Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Wie denkt man einen Denkakt?

Bemerkungen zu Lindenbergs Kritik an Witzenmanns Denken des Denkaktes

Teil II

(Stand 19.06.17)

IV.

Nun dient Lindenberg die zitierte Vortragspassage als Anlaß, eine kriti­sche Offensive gegen Herbert Witzenmann zu führen. Denn dieser habe ganz offensichtlich eben das tun wollen, was Steiner laut Vortragsmit­schrift ausschließt - nämlich das Denken denken. Genauer: den Denkakt. So kritikwürdig die von Witzenmann vorgelegte und von Lindenberg be­mängelte Überlegung im einzelnen sein mag, so wenig geeignet ist Lin­denbergs Versuch, das erwähnte Vortragszitat gegen Witzenmann zu in­strumentalisieren. Weil aus dem Vortragsausschnitt selbst gar nicht deut­lich wird, was Steiner dort genau meint, und seine ungeklärte und un­kommentierte Verwendung einer reinen Willkürinterpretation gleich­kommt, die jede kritische Besonnenheit vermissen läßt.

Es empfiehlt sich, den von Lindenberg zum Anlaß der Kritik genomme­nen Gedankengang Witzenmanns einmal in Augenschein zu nehmen. Witzenmann schreibt in seinem Aufsatz Intuition und Beobachtung in: Die Drei, Bd. 18, Jg. 1948 S. 40: "Der Denkakt kann als ein Hervorbrin­gen selbst nur ein Hervorgebracht-Gegebenes sein. Damit er Bewußt­seinsinhalt sei, muß ich ihn selbst zum inhaltlichen Ergebnis eines auf ihn abzielenden Aktes machen. Ich muß also den (zur Hervorbringung ei­nes zuvor gedachten Begriffs erforderlichen) vorangehenden Denkakt denken. Dies aber bedeutet das Denken eines bestimmten Inhaltes, sein Hervorbringen durch einen ihm zugeordneten Akt. Inhalt ist aber dann, was zuvor einen Inhalt hervorgebracht hat. Es wird also ein Inhalt ge­dacht, der einen Denkinhalt hervorbringt (denn das Hervorbringen gehört ja zum Wesen des Aktes). Ich bringe also einen Akt durch einen Akt als dessen Inhalt hervor."

Unter dem "Denkakt" versteht Herbert Witzenmann die "(Denk-)Tätig­keit", beziehungsweise den "Vollzug" des Denkens (S. 38), - also im en­geren und eigentlichen Sinne seine Aktivität und damit einen Aspekt des gegenwärtigen, weil in Aktion befindlichen Denkens. Von dieser Aktivi­tät als spezifischer Äußerungen der Persönlichkeit unterscheidet er (S. 38 f) den (begrifflichen) Inhalt des Denkens. Die Unterscheidung selbst wird uns weiter unten erst beschäftigen. Damit nun der Vollzug respekti­ve die Aktivität "Bewußtseinsinhalt sei", so sagt er, will er den Denkakt in einem zweiten Denkakt denken.

Dieser Gedankengang Witzenmanns enthält implizit wie in einem Brenn­punkt die ganze Problematik der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens aus dem dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit, Witzen­manns Verständnis dieses Sachverhaltes, sowie den Kern seiner Lösungs­bemühungen, die ihn bis in sein hohes Alter beschäftigt haben. Und er ist in der Tat sehr sonderbar.

Drei Fragen, die für uns hier vor allem wichtig sind, lauten:

Erstens: Welchen Bewußtseinsstatus hat die Denktätigkeit, bevor sie durch den zweiten Denkakt gedacht wird?

Zweitens: Wie gelangt der zweite Denkakt zum ersten?

Und drittens: Wie kommt Witzenmann angesichts der genannten Rah­menumstände überhaupt zu einem sinnhaltigen Begriff des Denkaktes?

Mir scheinen die Fragen deshalb angebracht, weil Witzenmann hier in ei­nem generellen Sinn von Bewußtseinsinhalt spricht und auch im sachli­chen Kontext keine weiteren Formen oder Grade von Bewußtheit an­führt, die auf die Denkaktivität sonst noch zutreffen könnten. Wenn aber der Denkakt erst dann Bewußtseinsinhalt ist, wenn ich ihn in einem zwei­ten Denkakt denke, dann heißt das im Umkehrschluß: Er war, als ich ihn ausübte, noch kein Bewußtseinsinhalt. - Ich hatte von meiner ureigensten Tätigkeit, während ich sie vollzog, kein Bewußtsein. Das gilt entspre­chend auch vom zweiten Denkakt, mit dem ich den ersten denken soll. Ich denke dann einen Denkakt, der kein Bewußtseinsinhalt war durch ei­nen Denkakt, der kein Bewußtseinsinhalt ist. Wie aber komme ich bei dieser Lage der Dinge überhaupt auf die Idee meinem individuellen Ich die Aktivität zuzuschreiben? Worauf könnte sich eine solche Annahme stützen? Wäre es da nicht weitaus sinnvoller, das Erscheinen von Gedan­ken oder Vorstellungen an eine andere, unbekannte und unbewußte In­stanz zu delegieren, etwa nach dem Vorbild von Steiners Zeitgenossen Eduard von Hartmann, der in diesem Zusammenhang auch auf den Be­griff des "Unbewußten" zurückgreift? Denn daß ich derjenige bin, der sie aktiv herbeiruft, dafür habe ich unter den von Witzenmann genannten Bedingungen gar keinen Anhalt. Eine Assoziationspsychologie steht dann allemal besser da, denn sie kann wenigstens halbwegs plausible Er­klärungen vorweisen, warum Denkinhalte auftauchen, während ich in der von Witzenmann gekennzeichneten Situation vergeblich nach Gründen dafür suche, warum gerade ich derjenige sein soll, der für dieses Erschei­nen sorgt.

