zu finden, er stellt sich dem Individuum gegenüber, um in ihm das Urbild zu erschauen. So erstand in seinem Geiste die Urpflanze, so das Urtier, die ja nichts anderes sind als die Ideen des Tieres und der Pflanze. Das sind keine leeren Allgemeinbegriffe, die einer grauen Theorie angehören, das sind die wesentlichen Grundlagen der Organismen mit einem reichen, konkreten Inhalt, lebensvoll und anschaulich. Anschaulich freilich nicht für die äußeren Sinne, sondern nur für jenes höhere Anschauungsvermögen, das Goethe in dem Aufsatze über »Anschauende Urteilskraft» bespricht. Die Ideen im Goetheschen Sinne sind ebenso objektiv wie die Farben und Gestalten der Dinge, aber sie sind nur für den wahrnehmbar, dessen Fassungsvermögen dazu eingerichtet ist, so wie Farben und Formen nur für den Sehenden und nicht für den Blinden da sind. Wenn wir dem Objektiven eben nicht mit einem empfänglichen Geiste entgegenkommen, enthüllt es sich nicht vor uns.“ 4) Und ebendort, S. 32 Goethes abschließende Worte aus dem Essay kommentierend: „Die Goetheschen Urbilder sind also nicht leere Schemen, sondern sie sind die treibenden Kräfte hinter den Erscheinungen.“ Man kann ergänzend hinzufügen: Diese angeschauten Urbilder oder Ideen sind die übersinnlichen treibenden Kräfte hinter den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen.

>>>>> Kurzer Quellenhinweis mit Analyse:

- Man vergleiche dazu auch Steiners Ausführungen in der Schrift Goethes Weltanschauung (GA-06, Taschenbuchausgabe Dornach 1979) im Kapitel Die Metamorphosenlehre, S. 103: "Daß sich in der Pflanze, in dem Tiere etwas anschauen lasse, was der bloßen Sinnenbeobachtung nicht zugänglich ist, war Goethes Grundüberzeugung. Was das leibliche Auge an dem Organismus beobachten kann, scheint Goethe nur die Folge zu sein des lebendigen Ganzen durcheinander wirkender Bildungsgesetze, die dem geistigen Auge allein zugänglich sind. "

- In den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (GA-2, Dornach 1979) setzt Steiner Goethes Begriff der anschauenden Urteilskraft anläßlich der Behandlung der organischen Wissenschaft (S. 110) ganz explizit mit dem der Intuition gleich - sicherlich nichts, was unterhalb des reinen Denkens liegt: "Unser Geist muß demnach in dem Erfassen des Typus viel intensiver wirken als beim Erfassen des Naturgesetzes. Er muß mit der Form den Inhalt erzeugen. Er muß eine Tätigkeit auf sich nehmen, die in der unorganischen Naturwissenschaft die Sinne besorgen und die wir Anschauung nennen. Auf dieser höheren Stufe muß also der Geist selbst anschauend sein. Unsere Urteilskraft muß denkend anschauen und anschauend denken. Wir haben es hier, wie Goethe zum erstenmal auseinandergesetzt, mit einer anschauenden Urteilskraft zu tun. Goethe hat hiermit im menschlichen Geiste das als notwendige Auffassungsform nachgewiesen, wovon Kant bewiesen haben wollte, daß es dem Menschen seiner ganzen Anlage nach nicht zukomme. [...] Vertritt der Typus in der organischen Natur das Naturgesetz (Urphänomen) der unorganischen, so vertritt die Intuition (anschauende Urteilskraft) die beweisende (reflektierende) Urteilskraft." Daß dieser Intuitionsbegriff später in der Philosophie der Freiheit enorm verallgemeinert und auf ideell-geistige Wahrnehmung überhaupt ausgeweitet wird und nicht auf die Erkenntnis des Organischen eingeschränkt bleibt, gehört sicherlich zu den bemerkenswertesten Veränderungen in Steiners Erkenntnistheorie, der genauer nachzugehen schon ein umfangreiches eigenes Thema für sich wäre. Wir werden uns unten ein ganz entscheidendes Zwischenstadium  auf dem Wege dorthin etwas näher ansehen: Steiners Vergleich des reinen Denkens mit Kants Begriff der intellektuellen Anschauung in der Schrift Wahrheit und Wissenschaft

- Siehe weiter auch in Steiners Schrift Vom Menschenrätsel (GA-20, Dornach 1984) S. 159 f. Steiner führt dort S. 159 einiges die Ausbildung des übersinnlichen Wahrnehmungsvermögen betreffend aus und schreibt folgendes: "Über dasjenige, was die naturwissenschaftliche Vorstellungsart geben kann, kommt man nur hinaus, wenn man im inneren Seelenleben die Erfahrung macht, daß es ein Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewußtsein gibt; ein Erwachen zu einer Art und Richtung des seelischen Erlebens, die sich zu der Welt des gewöhnlichen Bewußtseins verhalten, wie dieses zu der Bilderwelt des Traumes. Goethe spricht in seiner Art von dem Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewußtsein und nennt die Seelenfähigkeit, die dadurch erlangt wird, "anschauende Urteilskraft". Diese anschauende Urteilskraft verleiht der Seele, nach Goethes Ansicht, die Fähigkeit, das zu schauen, was sich als die höhere Wirklichkeit der Dinge dem Erkennen des gewöhnlichen Bewußtseins verbirgt. Goethe hatte sich mit dem Bekenntnis zu einer solchen Fähigkeit des Menschen in Gegensatz gestellt zu Kant, der dem Menschen eine "anschauende Urteilskraft" abgesprochen hat. Goethe aber wußte aus der Erfahrung des eigenen Seelenlebens heraus, daß ein Erwachen des gewöhnlichen Bewußtseins zu einem solchen mit anschauender Urteilskraft möglich ist." Steiner führt dann S. 160 weiter aus: "Es wird in dem Folgenden das erwachte Bewußtsein als schauendes Bewußtsein bezeichnet werden. Ein solches Erwachen kann nur eintreten, wenn man zur Welt der Gedanken und des Willens ein anderes Verhältnis ausbildet als im gewöhnlichen Bewußtsein erlebt wird." Steiner siedelt Goethes anschauende Urteilskraft ganz unmißverständlich im Bereich des übersinnlichen, schauenden Bewußtseins an. Und er knüpft in diesem Zusammenhang sogar mit seiner eigenen Begrifflichkeit des schauenden Bewußtseins ganz explizit an den Goetheschen Ausdruck von der anschauenden Urteilskraft an, um die sachliche Verwandtschaft des schauenden Bewußtseins mit der anschauenden Urteilskraft Goethes zum Ausdruck zu bringen.

- Vom schauenden Bewußtseins Steiners bzw der anschauenden Urteilskraft Goethes gibt es nun eine unmittelbare Verbindung zum reinen Denken, dergestalt, daß dieses reine Denken von Steiner ebenfalls auf der Ebene des schauenden Bewußtseins angesiedelt wird. Siehe dazu die auf die eben erläuterte Passage sich beziehende Bemerkung Steiners: "In meinem vor kurzem erschienenen Buch «Vom Menschenrätsel» habe ich das «schauende Bewußtsein» beschrieben - in Anlehnung an die Goethesche Idee von der «anschauenden Urteilskraft». Ich verstehe darunter die Fähigkeit des Menschen, sich eine geistige Welt zur unmittelbaren Anschauung und Beobachtung zu bringen. Meine früheren Schriften behandeln das reine Denken so, daß ersichtlich ist, ich zähle dieses durchaus zu den Verrichtungen des «schauenden Bewußtseins». Ich sehe in diesem reinen Denken die erste, noch schattenhafte Offenbarung der geistigen Erkenntnisstufen. Man kann aus meinen späteren Schriften überall ersehen, daß ich als höhere geistige Erkenntniskräfte nur diejenigen anzusehen vermag, die der Mensch in einer ebensolchen Art entwickelt wie das reine Denken." (GA-35, Dornach 1984, S. 321.) Mit den früheren Schriften meint Steiner seine philosophisch erkenntnistheoretischen Frühschriften; und unter diesen vor allen Dingen (S. 319) die Schriften Wahrheit und Wissenschaft und die Philosophie der Freiheit. Deutlich wird aus Steiners Bemerkungen ebenfalls, daß für ihn Goethes anschauende Urteilskraft auf gar keinen Fall unterhalb des reinen Denkens im bloßen Vorstellungsleben anzusiedeln ist, wie dies bei Prokofieff geschieht. Sondern sie kann, so, wie er das reine Denken hier einschätzt,  entweder nur auf demselben Niveau liegen wie dieses, oder darüber hinausreichen.

- Siehe ebenso Rudolf Steiner in GA- 67, Dornach 1962, S. 82 ff, Vortr. v. 21. Febr. 1918: Goethe als Vater der Geistesforschung: "Goethe wollte überall übergehen von dem bloßen Denken zu den inneren geistigen Anschauungen, von dem bloßen Bewußtsein, wie es im Alltag vom Denken durchtränkt ist, zum schauenden Bewußtsein, wie ich es in meinem Buche "Vom Menschenrätsel" bezeichnet habe. Daher ist Goethe unbefriedigt davon, daß Kant davon gesprochen hat, der Mensch könne mit seinem Forschen nicht an die sogenannten "Dinge an sich" oder überhaupt an das Geheimnis des Daseins herankommen, und daß Kant es "ein Abenteuer der Vernunft" nannte, wenn der Mensch von der gewöhnlichen Urteilskraft, die kombiniert, aufsteigen will zur "anschauenden Urteilskraft", die in dieser Weise das kombinierende Denken zum inneren Leben erweckt."

Ich glaube es dürfte nach dem Vorangehenden keinerlei Unklarheit mehr darüber bestehen, wo Steiner Goethes anschauende Urteilskraft ansiedelt - nämlich beim übersinnlichen schauenden Bewußtsein. Und dieses wiederum hängt für ihn in einer sehr spezifischen Weise mit dem reinen Denken zusammen, der elementarsten Stufe des schauenden Bewußtseins, die uns vor allem weiter unten etwas näher beschäftigen wird. Und auch dabei spielt, wie schon beim Begriff der anschauenden Urteilskraft die Philosophie Kants eine besondere Rolle. Ferner zeigen schon diese wenigen hier vorgelegten Quellen, daß Goethes Begriff der anschauenden Urteilskraft für das philosophische Verständnis von Steiners Anthroposophie eine Art Schlüsselfunktion zukommt, die einer sehr gründlichen Aufarbeitung bedarf. Die wenigen in der vorliegenden Arbeit behandelten grundsätzlichen Stationen und Gesichtspunkte können und sollen dazu nur eine Anregung geben.  <<<<<<<

Das ist wie gesagt das Verständnis Rudolf Steiners dieser Goetheschen anschauenden Urteilskraft. Und es liegt weit abseits von dem, was Prokofieff da vor seinem Leser ausbreitet. Was mir nur aufs neue zu bestätigen scheint: Es ist für die anthroposophische Sache und den Leser nicht hilfreich, wenn so ein Dornacher Vorstand sich literarisch über Dinge ausläßt, von denen er ganz offensichtlich nichts versteht.

Nun mag es durchaus sein, daß sich Goethe selbst, der ja kein systematisierender Philosoph war, bezüglich dieses Begriffs nicht immer so ganz eindeutig und abschließend auf einen engen philosophischen Bedeutungsgehalt festlegen läßt, was ja für den Interpreten immer auch ein Problem der Quellenlage ist. Die auch von Schieren auf S. 145 beklagte Ambivalenz und Uneindeutigkeit Goethescher Aussagen „bis hin zur Widersprüchlichkeit“ – und das gilt, wie Schieren zeigt, auch für Goethes persönliche Beurteilungen seiner ideell-gedanklichen Erfahrungen - führt dann leicht zu interpretatorischen Konfliktlagen im Hinblick auf die Verwendung spezifischer Begrifflichkeiten. So etwa wenn Goethe in dem Aufsatz Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort von einem gegenständlichen Denken spricht. Und im selben Atemzug davon, daß sein Denken ein Anschauen und sein Anschauen ein Denken sei, 5) wie es ihm der Anthropologe Heinroth attestiert hatte. Aus dem unmittelbaren Sachzusammenhang heraus ist nicht leicht zu entscheiden, was Goethe meint, wenn er da von einem anschauenden Denken spricht. Ist hier auch von dieser anschauenden Urteilskraft die Rede? Manches spricht dafür. Naheliegend wäre aber auch, daß Goethe hier auf die erwähnte Gegenständlichkeit seines Denkens bezug nimmt. Dahingehend, daß der Gegenstand größt umfänglich in seiner ganzen Vielfalt und Komplexität vom Denken ergriffen wird. Es also um ein möglichst erfahrungsgesättigtes Denken und Erkennen geht. Sachlich gehört das zwar zum Thema anschauende Urteilskraft dazu. Insofern, als auch die Ideen und Urbilder von den Gegenständen nur mittels einer erfahrungsgesättigten Erkenntnis gewonnen werden können. Aber es ist erkenntnisphilosophisch gesehen noch einmal eine ganz anders gelagerte Problemstellung, als sie im Begriff der anschauenden Urteilskraft zutage tritt. Im letzten Fall geht es um die sinnlichkeitsfreie Anschauung von Urbildern oder Ideen – der wesenhaft treibenden übersinnlichen Kräfte hinter den Erscheinungen. Während es im ersten Fall darum geht auf dem Erkenntniswege zu diesen wesenhaften Urbildern oder Ideen sich möglichst umfänglich am sinnlich anschaulichen Erkenntnisgegenstand zu orientieren. Die angeschauten Urbilder selbst gehören nicht mehr dem Bereich des sinnlich Anschaulichen an sondern sind nur noch übersinnlich-anschaulich.