(Eine vom Resultat her vergleichbare Gedankenfigur findet sich bei Georg Kühlewind, der ähnlich wie Witzenmann behauptet, man könne auf den eigentlichen Denkakt mittelbar zurückschließen - vom Gedachten auf die Denktätigkeit. Eine unmittelbare Erfahrungstatsache sei er aber in aller Regel nicht. Näheres dazu siehe hier .)

Offenbar hat sich Witzenmann niemals mit Steiners erkenntnistheoreti­scher Grundschrift Wahrheit und Wissenschaft (GA-3) aus dem Jahre 1892 befaßt, wonach laut Kapitel IV das Hervorbringen von Begriffen und Ideen, d.h. die Tätigkeit des Denkens unmittelbar gegeben, und das wiederum heißt: erlebt sein muß. So schreibt Steiner dort gegen Ende des Kapitels (S. 59):

"Wir wollen nun an unsere Forderung näher herantreten. Wo finden wir irgend etwas in dem Weltbilde das nicht bloß ein Gegebenes, sondern das nur insofern gegeben ist, als es zugleich ein im Erkenntnisakte Hervorge­brachtes ist ? [] Wir müssen uns vollständig klar darüber sein, daß wir dieses Hervorbringen in aller Unmittelbarkeit wieder gegeben haben müssen. Es dürfen nicht etwa Schlußfolgerungen nötig sein, um dasselbe zu erkennen. Daraus geht schon hervor, daß die Sinnesqualitäten nicht unserer Forderung genügen. Denn von dem Umstande, daß diese nicht ohne unsere Tätigkeit entstehen, wissen wir nicht unmittelbar sondern nur durch physikalische und physiologische Erwägungen. Wohl aber wis­sen wir unmittelbar, daß Begriffe und Ideen immer erst im Erkenntnisakt und durch diesen in die Sphäre des Unmittelbar-Gegebenen eintreten. Daher täuscht sich auch kein Mensch über diesen Charakter der Begriffe und Ideen. Man kann eine Halluzination wohl für ein von außen Gegebe­nes halten, aber man wird niemals von seinen Begriffen glauben, daß sie ohne eigene Denkarbeit uns gegeben werden. Ein Wahnsinniger hält nur Dinge und Verhältnisse, die mit Prädikaten der «Wirklichkeit» ausgestat­tet sind, für real, obgleich sie es faktisch nicht sind; nie aber wird er von seinen Begriffen und Ideen sagen, daß sie ohne eigene Tätigkeit in die Welt des Gegebenen eintreten."

Die Schlüsselaussage hier lautet: "Wir müssen uns vollständig klar dar­über sein, daß wir dieses Hervorbringen in aller Unmittelbarkeit wieder gegeben haben müssen. Es dürfen nicht etwa Schlußfolgerungen nötig sein, um dasselbe zu erkennen." Das Erleben der eigenen Denktätigkeit wird hier von Steiner als etwas so Banales und Alltägliches angesehen, daß er nicht einmal einem Wahnsinnigen zutraut, ihn übersehen zu kön­nen. Während Witzenmann überhaupt nicht auf die Idee zu kommen scheint, daß dies möglich sei, sondern ihn wie gesagt oben nur über Fol­gerungen erschließt. Folglich exakt das Gegenteil von dem tut und be­hauptet, was Steiner in Wahrheit und Wissenschaft verlangt und als selbstverständlich ansieht. Das wird sich auch in Witzenmanns Neufas­sung des Aufsatzes aus den 1970er Jahren nicht ändern, von dem im letz­ten Teil unserer Studie die Rede sein wird. Offensichtlich, so ist zu ver­muten, kannte Witzenmann die entsprechenden Texte der Steinerschen Grundschriften entweder gar nicht, oder nur derart flüchtig, daß er nie auf die zitierte Aussage Steiners gestoßen ist. Von einer ernsthaften for­schungsbezogenen Arbeit kann bei dem besagten Aufsatz Intuition und Beobachtung folglich nicht die Rede sein, was sich in der später überar­beiteten Fassung ebenfalls nicht ändert.

Nun ist allerdings nicht nachvollziehbar, warum der Denkakt erst dann Bewußtseinsinhalt sein sollte, wenn ich ihn zum inhaltlichen Ergebnis ei­nes auf ihn abzielenden Aktes mache. Sachlich trifft das doch in keiner Weise zu. Daß wir in der Regel nicht auf unsere Denktätigkeit achten, sondern das Interesse auf die Inhalte oder die Gegenstände des Denkens richten, liegt nicht etwa daran, daß die Denkaktivität als solche kein Be­wußtseinsinhalt ist, sondern lediglich daran, daß uns die eigene Aktivität des Denkens als Erkenntnis- und Erlebnisgegenstand momentan nicht in­teressiert. Tatsächlich sind wir uns dieser unserer Tätigkeit unmittelbar bewußt, sobald wir überhaupt begonnen haben ein gründlicheres Augen­merk darauf zu richten. Jeder, der sich praktisch mit meditativen Gedan­kenübungen befaßt hat, wird mir das bestätigen. Mit ein wenig Übung weiß man auf Grund der unmittelbaren Erfahrung sehr genau zu unter­scheiden, welche Bewußtseinsinhalte Resultat eigener Aktivität sind, und welche gleichsam wie von selbst angeflogen kommen. Die Unterschei­dung selbst wird gewiß vom Denken getroffen, aber getroffen wird sie auf der Grundlage tatsächlicher Erfahrungen der Denkaktivität. Ohne die­sen empirischen Unterbau realer Akt-Erfahrung wären wir gar nicht in der Lage, zwischen aktiv hervorgebrachten Gedanken oder Bewußt­seinsinhalten und fremdgegebenen zu differenzieren. Assoziationen, spontane Einfälle, unwillkürliche Phantasiegebilde und Halluzinationen sind eben nicht aktiv hervorgebracht. Das spontan auftretende Phantasie­bild einer Flußlandschaft könnte ich dem Inhalte nach jederzeit auch willkürlich hervorbringen. Daß es nicht willkürlich hervorgerufen wurde weiß ich ganz genau und ausschließlich deswegen, weil ich an seiner Er­scheinung nicht beteiligt war. Ich weiß es, weil der dazu notwendige Ent­schluß und meine erforderliche Aktivität nicht vorhanden waren.

Es gibt einen gravierenden qualitativen Unterschied in der Art und Wei­se, wie ich das Erscheinen von Bewußtseinsinhalten erlebe, der mich im Fall des Phantasiebildes in die Lage versetzt zu beurteilen, ob es seine Bewußtseinsanwesenheit meiner Aktivität verdankt oder anderen Ursa­chen. Ich kann zum Beispiel in seinem Fall ganz nach Belieben das Ar­rangement von Details verändern, kann Ausschnitte vergrößern und ver­kleinern, die Farben variieren, die Szene aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, es auf den Kopf stellen wenn ich will, zeitlich nach eigenem Ermessen darauf verweilen, es willkürlich ein- und ausblenden und so weiter und so fort. All das setzt einen entsprechenden Entschluß voraus, den ich mit entsprechendem Aufwand versuche in die Tat umzusetzen. Ich gebe dann meinem Willen eine spezifische, neue Richtung und reiße mich von anderem los, was ohne diesen Entschluß einen anderen Verlauf genommen hätte. Dieses Losreißen und Umdirigieren kostet mich – je nach Umständen mehr oder weniger - Kraft, die ich nicht benötigt hätte, wenn die Dinge im Bewußtsein so weitergelaufen wären wie sie im Mo­ment meiner Entscheidung veranlagt waren. Darüber hinaus spüre ich meine Tätigkeit nicht nur am positiven Fortlaufen des Bewußtseinspro­zesses im Sinne meines Denkzieles, sondern nicht weniger auch an den merklichen Widerständen, die ich bei diesem Vorhaben überwinden muß, denn zumeist klappt ein solches Hervorrufen nicht immer auf Anhieb und in flüssiger Eleganz, sondern die Vorstellung entgleitet mir oft in Details oder vollständig, so daß ich sie neu beleben und mich innerlich neu dar­auf einjustieren muß. Oder sie will partout nicht die Gestalt und Farbe annehmen, die ich haben will, weil es mir an Energie fehlt, dies in Vor­stellungskraft umzusetzen. Schließlich tritt nach einer gewissen Zeit im­mer auch Ermüdung ein, ein Nachlassen der inneren Spannkraft und an­derweitige Ablenkung, die sich meinem Bemühen widersetzen. Verbun­den ist der ganze Vorgang regelmäßig mit entsprechenden, oft nur unterschwellig wahrgenommenen, Begleitaktivitäten - etwa Augenbewe­gungen im vorliegenden Fall - , so, als ob ich meinen Blick durch eine wirkliche Landschaft schwenken würde. Gefühle der Zufriedenheit und Erleichterung oder der Frustration stellen sich ein, je nachdem, ob mein Vorhaben erfolgreich ist oder mein Aufwand vergeblich. Und ich wäre wohl ziemlich erschrocken, wenn sich all das nach einer ähnlichen Cho­reographie in allen Einzelheiten und in derselben Plastizität ohne jedes Zutun meinerseits und ohne die Widerstandserfahrungen plötzlich in mir abspielen würde. Dann hätte ich womöglich Visionen oder Halluzinatio­nen und der Gang zum Psychiater oder Neurologen wäre im Wiederho­lungsfall vielleicht eine meiner nächsten Aktionen.