Immerhin: im Fall des Essays Anschauende Urteilskraft ist die Sachlage für den Interpreten klarer, weil Goethe hier explizit bezug nimmt auf einen eng umrissenen und deutlich formulierten philosophischen Sachverhalt. Jost Schieren legt in seiner Zusammenfassung bei der anschauenden Urteilskraft den Akzent eindeutig auf die anschauende Wahrnehmung der ideellen das ist: der nicht-sinnlichen Wesensseite der Erscheinungswelt, was sich mit Steiners Auffassung durchaus deckt. Und er äußert sich in diesem Sinne auch sehr klar an anderen Stellen seines Buches. So etwa S. 73: „Goethe sieht gerade einen solchen [intuitiven, MM] Verstand, den Kant als die menschlichen Möglichkeiten übersteigend auffaßt, in der Perspektive der menschlichen Fähigkeitsentwicklung. In dem Aufsatz Anschauende Urteilskraft führt er selbst das obenstehende Zitat Kants [aus der Kritik der Urteilskraft, MM] an und bringt zum Ausdruck, daß es ihm in seiner wissenschaftlichen Forschung immer um einen solchen Verstand, um ein solches Vermögen zu tun war.„ Und S. 79 ebenfalls unter Bezugnahme auf Goethes Essay Anschauende Urteilskraft: „Es geht Goethe also nicht um eine Natur, die sich den Bedingungen des Erkennens fügt, sondern er strebt, das Erkenntnisvermögen so weiterzuentwickeln, daß es die Eigengesetzlichkeit der Natur zu erfassen vermag. Diese Perspektive ist für ihn durch die Möglichkeit des intuitiven Verstandes gegeben, der von Kant dem Menschen abgesprochen wird.“ Aber er scheint mir doch auch ein wenig zurückhaltend, wenn er dann in seinem Resümee (S. 210) etwas relativierend ausführt, daß die anschauende Urteilskraft nicht nur ein Denken sei, das mit anschaulichen Elementen operiert und sich auf diese stützt.

Vielleicht lese ich das etwas mißverstehend bei Schieren. Vielleicht auch läßt sich die Frage, wie eng sich Goethe hier an Kants Begriffsgebrauch orientiert letztinstanzlich (noch) nicht präzise genug klären. Nimmt man hingegen Kants Verständnis als Vergleichsmaßstab, und das läßt sich unter Zuhilfenahme von Schierens Untersuchung auch gut nachzeichnen, dann müßte Goethes anschauende Urteilskraft auf jeden Fall weit entfernt sein von etwas, das unterhalb des reinen Denkens auf der Ebene des Vorstellungslebens verortet werden kann. Vorausgesetzt also, Goethes Begriff der anschauenden Urteilskraft orientiert sich an dem, was Kant unter dem intuitiven oder göttlichen Verstand begreift, und dafür spricht sehr vieles, dann müßte gelten: Die von Goethe gemeinte Urteilskraft kann streng genommen niemals unterhalb des reinen Denkens angesiedelt werden, sondern muß mindestens – das liegt schon im philosophischen Sachkontext begründet, aus dem heraus Goethe diesen Begriff vorlegt - auf dem selben Niveau liegen wie das sinnlichkeitsfreie Denken selbst. Und es könnte in seinem Anschauungscharakter nie unter dieses Niveau herabsinken, sondern nur darüber hinaus reichen, und zielte damit von seiner ganzen Anlage her noch weit über die mehr rein begrifflich-ideelle Anschauung hinaus in Richtung reale Geist-Anschauung. Und davon scheint mir Steiner in den oben erwähnten Quellen wie im Vortrag Goethe als Vater einer neuen Ästhetik zu sprechen. Ich möchte nachfolgend die hintergründige philosophische Sachlage ein wenig skizzieren.

Intellektuelle Anschauung bei Kant und anschauende Urteilskraft bei Goethe

Zu den Kernstücken der Kantschen Philosophie zählt bekanntlich die Lehre von den zwei polaren Stämmen der Erkenntnis. Das sind rezeptive Sinnlichkeit auf der einen Seite und spontaner Verstand auf der anderen. Daneben die Auffassung, das Wesen der Erscheinungswelt, das An Sich der Dinge, sei dem Menschen gänzlich verschlossen. Der Mensch sei nicht in der Lage über das Wesen der Welterscheinungen, über ihren Kern etwas auszumachen. Das berühmt berüchtigte Ding an sich galt Kant als zwar denknotwendiger, aber dem Erkenntnisvermögen gleichwohl gänzlich unerreichbarer Veranlasser seiner Sinnesanschauung.

Die Sinnlichkeit liefert dem Verstand zwar das Material für seine Denkoperationen, ist aber ohne den Verstand nicht viel wert beziehungsweise in Kants Ausdrucksweise blind. Und der Verstand seinerseits ohne das durch die Sinne gelieferte Anschauungsmaterial ebenso hilflos respektive leer, da er unabhängig von der Sinnlichkeit zu keinen Objekten kommen kann, wie Kant in der Einleitung zur transzendentalen Logik in der Kritik der reinen Vernunft hervorhebt: „Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können.“ 6) Die Anschauung, so erläutert Kant (S. 95) weiter, kann niemals anders als sinnlich sein: „Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern es auf irgend eine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen, so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand. Unsere Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen, (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen,) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.“

Das Denken nun war als bloß diskursives für Kant völlig an die Sinneswahrnehmungen gefesselt und konnte unabhängig von diesen, weil dann ohne Objekt, als leeres Denken zu keinen Erkenntnissen über die Welt kommen. Den Sinnen allein blieb es vorbehalten die Erscheinungen der Welt anzuschauen und dem Verstand sie zu ordnen und sich seine Gedanken innerhalb der gezogenen Grenzen zu machen. Was dieser Verstand dann über die Welterscheinungen herausbrachte, das war für Kant nichts, was mit dem Wesen der Welt irgend etwas zu tun hatte. Es hatte keinen wirklich objektiven Erklärungswert für diese Welt, sondern einen lediglich subjektiven für das erkennende Subjekt. Was in der berühmten an die kopernikanische Wende der Himmelsbewegung anknüpfenden Bemerkung Kants aus der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft zum Ausdruck kam, daß der Mensch, da ihm die Welt ihr Wesen ohnehin vorenthalte, er ihr nach Maßgabe seiner erkennenden Organisation dann eben vorschreiben müsse, wie sie zu sein habe. Freilich um den Preis, an die Stelle der wirklichen objektiven Welt eine zwar jetzt gesetzlich geordnete, aber doch lediglich subjektive zu setzen. Subjektiv, weil die menschlichen Erkenntnisbedingungen für Kant keine andere, objektive Welt zulassen: „Der Verstand verhält sich gesetzgebend. Er stellt Gesetze der Erscheinungswelt auf, welche nach Kant aber keinen hinreichenden Erkenntnisgrund des Objektes geben, […] sondern ein bloßes subjektives Prinzip […] darstellen.“ (Schieren S. 78 f)

Nun hat Kant, - Goethe deutet in dem Essay Anschauende Urteilskraft 7) etwas humorig darauf hin, - über die strengen Erkenntnisgrenzen, die er zog, auch selbst schon hinausgedeutet. So postuliert er als hypothetische Möglichkeit nicht nur in der Kritik der Urteilskraft, auf die Goethe sich bezieht, einen anschauenden Verstand, der auf eine nicht-sinnliche Weise das Wesen der Welt anzuschauen in der Lage sei. Mit einem den menschlichen Sinnen zwar analogen, aber nicht passiven sondern aktiven Vermögen zur Rezeption ausgestattet. Freilich jetzt nicht in Richtung sinnliche, sondern auf das Wesen der Welt gerichtete übersinnliche Rezeption. Auf die Eigentümlichkeiten dieses Verstandes sich beziehend spricht Kant im § 77 der Kritik der Urteilskraft 8) (S. 272 in der Meiner Ausgabe) von dem „Vermögen einer völligen Spontanität der Anschauung ein von der Sinnlichkeit unterschiedenes und davon ganz unabhängiges Erkenntnißvermögen“, das in der Lage sei, den übersinnlichen Realgrund der Natur zu erfassen. Die Sinnlichkeitsfreiheit der Anschauung – und das scheint mir entscheidend für die Einschätzung von Goethes anschauender Urteilskraft - ist für Kant gleichsam die Demarkationslinie zwischen dem auf das Übersinnliche gerichteten anschauenden und dem an die sinnliche Erscheinungswelt geketteten menschlichen, bloß diskursiven Verstand. Deswegen sprach ich oben davon, daß Goethes anschauende Urteilskraft, vorausgesetzt er hält sich hier an Kants Begrifflichkeit, nie unterhalb des sinnlichkeitsfreien Denkens angesiedelt werden kann, weil sich dies schon aus den theoretischen Vorgaben Kants zwingend so ergibt. Und diese Vorgaben waren vor dem Hintergrund dessen, was Kant und Schieren zu dem Thema ausführen, Goethe recht gut bekannt. Wenn dieser sich dann in seinem Essay Anschauende Urteilskraft explizit auf diese Sachlage im § 77 von Kants Kritik der Urteilskraft bezieht, dann hat das sicherlich seinen guten Grund. Denn wie gesagt, nicht dem Menschen kam dieser auf das Übersinnliche gerichtete hypothetische intuitive Verstand zu, sondern nach Auffassung des „Alten vom Königsberge“ lediglich einem übermenschlichen göttlichen Wesen.

Kant gibt diesem anschauenden Verstand recht verschiedenen Namen. Allein im § 77 der Kritik der Urteilskraft finden sich dafür die Ausdrücke anschauender Vestand; intuitiver Verstand; intellectuelle Anschauung; intellectus archetypus; urbildlicher Verstand. An anderen Stellen ist direkt die Rede – worauf Goethe sich mit Recht vermutend bezieht - von einem göttlichen Verstand. Was auch zeigt, daß für Goethe Kants Werk keine unbekannte Größe war. Dieses göttliche intellektuelle Anschauungsvermögen wird von Kant gelegentlich auf etwas unterschiedliche Weise näher charakterisiert. Aber es findet sich wiederholt in seinem Werk, beginnend etwa mit der Dissertatio, wo dem Menschen das Vermögen zur intellektuellen Anschauung ausdrücklich abgesprochen wird. Das menschlich Erkenntnisvermögen sei nie intellektuell, sondern immer nur symbolisch, abstrakt und auf Sinnesanschauung basierend führt Kant dort aus. Dem setzt er gegenüber die göttliche Anschauung, von der es heißt: „Die göttliche Anschauung dagegen, die der Grund der Gegenstände ist, nicht etwas Begründetes, ist, da sie unabhängig ist, urbildlich und deswegen vollkommen intellektuell.“ 9) Stets geht es um die Möglichkeit eines auf das Wesen der Welt gerichteten sinnlichkeitsfrei anschauenden Vernunftgebrauchs, der wie gesagt nicht als Möglichkeit des Menschen sondern nur eines höheren, göttlichen Wesens vorzustellen war. 10) (Siehe zum Begriff der intellektuellen oder göttlichen Anschauung auch das umfangreiche und im Internet zugängliche Kant-Lexikon von Rudolf Eisler http://www.textlog.de/31938.html)