Was hier in Bezug auf eine willkürlich hervorgebrachte Phanatsievorstel­lung gesagt wurde, gilt im Grundsatz auch für ein rein begriffliches Den­ken, wo wir im Erlebniszusammenhang ganz analoge Aktivitätserfahrun­gen machen, und deswegen auch aus diesem Zusammenhang heraus be­urteilen können, ob ein Gedanke eigenem Tun entspringt oder mehr von anderswo herkommt, was übrigens eine sehr ernüchternde Erfahrung sein kann. Das entschlossene Ergreifen eines bestimmten Gedankens, das Sich-Durchsetzen-Müssen gegen Widerstände aller Art, die geordnete und sachlogische Abfolge eines Gedankenverlaufs, sie sind stets mit dem Erleben eigener Tätigkeit verbunden, auch wenn wir auf diese Tätigkeit selbst normalerweise keinen weiteren Gedanken verwenden. In aller Re­gel müssen wir uns mehr oder weniger konzentrieren und vermehrt Ener­gie einsetzen, um zu Details eines Gedankens vorzustoßen, die nicht gleich sichtbar sind. Man kann auch sehr deutlich bemerken, wenn sich in den willentlich-logischen Denkverlauf rein assoziative Elemente ein­mischen – was häufiger geschieht als uns oft lieb ist – weil für den Au­genblick die eigene Aktivität und Wachheit zurückgedämmt ist und unse­re Passivität die Oberhand gewinnt. Eingebettet ist auch die begriffliche Aktivität in unterschwellig wahrgenommene Begleitaktivitäten wie etwa Augenbewegungen, Bewegungsempfindungen im Bereich des Hauptes, Muskelspannungen aller Art und Konzentrationsempfindungen im Be­reich des Magen-Brustraumes bis hin zum Schultergürtel, was allerdings nicht für jeden in gleicher Weise zutreffen muß. Mit modernen bildge­benden Verfahren der medizinischen oder neurophysiologischen Dia­gnostik dürfte es nebenbei gesagt kein allzu großes Kunststück sein, aus­geprägte Unterschiede in den physologischen Korrelaten meiner Aktivität oder Nicht-Aktivität deutlich zu machen. Der philosophische Erklärungs­wert solcher Verfahren mag auf einem anderen Blatt stehen. Was ich mit dem Hinweis darauf lediglich illustrieren will, ist: Unser ganzes Lebens­gefühl und Lebensgefüge ist auf charakteristische Weise anders, je nach­dem ob wir selbst gedanklich aktiv etwas bewirken, oder nur Wirkungen über uns ergehen lassen.

Im Prinzip also, das sollte mit dieser noch kaum ins Feine gearbeiteten Skizze gezeigt werden, ist die Unterscheidung nach Eigenaktivität immer möglich. Und das nur, weil wir diese Aktivität unmittelbar erleben. Sie verlangt von uns Motivation, Anstrengung, Energie, Konzentration, inne­re Sammlung, Aufmerksamkeit, Entschlußkraft, Zielstrebigkeit, Selbstbe­herrschung, Entsagung, Beharrlichkeit, Ausdauer und was es an charakte­risierenden Namen und Eigenschaften sonst noch dafür geben mag. - Sie hat auf jeden Fall in hohem Maße etwas mit unserem Willen zu tun. Und wir erleben auch sehr genau wenn diese Eigenaktivität nachläßt - gewis­sermaßen einschläft - und sich Inhalte des Bewußtseins ohne unser Zutun einstellen und wir mehr oder weniger nur noch Zuschauer sind bei dem, was sich da abspielt. Gerade weil wir regelmäßig ein beträchtliches Maß an Seelenenergie aufwenden, weil wir uns mächtig ins Zeug legen und regelrechte Kämpfe durchfechten müssen um endlich den Kopf frei zu bekommen, wie man so sagt; weil wir Kraft investieren um all das zu­rückzudrängen, was sich ungerufen, unerwünscht und unerwartet von von selbst im Bewußtsein breit macht, verfügen wir auch über eine un­mittelbare Erfahrungsgrundlage für unsere Aktivität des Denkens. Diese unmittelbar erlebte Aktivität ist überhaupt die empirische Basiserfahrung, auf die sich jede Unterscheidung zwischen tätigem Denken und fremdge­gebenen Bewußtseinsinhalten stützt. Wäre uns diese Eigenaktivität nicht unmittelbar bewußt, so könnten wir folglich auch eine derartige Unter­scheidung gar nicht wirklich treffen.

Im Kapitel IX der Philosophie der Freiheit, im Zusatz von 1918, skiz­ziert Steiner (S. 146 f) zwei Phasen oder Wirksamkeitsrichtungen der Denktätigkeit im Verhältnis zur leiblich-seelischen Organisation des Menschen: Eine, die das Erscheinen des Denkens vorbereitet, und das begriffliche Denken im engeren Sinne. Beide zusammen aber werden als Wirkung der Denktätigkeit selbst aufgefaßt. Er schreibt (S. 147): "Diese [leiblich-seelische Organisation des Menschen, MM] bewirkt nämlich nichts an dem Wesenhaften des Denkens, sondern sie weicht, wenn die Tätigkeit des Denkens auftritt, zurück; sie hebt ihre eigene Tätigkeit auf, sie macht einen Platz frei; und an dem freigewordenen Platz tritt das Denken auf. Dem Wesenhaften, das im Denken wirkt, obliegt ein Dop­peltes: Erstens drängt es die menschliche Organisation in deren eigener Tätigkeit zurück, und zweitens setzt es sich selbst an deren Stelle. Denn auch das erste, die Zurückdrängung der Leibesorganisation, ist Folge der Denktätigkeit. Und zwar desjenigen Teiles derselben, der das Erscheinen des Denkens vorbereitet."

Steiners Kennzeichnung wirft hier ein bemerkenswertes Licht auf ver­schiedene Wirkebenen der Denkaktivität: Danach ist der Denkakt durch­aus nicht so eng und ausschließlich mit dem Hervorbringen begrifflicher Inhalte verknüpft wie es von Witzenmann gesehen wird, und wie er es noch stärker in der überarbeiteten Fassung seines Aufsatzes von 1977 (S. 80) betonen wird, sondern der Denkakt setzt Steiners Beschreibung ge­mäß bereits ein, bevor überhaupt ein spezieller begrifflicher Inhalt ge­dacht wird. Denkaktivität ist nicht nur vorhanden wenn und indem wir begriffliche Inhalte denken, sondern auch davor und - so muß man hinzu­fügen – daneben und in gewisser Hinsicht auch danach. Denken ist nicht nur "das Denken eines bestimmten Inhalts", wie es Witzenmann 1977 (S. 80) formuliert, sondern seine Aktivität hat verschiedene Wirksamkeits­richtungen oder -dimensionen. Und eine davon besteht speziell im Er­scheinen-Lassen gedanklicher Inhalte. Die andere besteht darin, die leib­lich-seelische Organisation in ihrer Eigenwirksamkeit zurückzudrängen. Letzteres geschieht sowohl auf einer leicht zugänglichen Ebene, als auch auf einer von etwas subtilerer Art, wobei ich die letztere hier nur im Rah­men einiger Anmerkungen streifen kann. 4 Gewöhnlich steht die zurück­drängende Wirksamkeit mit dem begrifflichen Denken in einem realen Prozeßzusammenhang. Sie läßt sich aber durchaus auch vom begriffli­chen Denken ablösen und isoliert davon handhaben, und darauf beruht ein beträchtlicher Teil des anthroposophischen Übungsweges in Form von Konzentrations- und Meditationsübungen.

Jeder, der mit Aufmerksamkeit auf sein Denken achtet, ist mit der zu­rückdrängenden Wirkung der Denkaktivität auf der mehr plakativen Ebe­ne auch bestens vertraut. Schon die einfachsten Denkübungen sind ein gutes Mittel näheres über die vorbereitende Phase der Zurückdrängung der leiblich-seelischen Organsation in Erfahrung zu bringen. Diese Stufe des Denkens beschäftigt uns nämlich oft am allermeisten - mehr oft als das eigentliche Durchdenken eines Gedankeninhalts selbst. Sie entspricht jenem Stadium, in dem wir unsere Energie gezielt darauf richten, das Be­wußtsein von allen frei vagabundierenden Vorstellungs- Phantasie- und Erinnerungsfragmenten, von unbestimmten Gefühlsfluktuationen, dem fortwährenden Geraune von Sinneswahrnehmungen und sich in den Vor­dergrund drängenden nur persönlichen Wünschen und Eigeninteressen jedweder Form gleichsam zu entrümpeln und den Freiraum zu gewinnen, in welchem wir uns in der nötigen Seelenruhe und Zurückgezogenheit ei­nem spezifischen Gedankeninhalt widmen können. Oft ist der Löwenan­teil unserer Denkaktivität nötig, um die Herrschaft im Bewußtseinsraum überhaupt erst einmal zu erreichen und alles Störende, Ungewollte und unwillkürlich Heranschießende von uns fern zu halten und die Eigendy­namik der leiblich-seelischen Organisation zu zügeln und zu bändigen. Und auch während des begrifflichen Denkens selbst dient neben der rein begrifflichen Arbeit ein mehr oder weniger großer Anteil unserer Denkaktivität ausschließlich dem bloßen Erhalt dieser Souveränität. Läßt diese Aktivität nach, so finden wir uns unversehens auf sachfremden Ge­dankenwegen wieder, hängen Phantasien und Tagträumen nach, werden unaufmerksam, unkonzentriert und abgelenkt und verlieren schlicht den Faden.