Von der Urteilskraft spricht Kant in seinem Werk, auf das Goethe rekurriert. Und ebenso (§ 77, S. 273) von einem mit dem intuitiven gleichbedeutenden urbildlichen Verstand, respektive sinngemäß von einer anschauenden Urteilskraft, worauf sich Goethes Titel wörtlich bezieht. Es ist also recht naheliegend, daß Goethe schon im Titel seines Essays auf die von Kant gemeinte übersinnlich anschauende Urteilskraft hindeutet, weil es um diese hier schwerpunktmäßig geht. Und diesen göttlichen oder intuitiven Verstand; diese nicht sinnliche sondern intellektuelle Anschauung spricht Goethe sich mit eigentümlich vorsichtiger Zurückhaltung zu mit den bekannten Kant resümierenden Worten: „Zwar scheint der Verfasser [Kant, MM] hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im Sittlichen durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen, so dürft' es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen.“11)

Es macht den besonderen Reiz dieses kurzen Essays aus, daß Goethe sich hier vom großen Königsberger Philosophen, dem er, wie Schieren in seinem Buch ausführlich zeigt, in vielerlei Hinsicht gedanklich sehr verbunden war, doch in diesem Punkt ganz entschieden absetzt. Und sich ein übersinnliches Erkenntnisvermögen zuschreibt, das Kant dem Menschen ausdrücklich vorenthalten wissen will. Und es scheint auch so, als habe ihm Kant trotz aller Divergenzen in diesem Punkt, zum Verständnis dieser Angelegenheit sehr geholfen. Goethe war im Hinblick auf Kants Philosophie durchaus kein unbeschriebenes Blatt, wenn er auch, wie er im Essay sagt, sie nicht gänzlich durchdringen, so aber doch wenigstens nutzen wollte. Aber er war sich, wie Schieren vielseitig demonstriert, der Tragweite dessen, was er hier für sich in Anspruch nimmt, durchaus bewußt. Das erklärt vielleicht auch, warum er in dem Essay nicht in naiver Plakativität mit der Tür ins Haus fällt, sondern seinem wissenschaftlich umsichtigen und vorsichtigen Naturell entsprechend nur ein in zarten Pastelltönen gehaltenes Bild von dem entwirft, was er sich selbst zuschreibt. Daß es Goethe mit dem Begriff der anschauenden Urteilskraft im Kern wenigstens um ein nach Kants Verständnis jenseits aller Sinnlichkeit liegendes intuitives Erkenntnisvermögen geht, um eine intellektuell anschauende, übersinnliche Urteilskraft, das glaube ich hat Jost Schieren sehr gründlich herausgearbeitet. Und das deckt sich, wie ich oben erwähnt habe, durchaus mit der Auffassung, die Rudolf Steiner in dieser Angelegenheit vertritt. (Für nähere Einzelheiten bitte ich den Leser auf Schierens Buch selbst zurückzugreifen. Dort vor allem auf das Kapitel II., Goethes Kant-Rezeption, S. 29-80.)

Intuitiver Verstand und der Weltinhalt a und b

Von diesem eben skizzierten Hintergrund aus lassen sich einige recht bemerkenswerte und erhellende Gedankenlinien ziehen zur Philosophie Rudolf Steiners. Insbesondere auch zu dem, was er selbst in Wahrheit und Wissenschaft die intellektuelle Anschauung, und dann in der Zweitauflage seiner Philosophie der Freiheit das intuitive Denken nennt.

Rudolf Steiner nimmt bekanntlich von Goethes Weltanschauung seinen philosophischen Ausgang. Sich damit ausführlich zu befassen, dazu war ihm durch die Herausgeberschaft von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften schon in jungen Jahren reichlich Gelegenheit gegeben. Den philosophischen Ertrag dieser Forschung hat er dann in mehreren Büchern publiziert. Es sind dies vor allem die Einleitungen in Goethes naturwissenschaftliche Schriften 12), ferner die Schrift Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung 13) , und schließlich der Band Goethes Weltanschauung. 14) Die beiden Schriften Wahrheit und Wissenschaft 15) und Die Philosophie der Freiheit 16) zeichnen sich in dieser Reihe der philosophisch orientierten frühen Schriften durch eine betonte Eigenständigkeit aus. Insofern, als Steiner jetzt in Wahrheit und Wissenschaft auf S. 14 die Selbständigkeit seiner philosophischen Gedankenbildung hervorhebt, „die nicht aus der Goetheschen Weltanschauung abgeleitet zu werden braucht.“ Zudem auch ausdrücklich nicht nur im Titel von Wahrheit und Wissenschaft, sondern auch im Inhalt – so auf S. 14 – explizit vorausdeutet auf die noch folgende Philosophie der Freiheit. Sachlich stehen diese beiden Schriften also in einem ganz besonders engen Zusammenhang.

Charakteristisch für die Vorgehensweise Steiners bei der Darlegung der erkenntnistheoretischen Prinzipien Goethes ist, daß er einen hoch konzentrierten und verallgemeinernden Zusammentrag dessen vorlegt, was sich ihm durch sein umfassendes Goethestudium ergab. Und diesen Ertrag zugleich mit den philosophisch-erkenntniswissenschaftlichen Gedankenbildungen seiner eigenen Zeit kontrastierte und vor diesem Hintergrund rechtfertigte. Das macht es dem Leser nicht eben leicht die Verbindung zu Goethe auch immer zu sehen. Er muß sie vielfach selbst herstellen, wie Christoph Gögelein einmal treffend bemerkt hat. 17) Insofern ist es besonders hilfreich auf ein Buch wie dasjenige Jost Schierens zurückgreifen zu können, der durch die facettenreiche Art seiner Darstellung viele der bei Steiner fehlenden direkten Verbindungslinien zu Goethe wenigstens mittelbar sichbar macht. Auf der anderen Seite wäre es durchaus wünschenswert, Steiners erkenntnisphilosophische Gedankengänge direkt auf diese Verbindungslinien, aber auch auf  die Differenzen zu Goethe hin noch einmal ausdrücklich zu sondieren, was ja bei Schieren nicht zum Gegenstand der Untersuchung zählte, wenngleich es in seinem Buch hier und da auch ausführlichere Hinweise auf Steiners Einschätzung spezieller Sachfragen gibt.

Charakteristisch für Steiners an Goethe orientierter Erkenntniswissenschaft ist weiter, daß er die Prinzipien des Goetheschen Erkennens, so weit sie sich ihm ergaben, philosophisch pointiert und gleichsam in einem guten Sinne radikalisiert und zu Ende denkt, wenn man so will. Das wird beispielsweise dort sichtbar, wo er sich in Anlehnung an den Erkenntnistheoretiker Johannes Volkelt mit dem zeitgenössischen Positivismus kritisch auseinandersetzt und seinen Begriff der reinen Erfahrung entwickelt. Eine Sondierung, deren Aufgabe es ist zu klären, was eigentlich beim menschlichen Erkennen aus der Sinnlichkeit stammt und was nicht. Worauf denn der Begriff des sinnlich Gegebenen überhaupt zutrifft? So etwa recht umfänglich im Kapitel Goethes Erkenntnistheorie 18), ferner ähnlich ausführlich in den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung 19), und schließlich findet sich in Wahrheit und Wissenschaft schon einleitungsweise auf S. 15 der Hinweis, „daß ohne die grundlegenden Vorarbeiten Volkelts mit ihren gründlichen Untersuchungen über den Erfahrungsbegriff die präzise Fassung des Begriffes des «Gegebenen» , wie wir sie versuchen, sehr erschwert worden wäre.“ Sachlich gesehen handelt es sich bei diesen Untersuchungen des Erfahrungsbegriffs vor allem auch um eine empirische Überprüfung der von Kant vertretenen Auffassung, daß ausnahmslos alles, womit der menschliche Verstand Umgang hat, letztlich aus der Sinnlichkeit stammen muß, wenn er nicht ins Leere kommen will. Für Steiner ist das absolut nicht der Fall. Letzteres vor allem wird entscheidend für Steiners Begriff des Übersinnlichen, der in gewisser Weise genau dort ansetzt, wo Kant ihn schon angesiedelt wissen will. – Bei einem sinnlichkeitsfreien Vernunftgebrauch; bei der spontanen Rezeptivität; bei der intellektuellen Anschauung respektive – wenn man die Angelegenheit denn so einschätzen kann und Goethe sich hier sehr eng an Kant anlehnt: bei der anschauenden Urteilskraft Goethes. In Steiners Terminologie gesprochen: Beim reinen oder sinnlichkeitsfreien, bzw intuitiven Denken.

Wir erinnern uns an die oben erwähnte Lehre Kants von den zwei Stämmen der Erkenntnis: Der menschliche Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne nichts zu denken. Deswegen bleibt der menschliche Verstand für Kant vollkommen abhängig vom sinnlichen Ausgangsmaterial, von dem er sich nicht befreien kann ohne damit in die Leerheit zu geraten. Es ist bezeichnend für Steiner, daß er die von Kant dem menschlichen Verstand gänzlich abgesprochene Fähigkeit zur Rezeption, zur intellektuellen Anschauung: das heißt unabhängig von der gewöhnlichen Sinnlichkeit selbsttätig etwas Inhaltsvolles anzuschauen, geradezu ins Gegenteil wendet und sich wie ein roter Faden durch alle seine philosophischen Frühschriften die Überzeugung von der aktiven sinnlichkeitsfreien Wahrnehmungsfähigkeit des menschlichen Denkens zieht. 20) Erkenntnistheoretisch kulminiert dies in dem expliziten Vergleich des reinen Denkens mit Kants intellektueller Anschauung in der Schrift Wahrheit und Wissenschaft. (Siehe unten) Und zwar so radikal, daß es für Steiner ohne diese sinnlichkeitsfreie Wahrnehmungsfähigkeit des Denkens gar keine Erkenntnis geben kann. Jeder Erkenntnis liegt notwendigerweise die Wahrnehmung eines Sinnlichkeitsfreien, Übersinnlichen zugrunde, ohne die sie keine Erkenntnis wäre. Und das gilt ausnahmslos für alle Gegenstandsbereiche, denen das menschliche Erkenntnisvermögen sich zuwendet. Wenn Steiner dann für dieses aktiv wahrnehmende Denken die Ausdrücke intuitives Denken, oder sinnlichkeitsfreies Denken gebraucht und in der Schrift Wahrheit und Wissenschaft auf S. 60 f mit Nachdruck unter Hinweis auf Kant auf den Begriff intellektuelle Anschauung zurückgreift, dann sind das alles Begrifflichkeiten, die in vergleichbaren Sachzusammenhängen auch bei Kant teils explizit, teils sinngemäß schon vorliegen. Nur eben wie erwähnt mit dem Unterschied, daß Kant die damit verbundenen Befähigungen keinem menschlichen, sondern lediglich einem göttlichen Wesen vorbehält, während sie bei Steiner schon den ganz alltäglichen erkennenden Vernunftgebrauch des Menschen charakterisieren. Im Vergleich zu Kants epochaler kopernikanischer Wende der Erkenntnis aus der Kritik der reinen Vernunft nun eine neuerliche Wende dieser Art.

Zu den augenfälligsten Beispielen dieser von Steiner vollzogenen Wende, die Kants sinnlichkeitsfreien göttlichen Verstand gleichsam vom Himmel auf die Erde holt, zählt, weil es sich direkt auf Kants Begriff der intellektuellen Anschauung bezieht und damit die ganze Tragweite der von Steiner vollzogenen Umkehrung sichtbar macht, eine Textstelle aus Wahrheit und Wissenschaft. Schon die Programmatik dieser Schrift ist ganz auf eine Auseinandersetzung mit Kant angelegt. Beziehungsweise darauf, (siehe Vorrede S. 9) den "ungesunden Kant-Glauben" seiner Zeit zu überwinden, wie Steiner betont. Es kommt also nicht von ungefähr, wenn er in dieser Schrift, die er später (siehe Von Seelenrätseln, GA-21, Dornach 1976, S. 58) als "für meine ganze Weltanschauung" grundlegend bezeichnet, auf einen Kantschen Schlüsselbegriff in Fragen des Übersinnlichen abzielt, der schon bei Goethe eine so bedeutende Rolle für das Weltverständnis spielt.