Wer mit dem anthroposopischen Übungsweg vertraut ist, dem erzähle ich sicherlich nichts Neues, wenn ich darauf hinweise, daß ein guter Teil die­ses Übungsweges schwerpunktmäßig darauf gerichtet ist, dieses Zurück­drängen der leiblich-seelischen Organisation systematisch zu schulen und unsere dahingehenden Kräfte zu stärken, zum Teil ganz unabhängig vom Durchdenken spezieller Inhalte, etwa bei reinen Willensübungen. Was die Abkoppelung der Denktätigkeit vom rein begrifflichen Denken be­trifft, so läßt sich etwa die von Steiner vielfach zu Übungszwecken an­empfohlene Form der Sinnbildmeditation als Beispiel dafür anführen. Diese Meditationen sind im Sinne der obigen Kennzeichnung aus der Philosophie der Freiheit Denkakte. Ihre Eigenart beruht ja darauf, daß während der Meditation kein begifflich-logischer Denkprozeß vollzogen wird, sondern der Meditierende in voller Konzentration nur auf dem ent­sprechenden Sinnbild verweilt - zum Beispiel dem des Rosenkreuzes aus Steiners Geheimwissenschaft im Umriß, 5 das der Meditierende vorher entsprechend begrifflich aufgebaut hat. Dieses Verweilen setzt ebenso wie ein rein begrifflicher Denkakt voraus, daß die leiblich-seelische Or­ganisation vorher zurückgedrängt und zur Ruhe gebracht ist und die Auf­merksamkeit nur noch dem Sinnbild selber gilt. Andernfalls ist dieses konzentrierte Innehalten und Verharren auf der Vorstellung nicht mög­lich. Bei Sinnbildern findet sich dieses Zurückdrängen zusätzlich auch auf der inhaltlichen Seite durch die Art des Sinnbildaufbaues, wie Steiner in der Geheimwissenschaft (S. 307 ff) ausführt. Fallweise kann dieses Abkoppeln der Denkaktivität aber auch heißen, daß ich sie übungsweise exclusiv darauf verwende vollkommene Seelenruhe, Bewußtseinsleere und innere Sammlung herzustellen und rein gar nichts inhaltlich etwa im Sinne eines begrifflich-logischen Denkens oder einer Sinnbildvorstellung zu denken, sondern ausschließlich mit der von Steiner skizzierten Vorbe­reitungsphase befaßt bin. Und niemand, der dies alles durchexer­ziert hat, wird wohl der Auffassung sein, daß währenddessen seine Akti­vität kein Bewußtseininhalt sei. Sowohl diese Aktivität selbst, als auch ihre Wirkung, das Zurückweichen und Zur-Ruhe-Kommen der leiblich-seelischen Organisation in ihrer oft turbulent-tumultarischen Eigenmacht, ist unmittelbarer Erlebnisinhalt.

Christoph Lindenberg scheint mir hier auch nicht ganz klar zu sehen, wenn er auf S. 88 mehr nebenher unterscheidet zwischen dem "wirkli­chen Denken" und den "seelischen Anstrengungen um zum Denken zu kommen". Denn diese "seelischen Anstrengungen", soweit sie der Zu­rückdrängung der leiblich-seelischen Organisation dienen, gehören laut Steiners Kennzeichnung bereits zum "wirklichen Denken" dazu. Sie sind unmittelbare Folge meines Entschlusses zu denken. Sie gehen von dem­selben Ich aus, das auch im Denken tätig ist. Die Aktivität des Denkens beschränkt sich eben nicht nur auf das bloße Hervorbringen begrifflicher oder vorstellungsförmiger Inhalte sondern erstreckt sich auch auf all das, was vom denkenden Ich im Zusammenhang mit diesem Hervorbringen an zurückdrängender Kraft aufgewendet werden muß, damit Inhalte wil­lentlich, gezielt und sachgemäß zur Erscheinung gebracht werden kön­nen. Denken bedeutet eben auch: Sich autonom machen gegenüber der Eigenaktivität der leiblich-seelischen Organisation um nicht deren Eigen­gesetzlichkeit in Form von Wahrnehmungsofferten, Assoziationsketten, diffusen Gefühlsanwandlungen, dispositionellen Denkschemata und dunklen Bedürfnissen zu folgen, sondern den Gesetzen frei gewählter In­halte und Denkmotive. Schon im Denken selbst bekommt das Autono­miemotiv der Philosophie der Freiheit eine ganz handgreifliche und plas­tische Bedeutung. Freiheit im Denken ist durchaus kein abstrakter philo­sophischer Topos, sondern will sehr real erkämpft und durchlebt sein.