Steiner geht im Rahmen einer Untersuchung in Richtung voraussetzungsloser Ausgangspunkt des Erkennens der Problemstellung nach, was das menschliche Denken bei der Bestimmung der gegebenen Welt eigentlich leistet. Und was dabei aus der Sinnlichkeit stammt und was aus der Vernnft? Und ob die Vernunft wirklich nur nach Maßgabe dessen operieren kann, was ihr durch die Sinnlichkeit an Objekten schon vorgegeben ist? Oder ob sie nicht vielmehr selbstschöpferisch sinnlichkeitsfreie Inhalte hervorbringen kann, ohne damit, wie Kant annimmt, in die Leerheit zu geraten? Er erläutert dort (S. 59) vorangehend, daß die Gesamtheit des empirisch Gegebenen dem Menschen so vorliegt, daß ihm alles fremdgegeben sei. Ohne sein Zutun. Bis auf eine Ausnahme: Begriffe und Ideen erscheinen nicht ohne seine individuelle Aktivität. „Alles andere in unserem Weltbilde trägt eben einen solchen Charakter, daß es gegeben werden muß, wenn wir es erleben wollen, nur bei Begriffen und Ideen tritt noch das Umgekehrte ein: wir müssen sie hervorbringen, wenn wir sie erleben wollen.“ Er beruft sich hier auf seine empirische Erfahrung im Hinblick auf die Gegebenheit der Welt. Und diese Erfahrung zeigt, daß Begriffe und Ideen nur erlebt werden können, wenn sie selbsttätig vom erkennenden Individuum hervorgebracht werden.

Als nächstes folgt (S. 60) der entscheidende Punkt in der Abgrenzung zu Kant, der gleichsam das Zentrum der gegenüber Kant vollzogenen Wende der Erkenntnis darstellt: „Nur die Begriffe und Ideen sind uns in der Form geben, die man die intellektuelle Anschauung genannt hat.“ So Steiner dort. Und weiter: „Kant und die neueren an ihn anknüpfenden Philosophen sprechen dieses Vermögen dem Menschen vollständig ab, weil alles Denken sich nur auf Gegenstände beziehe und aus sich selbst absolut nichts hervorbringe. In der intellektuellen Anschauung muß mit der Denkform zugleich der Inhalt mitgegeben sein. Ist dies aber nicht bei den reinen Begriffen und Ideen […] wirklich der Fall: Man muß sie nur in der Form betrachten, in der sie von allem empirischen Inhalt noch ganz frei sind. Wenn man z. B. den reinen Begriff der Kausalität erfassen will, darf man sich nicht an irgend eine bestimmte Kausalität oder an die Summe aller Kausalitäten halten, sondern an den bloßen Begriff derselben. Ursachen und Wirkungen müssen wir in der Welt aufsuchen, Ursachlichkeit als Gedanken­form müssen wir selbst hervorbringen, ehe wir die er­steren in der Welt finden können.

Wenn man aber an der Kantschen Behauptung festhalten wollte, Begriffe ohne Anschauungen seien leer, so wäre es undenkbar, die Möglichkeit einer Bestimmung der gegebenen Welt durch Begriffe darzutun. Denn man nehme an, es seien zwei Elemente des Weltinhaltes gegeben: a und b. Soll ich zwischen denselben ein Verhältnis aufsuchen, so muß ich das an der Hand einer inhaltlich bestimmten Regel tun; diese kann ich aber nur im Erkenntnisakte selbst produzieren, denn aus dem Objekte kann ich sie deshalb nicht nehmen, weil die Bestimmungen dieses letzteren mit Hilfe der Regel eben erst gewonnen werden sollen. Eine solche Regel zur Bestimmung des Wirklichen geht also vollständig innerhalb der rein begrifflichen Entität auf.“

Auf einen Aspekt möchte ich hier das Augenmerk besonders richten. So betont Steiner daß Begriffe überhaupt nicht aus der sinnlichen Erfahrung stammen können und ihrer Genese nach sinnlichkeitsfrei sind. 21) Auch wenn sie sich auf Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung beziehen sind sie ihrer eigenen Form und Herkunft nach frei von dieser Sinnlichkeit. Sie lassen sich auf diese anwenden, und sie werden gegebenenfalls an ihr, aber sie werden nicht aus ihr gewonnen. Der Begriff vom Wolf, von der Rose oder von der Plastikflasche ist gleichermaßen wie jener der Freiheit oder der Güte eine reine ideelle Entität. "Der Begriff kann seinen Inhalt nicht aus der [sinnlichen, MM] Erfahrung entlehnen, denn er nimmt gerade das Charakteristische der Erfahrung, die Besonderheit, nicht in sich auf. Alles, was die letztere konstruiert, ist ihm fremd. Er muß sich also selbst seinen Inhalt geben." So heißt es an anderer Stelle (GA-01, S. 154 im Kapitel Goethes Erkenntnistheorie) In den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (S. 61) derselbe Gedankengang: "daß das Denken kein inhaltsleeres Gefäß ist, sondern daß es rein für sich selbst genommen inhaltsvoll ist und daß sich sein Inhalt nicht mit dem einer andern Erscheinungsform deckt." Und im IV. Kapitel der Philosophie der Freiheit (S. 58) schließlich der lapidare Hinweis "Der Begriff kann nicht aus der Beobachtung gewonnen werden." Das ist durchaus generalisierend gemeint. Das heißt: Man kann über Pflanzen, Tiere und Plastikflaschen auch intuitiv - sprich: sinnlichkeitsfrei - denken, und nicht etwa nur über analytische Geometrie, analytische Mechanik - Beispiele, die Steiner gelegentlich zu Demonstrationszwecken in seinen Vorträgen verwendet - oder abgehobene philosophische oder geisteswissenschaftliche Fragestellungen. (Was übrigens die Voraussetzung dazu ist, einen intuitiven Verstand oder die anschauende Urteilskraft auf sinnlich wahrnehmbare Objekte wie Lebewesen überhaupt anzuwenden. Und - siehe Goethe - so etwas wie einen Typus-Begriff zu entwickeln. Denn die Urbilder von Pflanze und Tier verstehen sich ja als das Resultat seiner Naturforschung an sinnlich wahrnehmbaren Exemplaren und nicht als das einer wirklichkeitsfremden metaphysischen Spekulation.) Begriffe generell sind nicht-sinnliche Entitäten und als solche nicht leer, sondern inhaltsvoll. Ursachlichkeit als reine Gedankenform kann man der sinnlichen Erfahrung nicht ablesen, sondern man muß sie selbsttätig produzieren. Hätte aber diese nicht aus der sinnlichen Erfahrung gewonnene reine Begrifflichkeit keinen Inhalt, wäre also leer, so ließe sie sich natürlich auch nicht auf die Erfahrung anwenden. Denn die sinnliche Erfahrung wird ja erst mit Hilfe dieser Begrifflichkeit bestimmt. Mit leeren Inhalten läßt sich aber keine Erfahrung bestimmen. Steiner vergleicht hier den reinen Begriff mit einer Regel. Übrigens eine Auffassung, die man bei Kant häufiger in der Kritik der reinen Vernunft antrifft. In A 126 (S. 185 a der Meiner Ausgabe), charakterisiert Kant den Verstand überhaupt als das „Vermögen der Regeln“. Und in B 180/A 141 (S. 200 der Meiner Ausgabe) heißt es: „Der Begriff vom Hunde bedeuetet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, das ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein.“ Bei Steiner lesen wir entsprechend in einer Fußnote auf S. 60 von Wahrheit und Wissenschaft: „Unter Begriff verstehe ich eine Regel, nach welcher die zusammenhanglosen Elemente der Wahrnehmung zu einer Einheit verbunden werden.“ Dieses Regelverständnis vom Begriff hat Steiner soweit ich sehe nie wieder verwendet. Es kennzeichnet gewissermaßen den totesten, nur noch schematischen Aspekt, den man einem Begriff überhaupt abgewinnen kann. Was ja in der Erkenntnistheorie durchaus Sinn machen kann. Begriffe werden später bei Steiner – dies nur nebenbei gesagt – zu Lebewesen, zu geistigen oder ätherischen Bildekräften, die die Welt von innen antreiben und ihr zugrunde liegen.

Die Auffassung vom inhaltsvollen sinnlichkeitsfreien Begriff, der in der Erkenntnis zur Anwendung kommt, und das ist noch einmal besonders zu betonen, gilt nach Steiner ausdrücklich für jede Form der Erkenntnis, und nicht etwa nur für sehr spezielle, wissenschaftliche oder höhere Erkenntnisarten. Er sagt es schon in der Fußnote auf S. 60, daß dasjenige, was die zusammenhanglosen Elemente der Wahrnehmung zu einer Einheit, zu einem in sich Zusammenhängenden verbindet, rein begrifflicher Natur sei. Angesichts dieser generalisierten Wendung muß davon ausgegeangen werden, daß für Steiner schon die elementarste Stufe der bewußten und aktiven menschlichen Orientierung in der sinnlichen Wahrnehmungswelt regelgeleitet und damit abhängig ist vom Vorhandensein reiner Begrifflichkeiten. (Besonders plastische Beispiele für das Bemühen um diese elementare regelgeleitete Orientierung etwa in der visuellen Wahrnehmungswelt finden sich nebenbei gesagt in den Berichten des operierten Blinden Michael May, die ich an anderer Stelle hier schon einmal erwähnt habe. Siehe dazu: Der sehende Blinde, in, Der Spiegel, Nr. 47, 18.11.2002 S. 190 ff. Wieder abgedruckt unter dem Titel: Wie ein Blinder versuchte, das Sehen zu lernen, in: SPIEGEL special 4/2003, S. 140 ff)

Steiner bringt diese Sachlage dann noch einmal zum Ausdruck mit der verallgemeinernden Wendung: „ … man nehme an, es seien zwei Elemente des Weltinhaltes gegeben: a und b. Soll ich zwischen denselben ein Verhältnis aufsuchen, so muß ich das an der Hand einer inhaltlich bestimmten Regel tun; diese kann ich aber nur im Erkenntnisakte selbst produzieren, denn aus dem Objekte kann ich sie deshalb nicht nehmen, weil die Bestimmungen dieses letzteren mit Hilfe der Regel eben erst gewonnen werden sollen. Eine solche Regel zur Bestimmung des Wirklichen geht also vollständig innerhalb der rein begrifflichen Entität auf.“ Was hier gesagt wird ist von grundsätzlicher Natur; greift über den begrenzten Rahmen des speziell Wissenschaftlichen hinaus und gilt für eine jegliche Erkenntnis überhaupt. Der verwendete Begriff des Verhältnisses bietet den denkbar weitesten Spielraum seiner inhaltlichen Erfüllung. Hier sind der kreativen erkennenden Phantasie keinerlei Grenzen gesetzt. Es kann wie in Steiners Beispiel ein Verhältnis von Ursache und Wirkung sein. Es kann auch ein Verhältnis der morphologischen Verwandtschaft sein, wenn etwa Pflanzen- oder Tierarten zu Bestimmungszwecken untersucht werden. Es kann ein Verhältnis der Empathie oder Abneigung zwischen zwei Menschen, der Rundheit bei verschiedenen Bäuchen, der materiellen Differenzen von Glas- oder Plastikflaschen, der Schwingungszahl bei elektromagnetischen Wellen, das Verhältnis des Ich zu seiner Denktätigkeit, oder auch das Verhältnis von Idee und Wirklichkeit sein, um nur wenige exemplarische Beispiele zu nennen. Es gibt im Weltganzen nichts, worauf der Begriff des Verhältnisses nicht anwendbar wäre, weil natürlich alles mit allem in irgend eine Art von Beziehung oder Verhältnis gesetzt werden kann. Und um ein solches Verhältnis aufzufinden benötige ich eine Regel oder Begrifflichkeit, über die ich schon verfügen muß, bevor ich das gesuchte Verhältnis im Weltganzen aufdecken kann. Ich muß ja wissen was ich suchen soll, sonst finde ich nichts. Deswegen kann die erkenntnisleitende Begrifflichkeit nicht aus dem darauf hin untersuchten Gegenstand entnommen werden. Empathie zwischen zwei Menschen kann ich nur feststellen, wenn ich über einen Begriff von Empathie verfüge, sonst sehe ich sie nicht. Und wenn ich wissen will, ob mein Nachbar ein grober Klotz ist, dann benötige ich dafür auch den passenden Begriff. Und das gleiche bei der Unterscheidung zweier Flaschen nach Rundheit, Farbe, Volumen oder Materialität.  Entsprechend auch gibt es einen reinen, sinnlichkeitsfreien Begriff von morphologischer Verwandtschaft, vom groben Klotz, vom runden Bauch, von Volumen oder Materialität oder elektromagnetischer Schwingungszahl.

Das heißt: Jeder beliebige Weltinhalt, auch der trivialste, wenn ich ihn denn erkennen will, kann nur erkannt werden mittels einer reinen Begrifflichkeit respektive Regel, die ich im Erkenntnisakte selbst produzieren muß und die ihrerseits nicht aus dem sinnlichen Weltinhalt stammen kann. Nur dadurch ist es möglich einen Zusammenhang zwischen zwei Elementen des Weltinhaltes, welcher Art auch immer, herzustellen. Und dieses auf jede Erkenntnis anzuwendende produktive, reine Begrifflichkeiten hervorbringende Prinzip, vergleicht Steiner in diesem Zusammenhang mit der intellektuellen Anschauung, das ist: mit dem übersinnlichen Wahrnehmungsvermögen Kants. Es ist in Wahrheit und Wissenschaft soweit ich sehe der einzige derart explizite Verweis auf die Wahrnehmungsfähigkeit des reinen Denkens, die man auch in anderen Schriften bei ihm hervorgehoben findet. Das Produzieren eines reinen Begriffs ist für Steiner letztlich das, was Kant intellektuelle Anschauung nennt. Das heißt eine nicht-sinnliche produktive Wahrnehmung. Ein Akt spontaner, schöpferischer Rezeptivität, die auf das übersinnliche Wesen der Erscheinungswelt gerichtet ist und dieses anschaut, wie es dem Begriff der intellektuellen Anschauung nach Kant entspricht. Damit auch dem entsprechend, was Kant auch den intuitiven Verstand nennt, und was Goethe mit dem Begriff der anschauenden Urteilskraft dem Prinzip nach zum Ausdruck bringt. Die intellektuelle Anschauung, so Steiner, sei in der Erfahrung des Denkens vorfindbar. Aber sie sei überhaupt nur dort vorfindbar, wo reine Begriffe produziert werden. Und dies wiederum sei bei jedem beliebigen Erkenntnisakt der Fall, weil dieser nur stattfinden kann, wo solche Begriffe zur Anwendung kommen. Anders formuliert: in jeder Erkenntnis findet sich diese intellektuelle Anschauung respektive die übersinnliche Wahrnehmung als konstitutives Element. Ohne sie gibt es gar keine Erkenntnis.

In diesen hier erläuterten Gedankengängen Steiners, so scheint mir, liegt der philosophisch begründende Kern für seine Überzeugung, daß das reine Denken bereits eine Form des übersinnlich schauenden Bewußtseins ist. (Siehe GA-35, Dornach 1984, S. 320 f : "Wenn ich in meinen geisteswissenschaftlichen Schriften diejenigen Erkenntnisvorgänge darstelle, welche durch geistige Erfahrung und Beobachtung in ebensolcher Art zu Vorstellungen führen über die geistige Welt wie die Sinne und der an sie gebundene Verstand über die sinnenfällige Welt und das in ihr verlaufende Menschenleben, so durfte dieses nach meiner Auffassung nur dann als wissenschaftlich berechtigt hingestellt werden, wenn der Beweis vorlag, daß der Vorgang des reinen Denkens selbst schon sich als die erste Stufe derjenigen Vorgänge erweist, durch welche übersinnliche Erkenntnisse erlangt werden. Diesen Beweis glaube ich in meinen früheren Schriften erbracht zu haben. [...] Meine früheren Schriften behandeln das reine Denken so, daß ersichtlich ist, ich zähle dieses durchaus zu den Verrichtungen des «schauenden Bewußtseins». Ich sehe in diesem reinen Denken die erste, noch schattenhafte Offenbarung der geistigen Erkenntnisstufen.") Vor diesem Hintergrund ist es auch leicht nachvollziehbar, wenn Steiner die Schrift Wahrheit und Wissenschaft wie oben erwähnt als für seine ganze Weltanschauung grundlegend bezeichnet. Und es ist in der Sache verwurzelt, wenn diese Grundlegung sich mit einer Begrifflichkeit Kants verknüpft erweist - der intellektuellen Anschauung respektive des intuitiven Verstandes - die schon für Goethe eine so große Rolle spielt und sich bei Goethe im Begriff der anschauenden Urteilskraft wiederfindet. Was Goethe im Begriff der anschauenden Urteilskraft vorschwebte, nämlich die höhere Wirklichkeit der Dinge im Erkennen zu erreichen, das wird von Steiner aufgegriffen und hier gleichsam nach unten hin zum reinen Denken erkenntniswissenschaftlich erweitert, begründet und abgesichert. Und erkenntniswissenschaftlich gezeigt, daß dieses reine Denken selbst schon den Charakter einer anschauenden Urteilskraft hat und dem übersinnlichen Wahrnehmungsvermögen zuzurechnen ist. Deswegen auch - empfindliche Leser mögen mir dies verzeihen - meine harsche Kritik an so unqualifizierten Ausführungen aus dem Dornacher Vorstand, wie sie bei Prokofieffs Bemerkungen über Goethes anschauende Urteilskraft zutage treten. Es kann doch schlechterdings nicht sein, daß heute, rund 80 Jahre nach Steiners Tod die anthroposophische Bewegung bei ihren Spitzenfunktionären in grundlegenden Fragen noch immer auf dem Kenntnisstand Null verharrt, und mit Pseudowissen und naiven erkenntniswissenschaftlichen Mythologien ihre Anhänger infiziert und in die Irre geführt werden, obwohl längst brauchbare Untersuchungen von anthroposophischer Seite - siehe Jost Schieren, aber auch die Literatur weiter unten -  zu dem Thema vorliegen. Es wird also höchste Zeit, daß sich im Dornacher Vorstand Qualitätsstandards im Umgang mit Steiners Werk herausbilden, die der Bedeutung dieses Werkes auch angemessen sind.

In diesem philosophischen Sachverhalt liegt außerdem einer der Gründe für meine Kritik, die ich an anderer Stelle gegenüber Marcelo da Veiga Greuel ausgesprochen habe. Die erkenntnisbezogene Unterscheidung diskursiv-intuitiv ist eine Begrifflichkeit Kants, die sich auf Steiner nur beschränkt übertragen läßt, weil bei Steiner eine grundsätzlich andere Einschätzung des Erkenntnisprozesses vorliegt als bei Kant. Das heißt es existiert für Steiner keine diskursive Erkenntnis wie bei Kant, weil bei ihm das intuitive Element konstitutiv für jede Erkenntnis ist. Seine bekannte Charakterisierung des Erkennens als Synthese von Wahrnehmung und Begriff meint stets den sinnlichkeitsfreien Begriff. In diesem Sinne ist zu nehmen, wenn Steiner an anderer Stelle davon spricht, daß "jedes Erkennen die Gesetzmäßigkeit des reinen Denkens zur Voraussetzung hat". (Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische Erkenntnistheorie. Persönlich-Unpersönliches. In: GA-35, Dornach 1984, S. 321) Wo sich dieses sinnlichkeitsfreie Moment nicht findet, da läßt sich auch nicht von Erkenntnis sprechen. Und bei Kant ist es geradewegs umgekehrt: Bei ihm kommt das intuitive, übersinnliche Element in der menschlichen Erkenntnis nicht vor, das er ja ausdrücklich dem Menschen aberkennt.

Dementsprechend ist es keineswegs zufällig so, daß Steiner für diese produktive Wahrnehmung des reinen oder sinnlichkeitsfreien Denkens dann in seiner Philosophie der Freiheit (siehe vor allem Kap. V. S. 95) den Ausdruck Intuition gebraucht, was ja nichts anderes besagt als die intellektuelle Anschauung aus Wahrheit und Wissenschaft. Es ist "die Offenbarung eines Geistig-Wirklichen, wie die [sinnliche, MM] Wahrnehmung ... diejenige des Stofflich Wirklichen", wie er es später in der Schrift Von Seelenrätseln präzisierend erläutert. (GA-21, Dornach 1976, S. 61) Und in der Zweitauflage der Philosophie der Freiheit nennt er dieses Denken verschiedentlich auch ein intuitives Denken. Das ist sowohl sachlich als auch begriffsgeschichtlich gesehen durchaus adaequat zu dem, was in Wahrheit und Wissenschaft vorgetragen wird. Und die beiden Schriften – ich sagte es oben – stehen in einem ganz besonders engen sachlichen Zusammenhang. Wenn Steiner schließlich in der Philosophie der Freiheit – man möchte fast sagen: im Vorübergehen – auf S. 255 die Bemerkung macht, daß durch das intuitive Denken „eine jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt wird“, dann deckt sich das vollständig mit der in Wahrheit und Wissenschaft erläuterten Funktion der intellektuellen Anschauung. Es entspricht exakt der Kennzeichnung von S. 60 in Wahrheit und Wissenschaft, daß nur durch das rein begriffliche, sinnlichkeitsfreie Element im Denken - sprich: durch intellektuelle Anschauung - ein Zusammenhang zwischen zwei beliebigen Weltinhalten hergestellt, bzw die zusammenhanglosen Wahrnehmungen zu einer Einheit verbunden werden können. Nur mittels eines zur intellektuellen Anschauung – d. h.: Intuition - befähigten Denkens sind Erkenntnisse möglich. Intuition respektive intellektuelle Anschauung findet sich dann aber auch bei jeder Erkenntnis.

Das sagt übrigens nichts darüber aus, wie vollständig dieser produktiv rezipierte reine Begriff dem erkennenden Individuum jeweils vorliegen muß. Ob etwa sein Begriff von Kausalität bis in die letzte Verästelung auch verstanden und philosophisch abgeklärt ist. Darum geht es in diesem Sachzusammenhang nicht. Da gibt es natürlich ungeheure individuelle Unterschiede der inhaltlichen Sättigung. Aber von denen ist hier nicht die Rede und kann auch streng genommen keine Rede sein, da es um einen allgemeinen Begriff des Erkennens geht – um das Prinzipielle des Erkennens und nicht um die fachwissenschaftliche Frage: Wie solide ist das eigentlich alles, was vom Individuum der Welt als reine Begrifflichkeit entgegengebracht wird?

>>>>>>>> Studienhinweise:

-- Siehe dazu auch Marcelo da Veiga Greuel, Wirklichkeit und Freiheit, Dornach 1990. Zur Verwandtschaft von Goethes anschauender Urteileskaft und der intellektuellen Anschauung bei Steiner dort S. 10 f; insbes. S. 55; S. 58f.

- Siehe weiter zu diesem Thema auch Günter Röschert, Anthroposophie als Aufklärung, München 1996, S. 36 ff, der dort auch die Beziehung der Begriffe anschauende Urteilskraft und intellektuelle Anschauung zur Erkenntnistheorie Steiners, wenn auch kurz und überblicksartig, aber weitgehend sachgerecht beleuchtet. Der Hinweis auf Kant könnte dort allerdings gründlicher ausfallen, denn auf diesen bezieht sich Steiner ja ganz ausdrücklich, gleichermaßen wie Goethe in seinem Essay Anschauende Urteilskraft.

- Siehe auch den Überblick von Dietrich Rapp, Wegmarken: Die intellektuelle Anschauung als idealistischer Leitbegriff auf dem Wege der Erfahrung der Intuition. In: Karl Martin Dietz (Hgr); Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit. Stuttgart 1994, S. 241 ff.

Was man bei den genannten Autoren vermißt, das sind enger an den Text angelehnte und ausgedehntere Detailanalysen der Steinerschen Schrift Wahrheit und Wissenschaft im Hinblick auf die erwähnte Begrifflichkeit der intellektuellen Anschauung. Allerdings muß ich auf die hier vorliegende eigene Darstellung bezogen auch sagen, daß Kants Begriff der intellektuellen Anschauung noch einer weit gründlicheren Untersuchung bedürftig ist, als ich sie in diesem Überblick vorgelegen konnte. Auch das wäre eigentlich ein sehr fruchtbares und aussichtsreiches Thema für eine anthroposophisch orientierte Dissertation. Damit wäre dann auch eine gut fundierte Brücke geschlagen von Schierens Arbeit über Goethe zu Rudolf Steiner. <<<<<<<<<

Man muß sich hier ernstlich vor Augen führen, was sich für Kant mit dem Begriff der intellektuellen Anschauung verbindet, um die ganze Tragweite dessen abschätzen zu können, was Steiner an dieser Stelle im trockenen Jargon der Erkenntnistheorie erklärt. Nämlich nichts anderes, als daß dieser produktiv wahrnehmende, übersinnlich göttliche Verstand Kants, der auf das Wesen, den geistigen Untergrund der Erscheinungswelt gerichtet ist, und von Kant in ein vollkommenes Jenseits aller menschlichen Möglichkeiten verlegt wird, für Steiner schon dann wirksam ist, wenn zwischen zwei ganz beliebigen Weltinhalten a und b ein Verhältnis aufgesucht wird. Deswegen sprach ich oben davon, daß Steiner Kants göttlichen Verstand, und zwar weitaus gründlicher und radikaler als dies bei Goethe der Fall ist, gleichsam vom Himmel auf die Erde holt. So weitgehend, daß in jeder simplen menschlichen Erkenntnis dieses göttliche Element anzutreffen ist. Das läßt sich durchaus mit einer neuerlichen kopernikanischen Wende der Erkenntnis vergleichen.