Die zurückdrängende Wirkung der Dekaktivität ist indessen nicht nur vor und während des Denkens vorhanden, sondern unter bestimmten Bedin­gungen auch danach. Das ist übrigens eine der interessantesten und be­merkenswertesten ihrer Eigenschaften. Es gehört sicherlich zu den schla­gendsten Erfahrungen, die man mit einer einfachen Gedankenübung ma­chen kann, daß sie einen befreienden Einfluß noch eine ganze Zeit beibe­hält, auch wenn sie längst abgeschlossen ist. Oft den ganzen Tag über, wenn auch nachlassend. Wem es erst einmal gelungen ist all dem äuße­ren und inneren Getriebe und Geschiebe mit einem entschlossenen "Jetzt ist aber Ruhe! --- Jetzt mach` ich mal!" Einhalt zu gebieten, sich für 10 oder 15 Minuten konzentriert, streng logisch-sachlich mit einem freige­wählten, völlig banalen Gedanken zu befassen, und das über einen länge­ren Zeitraum regelmäßig wiederkehrend betreibt, der merkt das sehr bald: Sein Verhalten wird anders. Sowohl in seiner Gesamtcharakteristik als auch in speziellen Stadien. Am klarsten und eindrucksvollsten ist das zu beobachten in stresshaltigen und diffusen Grenzlagen, in denen sich oft unerwünschte und nur begrenzt kontrollierbare Verhaltensautomatis­men abspielen. Die Verhaltensweise in derartigen situativen Konstellatio­nen wird souveräner, gelassener und phanatsievoller. Ist nicht mehr so ausschließlich geprägt durch das quasimechanische Wechselspiel von Reaktion und Gegenreaktion, sondern mehr und mehr durch ein gedank­liches Element, das sich Ziele setzt und steuert. Wir haben mehr Hand­lungsfreiraum infolge einer größeren emotionalen und intellektuellen Di­stanz von dem, was außen und im Innern vor sich geht. Sind nicht mehr so sehr davon vereinnahmt, sondern haben uns ersichtlich ein Stück un­abhängiger gemacht.

Wir können hier mit ziemlicher Gewißheit ausschließen, daß es der Ge­dankeninhalt der Übung war, der uns zu einer Verhaltensänderung ange­regt hat. Denn der Nachweis dürfte schwer zu erbringen sein, warum die begrifflichen Inhalte so banaler Denkgegenstände wie Bleistift, Büro­klammer und Kugelschreiber zu individualpsychologisch relevanten Lernprozessen und neuen Verhaltensstrategien für Familie, Freizeit und Beruf führen sollten. Auch die Tatsache des Denkens an sich kann für diese Folgen kaum verantwortlich sein, denn gedacht wird immerzu im Verlauf des Alltagslebens ohne derartige Modifikationen und Wandlun­gen in vergleichsweise kurzer Zeit nach sich zu ziehen. Es ist ganz offen­sichtlich, daß die schiere Aktivität des Zurückdrängens und Sich-Los-Lö­sens von der Eigendynamik und Eigenkraft des leiblich-seelischen Unter­baus, das bewußte, mehrminütige Sich-Herausreißen und Heraustreten aus dem was ohne unseren gezielten Willensentschluß sozusagen von selbst in seiner ihm eigenen Weise abgelaufen wäre, ganz unabhängig von jeglichem Gedankeninhalt eine Befreiungstat im eigentlichen Sinne ist, die über einen längeren Zeitraum fortwirkt und diesen Unterbau nach­weislich verändert.

Ein Hirnphysiologe würde uns jetzt vielleicht auf modifizierte hirnelek­trische Aktivitäten als Folge von umorganisierten Stoffwechsellagen im Gehirn hinweisen, die sich signifikant im Langzeit-EEG ausprägen. Und ein Neurobiologe vielleicht erklären, daß unsere intellektuelle Hardware im Kleinhirn, im limbischen System, im Sprachzentrum und im Stirnhirn jetzt anders verdrahtet ist. Das ist nicht so entscheidend. Entscheidender ist, daß es vermutlich nicht die Stoffwechsellage war, die höchstselbst für ihre Neuorganisation sorgte, und es wohl auch nicht der Draht gewesen ist, der neu verdrahtet hat.