Es ist hilfreich sich Überlegungen dieser Art zu vergegenwärtigen, wenn man auf Steiners programmatische Äußerung in der Vorrede von 1918 zu Beginn der Philosophie der Freiheit (S. 9) stößt. Dahingehend, daß es ihm in diesem Buch darum gegangen sei nachzuweisen "wie eine unbefangene Betrachtung, die sich bloß über die beiden gekennzeichneten für alles Erkennen grundlegenden Fragen erstreckt, zu der Anschauung führt, daß der Mensch in einer wahrhaftigen Geistwelt drinnen lebt." Man braucht sich nur einmal klar machen, in welch ungeheurem Ausmaß der Mensch tagtäglich sich erkennend im Leben bewegt, - wenn auch nicht unbedingt wissenschaftlich -, um dieses Drinnenleben in einer "wahrhaftigen Geistwelt" für sich zu konkretisieren. (Man beachte ebenfalls vor diesem Hintergrund Steiners Bemerkung aus der Philosophie der Freiheit im Kapitel Die Konsequenzen des Monismus [S. 250] "Das gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt, ergreift somit der Mensch in seinem Denken. Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott." Siehe weiter in seinem Kapitel Goethes Erkenntnistheorie [GA-01, Dornach 1973, S. 162] "Was die Philosophen das Absolute, das ewige Sein, den Weltengrund, was die Religionen Gott nennen, das nennen wir, auf Grund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen: die Idee." Desgleichen bezeichnet er in seiner Theosophie [GA-09, Taschenbuchausgabe Dornach 1978, S. 21] auch nicht zufällig im Rückgriff auf Goethe den erkennenden Menschen als "gleichsam göttliches Wesen". Wendungen dieser Art sind mehr als nur verbildlichende rhetorische Figuren.)

Weiter scheint mir an dieser Stelle mit Blick auf Goethe wichtig sich der Tatsache bewußt zu sein, daß Steiner sich in seiner eigenen philosophischen Gedankenentwicklung nicht unbedingt an Goethes Vorgaben hält. Er ist kein erkenntniswissenschaftlich naiver Anhänger Goethes. Sondern jemand, der zwar von Goethe ausgeht, aber in einer sehr eigenen Weise Goethes Erkenntnisprinzipien weiter ausformuliert, sie erkenntniswissenschaftlich konsolidiert, um sich dann, wie in Wahrheit und Wissenschaft, betont vollends auf eigene Füße zu stellen. Er ist also nicht nur Vertreter einer Goetheschen Weltanschauung, sondern jemand, der sich von Goethe wohl anregen und begeistern läßt, aber doch etwas sehr Individuelles aus diesen Anregungen fortentwickelt, was mit Goethes Erkenntnis- und Weltverständnis nicht unbedingt in sämtlichen Einzelheiten kompatibel ist. (Man vergleiche dazu beispielsweise seine doch recht herbe Kritik an Goethe in der Schrift Goethes Weltanschauung GA-06, Taschenbuchausgabe Dornach 1979, im Kapitel Die Metamorphose der Welterscheinungen, S. 90 f und an anderen Stellen im selben Kapitel.) Deswegen kommt man mit Goethes Begrifflichkeit – etwa mit dem der anschauenden Urteilskraft – in erkenntniswissenschaftlichen Detailfragen nicht unbedingt weiter, wenn man sie ungeprüft auf Steiners Erkenntnistheorie anwendet, beziehungsweise auf das, was er dann in der Philosophie der Freiheit das intuitive Denken nennt – was wie gesagt für Steiner sachlich dasselbe zum Ausdruck bringt wie die hier besprochene intellektuelle Anschauung. Und wenn man sich dabei nur an das hält, was diese Begrifflichkeit vielleicht für Goethe bedeuten mag. Das führt dann unter Umständen im Hinblick auf das Verständnis Steinerscher Positionen sehr in die Irre. Ich habe auch an anderer Stelle schon darauf verwiesen, daß in der Philosophiegeschichte verankerte Begrifflichkeiten zum Verständnis Steiners sehr hilfreich und unentbehrlich sein können. Aber man sich allzuleicht auf dem Holzweg befindet, wenn man sie übereilt auf Steiner überträgt ohne dessen eigene Gedankenbildung hinreichend zu berücksichtigen. Ob auch für Goethe der Begriff der intellektuellen Anschauung oder des intuitiven Verstandes nach Maßgabe der damaligen Zeit generell auf die Erkenntnis eines beliebigen Weltinhaltes a und b anwendbar gewesen wäre wie im eben erörterten erkenntniswissenschaftlichen Kontext, das ist schon sehr die Frage. Goethe hat damit, wie Jost Schieren demonstriert, eben ein besonders ausgebildetes und geschultes höheres Erkennen verbunden. Aber er war schließlich kein Erkenntnistheoretiker, der den Erkenntnisfragen abschließend auf den Grund gegangen ist. Für Steiner jedenfalls, und das versuchte ich hier zu zeigen, ist das ganz ausdrücklich der Fall. Für ihn gilt, daß das übersinnliche Moment, um das Goethe so sehr ringt, das Goethe vor allen Dingen beim Erkennen der organischen Natur voraussetzt, prinzipiell bereits in jeder Erkenntnis vorliegt. Und notwendigerweise vorliegen muß, damit überhaupt von Erkenntnis die Rede sein kann.

Man muß in diesem Zusammenhang auch berücksichtigen, daß es bei Rudolf Steiner im Zuge der erkenntniswissenschaftlichen Gedankenentwicklung auch Veränderungen und gewisse Zäsuren oder präzisierende Feinjustierungen in der Einschätzung spezifischer erkenntniswissenschaftlicher Sachlagen gegeben hat. Das jedenfalls zeigen die offenkundigen Differenzen zwischen seinen eng an Goethe orientierten und Goethe erläuternden Ausführungen und dem, was er dann unabhängig von Goethe weiterentwickelt hat. Dem im einzelnen weiter nachzugehen wäre ein interessantes und wünschenswertes Vorhaben, das hier allerdings nur angeregt werden kann. Lorenzo Ravagli hat im Jahrbuch für anthroposophische Kritik 1997 (S. 74-92) schon einige Bemerkungen dazu gemacht. Es ist vor diesem Hintergrund interessant zu sehen, daß Steiner etwa in seinen Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, in der es ja ausdrücklich noch um die Erkenntnisprinzipien Goethes geht, anläßlich der Behandlung der organischen Wissenschaft auf S. 111 den Begriff der Intuition noch für die Erkenntnis der belebten, organischen Natur reserviert. (Siehe dazu auch das Kapitel IV Über das Wesen und die Bedeutung von Goethes Schriften über organische Bildung in GA-01, Dornach 1973, S. 82 f., wo er im Zusammenhang mit Goethes Organik noch von intuitiven Begriffen und intuitiver Erkenntnis spricht.) Um ihn dann in seiner Philosophie der Freiheit (S. 95) vollends auf Erkenntnis respektive ideelle Wahrnehmung überhaupt auszuweiten und nicht mehr auf das Organische eingrenzt. Und das findet bereits in Wahrheit und Wissenschaft statt, mit dem einzigen Unterschied, daß dort noch nicht der Ausdruck Intuition eingeführt wird, wohl aber auf den Ausdruck der intellektuellen Anschauung rekurriert wird, der begrifflich Vergleichbares meint. Strengerweise wäre hier noch zu berücksichtigen, daß die Schrift Wahrheit und Wissenschaft besonders auf die wissenschaftliche Erkenntnis fokussiert ist (Siehe Titel und Vorbemerkungen), während die Philosophie der Freiheit eine derartige Eingrenzung nicht mehr vornimmt, sondern auch auf das ganz alltägliche Bewußtsein gerichtet ist. (Siehe Vorrede von 1918 und Ende von Kapitel II.) So daß sich sagen läßt: Spätestens mit der erklärten Unabhängigkeit seiner Gedankenbildung von Goethe in der Schrift Wahrheit und Wissenschaft hat sich eine Generalisierung in bezug auf den Erkenntnisbegriff vollzogen, die in der Philosophie der Freiheit vollendet wird, allerdings sachlich in den Grundlinien ...  in der Untersuchung des Erfahrungsbegriffs schon angelegt ist und dort in den späteren Anmerkungen zur Neuauflage 1924 (so etwa Anmerkung 27) ausdrücklich noch einmal hervorgehoben wird.

Diese Bemerkungen richten sich übrigens nicht gegen einen Aspekt, der ja immer wieder, so auch bei Jost Schieren im Zusammenhang mit Goethes anschauender Urteilskraft hervorgehoben wird: Der für Goethe damit verbundene Gesichtspunkt einer Steigerung des menschlichen Erkenntnisvermögens. Der noch viel weiter ausgebildete Blick auf das Übersinnliche, das Urbildliche; auf das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das gilt selbstredend auch für Steiner, der unverkennbar in dem oben zitierten Vortrag Goethe als Vater einer neuen Ästhetik auf diesen Punkt mit hindeutet. Natürlich gibt es auch für Steiner eine weitere Schulung des menschlichen Erkennens. Es ist unbestritten einer der Schwerpunkte seiner geisteswissenschaftlichen Arbeit, das Erkennen so fort zu entwickeln, daß qualitativ etwas völlig Neues daraus wird, das in der Lage ist auch den übersinnlich-geistigen Aspekt der Welt solide zu untersuchen auf Fragestellungen hin, von denen sich der gewöhnliche Mensch kaum eine Vorstellung macht. Nur ist für Steiner dieses übersinnliche Element aus ganz genereller erkenntniswissenschaftlicher Sicht nicht erst das Resultat einer Steigerung des Erkenntnislebens, sondern schon im ganz alltäglichen Vernunftgebrauch anwesend. Und sei es nur in Form reiner Begriffe und Ideen beziehungsweise eines reinen sinnlichkeitsfreien Denkvermögens. Und es kann dann und muß auch weiter entwickelt werden. Aber dieser Punkt, daß sich das Übersinnliche grundsätzlich schon im normalen alltäglichen Erkenntnisleben des Menschen erkenntnistheoretisch nachweisen läßt, und nicht erst das Resultat ausgedehnter Schulungsbemühungen ist, macht es natürlich viel leichter diesen Bereich des Übersinnlichen wissenschaftlich-rational zu beglaubigen. 22) Seine Schulungsfähigkeit erkenntnisphilosophisch und didaktisch zu unterbauen, und sich lebenspraktisch in so eine Fähigkeit einigermaßen orientiert weiter einzuleben, als wenn man immerzu auf etwas verweisen und hinblicken müßte, was zwar als theoretisch denkmöglich gilt, das aber inhaltlich und bewußtseinsphänomenologisch niemand wirklich kennt. So daß auch ein vielleicht fortgeschrittener Geist wie Goethe bei der näheren Einschätzung seines intellektuellen Vermögens ständig von Zweifeln darüber geplagt wird, was er letztendlich von all dem halten soll und wie er das alles einzuordnen hat, was er da in seinen Erkenntniserfahrungen erlebt – was ja, wenn man Schieren folgt, geradezu typisch für ihn gewesen zu sein scheint.

Es ist eben eine große Hilfe für jeden, der sich auf den geistigen Entwicklungsweg begibt, wenn er an etwas anknüpfen kann, was ihm schon vertraut ist. In diesem Sinne, als ganz pragmatische Hilfestellung, ist daher Steiners abschließender Hinweis aus der Philosophie der Freiheit von S. 256 zu nehmen, wenn er dort ausführt: "Was als Wahrnehmung auftritt, das muß der Mensch auf seinem Lebenswege schlechterdings erwarten. Es könnte sich nur fragen: darf aus dem Gesichtspunkte, der sich bloß aus dem intuitiv erlebten Denken ergibt, berechtigt erwartet werden, daß der Mensch außer dem Sinnlichen auch Geistiges wahrnehmen könne? Dies darf erwartet werden. Denn, wenn auch einerseits das intuitiv erlebte Denken ein im Menschengeiste sich vollziehender tätiger Vorgang ist, so ist es andererseits zugleich eine geistige, ohne sinnliches Organ erfaßte Wahrnehmung. Es ist eine Wahrnehmung, in der der Wahrnehmende selbst tätig ist, und es ist eine Selbstbetätigung, die zugleich wahrgenommen wird. Im intuitiv erlebten Denken ist der Mensch in eine geistige Welt auch als Wahrnehmender versetzt. Was ihm innerhalb dieser Welt als Wahrnehmung so entgegentritt wie die geistige Welt seines eigenen Denkens, das erkennt der Mensch als geistige Wahrnehmungswelt. Zu dem Denken hätte diese Wahrnehmungswelt dasselbe Verhältnis wie nach der Sinnenseite hin die sinnliche Wahrnehmungswelt. Die geistige Wahrnehmungswelt kann dem Menschen, sobald er sie erlebt, nichts Fremdes sein, weil er im intuitiven Denken schon ein Erlebnis hat, das rein geistigen Charakter trägt."

Wer das intuitive Denken erlebt und kennt, der hat eine paradigmatische Erfahrung dessen, was Steiner den Geist nennt. Und deswegen kann ihm die geistige Welt nicht fremd sein. Deswegen hängt auch so vieles davon ab, sich einen deutlichen Begriff von dem zu machen, was Steiner das intuitive Denken nennt. Eine an dieser Stelle offensichtliche Schwierigkeit ist, daß viele Leser der Philosophie der Freiheit gleichermaßen wie auch Autoren auf grund mangelnder Klärung völlig überzogene Vorstellungen und unrealistische Erwartungen von diesem intuitiven oder reinen Denken haben. Und infolgedessen gar nicht ahnen, wie nahe es ihnen längst ist und sie es fortwährend schon ausüben, weil sie meinen auf etwas hinblicken zu müssen, was ihre momentanen Möglichkeiten weit übersteigt und erst noch - wie auch immer - eingeübt werden muß. Man kann hier ohne weiteres an Autoren wie Prokofieff oder Lowndes denken; aber auch an manchen anderen. Wer sich von meinen Lesern daneben noch mit meinem Witzenmannverständnis auseinandersetzen möchte, was ja dort auch angesprochen wird, dem empfehle ich meine Erläuterungen zu Witzenmanns Schüler Da Veiga Greuel hier, und zu Witzenmann ausführlich hier hier und hier.)

Der Mangel an Klarheit führt bei den Betreffenden, um auf der sicheren Seite zu sein, dazu, dieses intuitive Denken explizit oder implizit mit besonders elitären und geistesaristokratischen Attributen zu versehen, die ein gewöhnlicher Mensch kaum in seinem aktuellen Potential vermuten würde. Wenn dann ohne nähere Erläuterung nur auf die Geistigkeit oder die Sinnlichkeitsfreiheit des Denkens verwiesen, oder zum Erwerb des reinen Denkens zu didaktischen Zwecken dem Leser das Studium von Hegels Logik anempfohlen wird, dann ist das sachlich zwar nicht inkorrekt, aber eben auch geeignet dem normalen Sterblichen jeden Gedanken an eine entsprechende individuelle Befähigung gründlich auszutreiben, weil der sich realistischerweise dazu kaum in der Lage sieht, weil er über die entsprechenden bildungsbiographischen Voraussetzungen nicht verfügt. Hilfreicher wäre es da sicherlich, wenn so ein Autor seinem Leser begreiflich machen könnte, wieso das Nachdenken über ein davonflatterndes Rebhuhn - siehe viertes Kapitel der Philosophie der Freiheit -, über das Geschehen auf einem Billardtisch - siehe drittes Kapitel -, oder über die evolutionsbiologische Beziehung von Schnecke und Löwe - siehe fünftes Kapitel - von Steiner auf S. 255 dieser Schrift als intuitives oder reines Denken bezeichnet werden kann. Und das dergestalt erlebte Denken als Geist-Erleben. Man muß sich also die Frage vorlegen: Wenn für Steiner ausnahmslos alle Begriffe sinnlichkeitsfrei sind, was ist dann eigentlich für ihn das reine Denken?

>>Einige zusätzliche Quellen: Rudolf Steiner vortragsweise über das reine Denken als Hellsehen.

Siehe GA-146, Dornach 1992, Vortr. Helsingfors , 29. Mai 1913, S. 33 ff:

"Auf logisches Denken, auf Denken in Abstraktionen weist gewissermaßen als auf etwas Neues hin, was jetzt erst in die Menschheit eintreten soll, Krishna den Arjuna hin. Aber dieses Denken, das der Mensch so entwickelt, dieses Denken, das nimmt man zwar heute als etwas ganz Natürliches, aber man hat die schiefesten, unnatürlichsten Ansichten über dieses Denken. Und gerade die westländischen Philosophen haben über dieses Denken die allerschiefsten Anschauungen, denn man hält gewöhnlich dieses Denken für eine bloße Photographie der äußeren sinnlichen Wirklichkeit, man glaubt, die Begriffe, Ideen entstehen im Menschen, dieses ganze innere Denken überhaupt entstehe im Menschen von der physischen Außenwelt herein." (S. 33f) [...] " Hier komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der ganz und gar wichtig ist gerade für diejenigen, die mit der eigenen Seele eine okkulte Entwickelung durchmachen wollen. ... So ist es nämlich, wenn auch nicht mit dem Goldmachen, so ist es mit dem Hellsehen. Kein Mensch könnte eigentlich zu wirklichem Hellsehen kommen, wenn er nicht zunächst ein Winziges an Hellsehen in der Seele hätte. Wenn es wahr wäre, was ein allgemeiner Glaube ist, daß die Menschen, wie sie sind, nicht hellsichtig seien, dann könnten sie überhaupt nicht hellsichtig werden. Denn wie der Alchimist meint, daß man etwas Gold haben muß, um viele Mengen Goldes hervorzuzaubern, so muß man unbedingt etwas hellsehend schon sein, damit man dieses Hellsehen immer weiter und weiter bis ins Unbegrenzte hinein ausbilden kann." [...] "Es gibt wirklich keinen unter Ihnen, der nicht - wenn er sich dessen auch nicht bewußt ist - diesen Ausgangspunkt hätte. Sie haben ihn alle. Keiner von Ihnen ist in der Not, weil Sie alle ein gewisses Quantum Hellsehen haben. Und was ist dieses Quantum? Das ist dasjenige, was gewöhnlich gar nicht als Hellsehen geschätzt wird." [...] "Niemand könnte abstrakt denken, wirkliche Gedanken und Ideen haben, wenn er nicht hellsichtig wäre, denn in den gewöhnlichen Gedanken und Ideen ist die Perle der Hellsichtigkeit von allem Anfang an. Diese Gedanken und Ideen entstehen genau durch denselben Prozeß der Seele, durch den die höchsten Kräfte entstehen. Und es ist ungeheuer wichtig, daß man zunächst verstehen lernt, daß der Anfang der Hellsichtigkeit etwas ganz alltägliches eigentlich ist: man muß nur die übersinnliche Natur der Begriffe und Ideen erfassen. Man muß sich klar sein, daß aus den übersinnlichen Welten die Begriffe und Ideen zu uns kommen, dann erst sieht man recht. Wenn ich Ihnen erzähle von Geistern der höheren Hierarchien, von den Seraphim, Cherubim, von den Thronen herunter bis zu den Archangeloi und Angeloi, so sind das Wesenheiten, die aus geistigen, höheren Welten zu der Menschenseele sprechen müssen. Aus eben diesen Welten kommen der Seele die Ideen und Begriffe, sie kommen geradezu in die Seele aus höheren Welten herein und nicht aus der Sinnenwelt." [...] "Es wurde als ein großes Wort eines großen Aufklärers gehalten, das dieser gesagt hat im 18. Jahrhundert: Mensch, erkühne dich, deiner Vernunft dich zu bedienen. - Heute muß ein größeres Wort in die Seelen klingen, das heißt: Mensch erkühne dich, deine Begriffe und Ideen als die Anfänge deines Hellsehertums anzusprechen. - Das, was ich jetzt ausgesprochen habe, habe ich schon vor vielen Jahren ausgesprochen, ausgesprochen in aller Öffentlichkeit, nämlich in meinen Büchern <<Wahrheit und Wissenschaft>> und <<Philosophie der Freiheit>>, wo ich gezeigt habe, daß die menschlichen Ideen aus übersinnlichem, geistigen Erkennen kommen. Man hat es dazumal nicht verstanden; das ist ja auch kein Wunder, denn diejenigen, die es hätten verstehen sollen, die gehörten, nun ja, halt zu den Hühnern" (34 ff)

Siehe GA 255b, Dornach 2003, Vortr. Stuttgart, 25. Mai 1923, S. 295 ff:

"Und nun, was mir vor allen Dingen die Möglichkeit bot, eine solche Brücke zu finden, das war zunächst nicht das Hinschauen auf innere, subjektive Schauungen; das war mir vom Anfange an klar geworden. Sollten subjektive Schauungen noch so überzeugend, noch so intensiv vor der Seele auftreten, man hat keine Berechtigung, sie irgendwie, durch ihr subjektives Auftreten veranlaßt, zur objektiven Geltung zu bringen, wenn man nicht in der Lage ist, aus dem naturwissenschaftlich Sicheren heraus die Brücke hinüber zu geistigen Welt zu schlagen." (S. 298) [...] "Wer nun meine <<Philosophie der Freiheit>> durchliest, wird finden, wie diese Wege zur Ergründung der Natur des menschlichen Denkens gesucht worden sind. Und für mich stellte es sich heraus, daß nur derjenige das menschliche Denken richtig verstehen könne, welcher in den höchsten Äußerungen dieses Denkens etwas sieht, das sich unabhängig von unserer Körperlichkeit, von unserer leiblichen Organisation vollzieht. Und ich glaube, es gelang mir nachzuweisen, daß die Vorgänge des reinen Denkens im Menschen sich unabhängig von den leiblichen Vorgängen vollziehen. ... Und ich glaube, daß sich mir durch diese <<Philosophie der Freiheit>> nichts Geringeres ergeben hat als die übersinnliche Natur des reinen Denkens. Und hatte man diese übersinnliche Natur des menschlichen Denkens erkannt, dann war damit der Beweis geliefert, daß der Mensch im gewöhnlichsten Alltagsleben, wenn er sich nur erhebt zum wirklichen Denken, durch das er durch nichts anderes als durch die Motive des Denkens selbst bestimmt wird, daß er dann ein übersinnliches Element in diesem Denken vor sich hat." (S. 299 f) [...] " Wer dasjenige, was ich als Forschungsmethode meiner anthroposophischen Geisteswissenschaft zugrunde lege, Hellsehen nennt, der muß auch schon das gewöhnliche reine Denken, das durchaus aus dem Alltagsleben heraufströmt in das menschliche Bewußtsein, das hineinströmt in das menschliche Handeln, Hellsehen nennen. Ich selber sehe qualitativ keinen Unterschied zwischen dem reinen Denken und demjenigen, was ich als Hellsehen bezeichne. ... Dann aber, wenn man den Vorgang kennt, durch den man zu solchem reinen Denken kommt, kann durch das, was wahre tiefergehende Philosophie gibt, etwas ausgebildet werden, was ich dann in der verschiedensten Weise als Erkenntnismethode für die höheren Welten dargestellt habe in meinem Buch << Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>> und in meiner <<Geheimwissenschaft>>. Geradeso, wie aus den gewöhnlichen Alltagsbetätigungen der menschlichen Seele zuletzt das reine Denken hervorgeht, zu dem man keine besondere Schulung braucht, kann man, wenn man diesen Vorgang weiter ausbildet, zu dem kommen, was ich in dem genannten Buch und im zweiten Teil meiner <<Geheimwissenschaft>> die Stufen der höheren Erkenntnis - also Imagination, Inspiration, Intuition - genannt habe. Was sich im reinen Denken äußert, das wird uns Menschen einfach eigen dadurch, daß wir geboren sind; es ist uns in unserem jetzigen Stadium der Menschheitsentwicklung vererbt." (S. 300 f)<<

Letztendlich, so meine ich, ist die rhetorische Überhebung und Überhöhung des intuitiven Denkens durch zahlreiche Anhänger Steiners in hohem Maße eine Maskierung von Unaufgeklärtheit, und trägt, wenn all das auch nicht weiter erhellt wird, dazu bei, daß dieses Denken vollends vom Horizont der Sichtbarkeit verschwindet. Irgendwie erinnert das ganz eigentümlich an die Vorgehensweise Kants, wenn dieser seinen Lesern einen göttlichen, auf das Wesen der Erscheinungswelt gerichteten Verstand vor Augen führt, um sie dann mit der Bemerkung, der liege aber dummerweise jenseits ihrer Fähigkeiten, wieder zu frustrieren.

Leser, die sich gern eingehender mit Steiners philosophischen Zeitgenossen und mit den Hintergründen von Steiners Konzept der übersinnlichen Wahrnehmung befassen möchten, seien bei dieser Gelegenheit an eine aufschlussreiche Arbeit von Johannes Volkelt verwiesen. (Johannes Volkelt, Über die logischen Schwierigkeiten in der einfachsten Form der Begriffsbildung, in, Philosophische Monatshefte 1881, III, S. 129-150. Die Lektüre von Volkelts Arbeit ist eine überaus lohnende Sache.

Volkelt setzt sich in dem genannten Aufsatz in einer anspruchsvollen, gut verständlichen, reich mit Beispielen illustrierten und angenehm lesbaren Weise mit der Frage auseinander, wie wir denn einen Begriff überhaupt denken und welchen logischen Forderungen dieses begriffliche Denken genügen müsse. Und er stellt fest, dass nur ein intuitiver Verstand in der Lage sei, diese Forderung zu erfüllen. Dies bereits in der einfachsten Form des begrifflichen Denkens. Nun ist dieser intuitive Verstand in der Kantschen Philosophie nichts anderes als das Vermögen zur übersinnlichen Wahrnehmung. Rudolf Steiner spricht in Wahrheit und Wissenschaft (siehe oben) gegen Ende von Kapitel IV (S. 60) von der intellektuellen Anschauung, die in jedem reinen Denkvorgang gegeben sei, was nichts anderes ist als jenes Vermögen des intuitiven Verstandes, von dem Volkelt und Kant sprechen. Volkelt folgert entsprechend in seinem Aufsatz ganz explizit, dass schon die einfachste Form des begrifflichen Denkens den Forderungen der übersinnlichen Wahrnehmungen genügen müsse. Und dies - das ist besonders zu betonen - ist auch die Meinung Steiners, nicht nur in Wahrheit und Wissenschaft, sondern auch in der Philosophie der Freiheit, wie ich hier versuchte zu demonstrieren.

Ausführlicher noch äussert sich Volkelt zu diesem Thema in seinem auch von Steiner in den Frühschriften gründlich verwendeten Werk Erfahrung und Denken, Leipzig 1886. Siehe dort das Kapitel Der Begriff als unvollziehbare Forderung und die subjektiven Bestandteile des Begriffs. (S. 336 ff) Dort findet sich auch explizit (u. a. S. 346, 347) der Terminus "intuitives Denken" (!)

Volkelt hält diesen intuitiven Verstand bzw das intuitive Denken in Grenzen durchaus für realisierbar, schreckt allerdings vor der empirischen Faktizität des intuitiven Verstandes noch etwas zurück, weil er sich nicht recht vorstellen kann, wie so etwas denk- und bewusstseinsphänomenologisch aussehen könnte, obwohl es in seinen Augen eine notwendige logische Forderung des Denkens ist. Angesichts dieser Umstände ist es einer Erwähnung wert, dass die Würzburger Schule um Oswald Külpe etliche Jahre später in den auf meiner Website häufiger erläuterten denkpsychologischen Untersuchungen Karl Bühlers herausgefunden hat, dass dieser intuitive Verstand - sie nennen es anschauungsloses Denken - eine sehr auffällige und weit verbreitete Erscheinung des Denkens ist. Was auch zeigt, dass die empirische Wirklichkeit des Denkens oft weit über das hinausgeht, was sich der von dieser Empirie relativ wenig berührte Begriffslogiker vorzustellen vermag. Mit nur logischen Überlegungen ist über die Wirklichkeit des Denkens eben nur sehr bedingt und in vergleichsweise engen Grenzen etwas auszusagen - was ja von jeder Erfahrungswirklichkeit gilt. Was allerdings dort von den Würzburgern nicht geleistet wird ist eine explizite, sachliche und auch terminologische Bezugnahme auf Volkelts mehr logische Problemstellung. Das könnte eine sehr fruchtbare Aufgabe anthroposophischer Wissenschaftler sein.

Wenn Sie als Leser ein Interesse an methodischen Fragen und Problemstellungen der Beobachtung des Denkens haben, können Sie sich anhand der Volkeltschen Überlegungen ein Bild davon machen, mit welchen Fragestellungen es die zeitgenössische Philosophie hinsichtlich dieser Beobachtung zu tun hatte. Denn begriffstheoretische respektive begriffslogische Untersuchungen gehören natürlich zum Fragekreis einer Beobachtung des Denkens dazu. Man könnte sie mit guten Gründen sogar als einen oder vielleicht sogar den essentiellen Teil dieser Beobachtung bezeichnen. Volkelt ist insofern ein besonders geeigneter Vertreter dieser wissenschaftlichen Beobachter des Denkens, weil er nicht nur ein abstrakt philosophisches oder metaphysisches Interesse am Denken hatte, sondern auch als Erkenntnistheoretiker stets ausgesprochen empirisch in seinen Gedankengängen orientiert war. Das können Sie bei ihm in jeder Zeile seiner Ausführungen herauslesen. Bei ihm liegt indessen der Akzent der erwähnten Untersuchung bei aller empirischen Orientierung auf der Theorie des Begriffs und des begrifflichen Denkens. Während Bühler in seinen Untersuchungen nicht von der Frage ausging: Welches ist die richtige oder angemessene Theorie des Begriffs?, sondern: Was geschieht eigentlich und wie stellt es sich bewusstseinsphänomenologisch dar, wenn wir begrifflich denken? Die Sichtweisen und Fragestellungen Volkelts und Bühlers sind, wie sich versteht, zwei notwendige Seiten derselben Münze. Beide Ansätze freilich gehen aus vom status quo eines mehr oder weniger normalen Denkens, wie es sich eben im Alltagsgebrauch findet. Das Potential eines willentlich geschulten und spezifisch geübten und verstärkten Denkens gehört nicht zu ihrem expliziten Fragekreis, wenn es auch gelegentlich von beiden unterschwellig angedeutet wird. Und man kann sich nun ganz selbstverständlich und in der sachlogischen Verlängerung von Volkelts und Bühlers Forschungsakzenten die Frage vorlegen: Welchen Einfluss wird denn ein Übungsweg wie der anthroposophische auf die Bewusstseinsphänomenologie einerseits und auf die Begriffstheorie andererseits haben, wenn man ihn konsequent anwendet und geht?

Als Studienhilfe für die Forschungsfragen der Würzburger Schule siehe die ausgezeichnete Sammlung von klassischen Originalaufsätzen Bühlers, Külpes und anderen von Paul Ziche, Hgr., Introspektion. Texte zur Selbstwahrnehmung des Ichs. Springerverlag, Wien, New York, 1999. Einen vorzüglichen Überblick zu den Forschungsfragen des Denkens, auch über das oben erörterte reine oder sinnlichkeitsfreie Denken, aus denkpsychologischer Sicht bietet darin der Aufsatz von Oswald Külpe aus dem Jahre 1912, Über die moderne Psychologie des Denkens, S. 44 ff. (Im Original inzwischen auch zu finden als Anhang in Külpes Vorlesungen über Psychologie, herausgegeben von Karl Bühler, S. 297 ff

Siehe zu diesem Thema auch meinen Beitrag dazu hier, dort das Kapitel 5, Oswald Külpe und die Entdeckung des intuitiven Denkens.

Ende

Anmerkungen

1 Jost Schieren, Anschauende Urteilskraft. Methodische und philosophische Grundlagen von Goethes naturwissenschaftlichem Erkennen. Parerga Verlag Düsseldorf und Bonn 1998, ISBN 3-930450-27-5

2 Siehe hierzu auch Jakob Barion, Die intellektuelle Anschauung bei J. G. Fichte und Schelling und ihre religionsphilosophische Bedeutung. In: Abhandlungen zur Philosophie und Psychologie der Religion, herausgegeben von D. Dr. Georg Wunderle, Heft 22, Würzburg 1929, S. 41 f.

3 Sergej o. Prokofieff, Anthroposophie und «Die Philosophie der Freiheit», Dornach 2006.

4 Rudolf Steiner, Goethe als Vater einer neuen Ästhetik, in: GA-30, Dornach 1989, S. 30 f.

5 Johann Wolfgang von Goethe, Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 13, München 1975, S. 37.

6 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, neu herausgegeben von Raymund Schmidt, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1976, S. 94.

7 Johann Wolfgang von Goethe, Anschauende Urteilskraft, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 13, München 1975, S. 30 f.

8 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Herausgegeben von Karl Vorländer, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1974.

9 Siehe hierzu den § 10 in Kants Dissertatio, Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen, in: Wilhelm Weischedel (Hgr), Immanuel Kant Werkausgabe V, Schriften zur Metaphysik und Logik 1, S. 41ff.

10 Siehe hierzu auch den immer noch lesenswerten Überblicksartikel von Jakob Barion, Die intellektuelle Anschauung bei J. G. Fichte und Schelling und ihre religionsphilosophische Bedeutung. In: Abhandlungen zur Philosophie und Psychologie der Religion, herausgegeben von D. Dr. Georg Wunderle, Heft 22, Würzburg 1929. Zu Kant Insbesondere S. 17 ff.

11 Johann Wolfgang von Goethe, Anschauende Urteilskraft, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 13, München 1975, S. 30 f

12  Rudolf Steiner, Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, GA-01, Dornach 1973.

13 Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, GA-02, Dornach 1979.

14 Rudolf Steiner, Goethes Weltanschauung, GA-06, Dornach 1979.

15 Rudolf Steiner, Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer «Philosophie der Freiheit», Erstauflage 1892, GA-03, Dornach 1980.

16 Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Erstauflage Berlin 1894, GA-04, Dornach 1978.

17 Christoph Gögelein, Zu Goethes Begriff von Wissenschaft, 1972, S. 192.

18 Goethes Naturwissenschaftliche Schriften (GA-01), Dornach 1973, S. 146 ff.

19 GA-02, Dornach 1979, insbesondere S. 33 ff.

20 So etwa in den Einleitungen in Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, GA-1, Dornach 1973, S. 125 f.: "Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muß ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen, die über die bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte des Denkens sind aber die Ideen. Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen. Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung wie das Auge dem Lichte, das Ohr dem Ton gegenüber. Es ist Organ der Auffassung."

Ebendort, S.126: "Das objektiv Gegebene deckt sich durchaus nicht mit dem sinnlich Gegebenen, wie die mechanische Weltauffassung glaubt. Das letztere ist nur die Hälfte des Gegebenen. Die andere Hälfte desselben sind die Ideen, die ebenso Gegenstand der Erfahrung sind, freilich einer höheren, deren Organ das Denken ist."

Ebendort, S. 164: "Der Ideengehalt der Welt ist auf sich selbst gebaut, in sich vollkommen. Wir erzeugen ihn nicht, wir suchen ihn nur zu erfassen. Das Denken erzeugt ihn nicht, sondern nimmt ihn wahr. Es ist nicht Produzent, sondern Organ der Auffassung."

Sowie in GA-2, Dornach GA-2, 1979 S. 78: "Der Geist nimmt also den Gedankengehalt der Welt wahr, wie ein Auffassungsorgan. Es gibt nur einen Gedankeninhalt der Welt. Unser Bewußtsein ist nicht die Fähigkeit, Gedanken zu erzeugen und aufzubewahren, wie man so vielfach glaubt, sondern die Gedanken (Ideen) wahrzunehmen."

In der Philosophie der Freiheit erscheint dieses Wahrnehmungsvermögen einerseits im Begriff der Intuition, der in der Schrift Von Seelenrätseln (GA-21, Dornach 1976, S.61 ) präzisiert wird, „als die Offenbarung eines Geistig-Wirk­lichen, wie die Wahrnehmung als diejenige des Stofflich Wirklichen.“ Ferner dort (GA-04) auf S. 132 f in Bemerkung, daß die gewöhnliche Sinneswahrnehmung nur ein Spezialfall von Wahrnehmung überhaupt sei.

21 Ich muß hier übrigens darauf aufmerksam machen, daß es mir hier nicht nebenher um eine Analyse der Kantschen Erkenntnistheorie geht, sondern um ein überblicksartiges Nachzeichnen dessen, was sich bei Steiner mit dem Begriff des intuitiven Denkens verbindet. Ein gründlicher Vergleich zwischen Steiner und Kant müßte natürlich viel sorgfältiger vorgehen, als es hier möglich ist.

22 Vor diesem Hintergrund ist erneut auf Steiners Hinweis in der Schrift Von Seelenrätseln (GA-21, Dornach 1976, S. 170 f) aufmerksam zu machen, wo er der Untersuchung des reinen Denkens (er spricht hier von der Veranlagung zum Schauen) in einem psychologischen Laboratorium eine so entscheidende Rolle beilegt. Man kann das nicht genug unterstreichen, denn der Begriff des reinen Denkens scheint mir einer der unklarsten in der anthroposophischen Bewegung überhaupt. Und bewußtseinsphänomenologisch aufgehellt und anschaulich gemacht werden kann er eigentlich nur auf der Grundlage von denkpsychologischen Untersuchungen. Die aber fehlen bei Rudolf Steiner nahezu vollständig.

        


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