(Zusatz 17.11.03: Wer mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen etwas vertraut ist, dem wird vielleicht begreiflich sein, daß der hier erörterte Gesichtspunkt der Zurückdrängung der leiblich-seelischen Organisation naturwissenschaftlich von der allergrößten Tragweite ist. Denn er steht in ausdrücklichem Gegensatz zum Energieerhaltungssatz, wonach Energie nur von einer Form in die andere umgewandelt werden, aber nicht aus dem Nichts heraus geschaffen werden kann. Wäre das Denken lediglich ein Hirnprozeß, dann folgte es einer in diesem Sinne angenommenen Na­turkausalität. Dann aber wäre Freiheit niemals möglich, sondern sämtli­che Denkoperationen und nachfolgende Handlungen müßten sich letzt­endlich mit Naturnotwendigkeit vollziehen, und zwar in Abhängigkeit vom jeweiligen Hirnstatus. Unter Hirnphysiologen gilt diese letztere Auf­fassung geradezu als unantastbar. Von der anderen Seite gesehen: Der Nachweis eines freien Denkens hat zwangsläufig physikalische Implika­tionen dahingehend, daß der Energieerhaltungssatz nicht so uneinge­schränkt gilt, wie die Physiker annehmen.

Steiner war diese physikalische Konsequenz vollkommen klar und er sagt entsprechend, bezogen auf die Zurückdrängung (GA-78, Dornach 1968, Vortrag vom 5.11.1921, S. 143): "Hier ist es, wo wir an der Grenze des Gesetzes von der Erhaltung der Materie und der Kraft stehen. Man muß den Ausdehnungsbereich dieses Gesetzes von Materie und Kraft erken­nen, damit man den Mut fassen kann, ihm dann zu widersprechen, wenn es nötig ist." )

Man kann demgemäß davon ausgehen, daß durch eine so einfache Ge­dankenübung nicht nur unser Verhalten sich verändert, sondern auch Le­bensprozesse und Organe. Das heißt: Wer Nebenübungen im Sinne des anthroposophischen Schulungsweges macht, der verändert willentlich seine Hirnstrukturen. Im Falle des Hirnorgans ist dies für die Neurobiolo­gie kein neuer oder überraschender Gedankengang, denn dort weiß man schon seit langem, daß intellektuelle Aktivität in den Feinstrukturen des Hirns Lebens- und Wachstumsprozesse auslöst. Und man wird diese Din­ge in verhältnismäßig sehr kurzer Zeit noch sehr viel klarer überblicken, denn man ist ja längst dabei, sich diesen Meditationsphänomenen und -wirkungen auch mit Hebeln und Schrauben zu nähern. (Siehe zu diesem Thema etwa die sehr lesenswerte Schrift Hirnforschung und Meditation. Ein Dialog. Wolf Singer - Matthieu Ricard. Edition Unseld, Frankfurt 2008. Dort etwa Wolf Singer auf S. 64 ff über Veränderungen der Hirn­strukturen durch Meditation. Und S. 97 f zur Frage nach dem Veranlasser dieser Veränderungen: "Der Neurobiologe würde sagen, daß das Bedürf­nis, kognitive Funktionen durch mentales Üben zu verfeinern, auf Vor­gängen in genau dem neuronalen Substrat beruht, das dabei verändert werden soll. ... es muß auf jeden Fall im Gehirn einen Mechanismus ge­ben, der das Erlangen kohärenter Zustände begünstigt und mit angeneh­men Gefühlen belohnt, ihnen einen positiven Wert zuschreibt, denn sonst würde sich das Gehirn nicht die Mühe machen, solche Zustände anzustre­ben." Für Singer ist das Gehirn des Meditierenden so etwas wie ein selbstreferentieller biologischer Computer, der seinen eigenen Umbau or­ganisiert. Siehe dazu auch in Spiegel Online vom 13.05.08 das Streitge­spräch zwischen Wolf Singer und Matthieu Ricard: Wie Meditation das Gehirn verändert. ) Die entscheidende Frage ist eben: Wer ist hier der Auslöser der Auf- und Umbauprozesse? Und wer vor allem während der Meditation? Ist es der Organismus - im engeren Sinne das Gehirn - selbst? Diese Auffassung würde der Neurobiologe wohl vertreten (siehe Wolf Singer in der eben erwähnten Schrift). Oder ist es das Ich und seine willentliche Aktivität? Dann hätte die Veränderung keine Organische, sondern eine geistige Ursache. Diese Auffassung dürfte Steiner wohl ver­treten. Dann wirkt der Denkwille unmittelbar organbildend und -verän­dernd. Und zwar so, daß die Veränderung innerhalb der Nachweisgren­zen der heutigen Naturwissenschaft liegt. Nun ist ja für Anthroposophen die Auffassung Steiners vertraut, daß es der Äther- oder Bildekräfteleib ist, der die Lebensprozesse unterhält. Vielleicht nicht ganz so bekannt ist seine Ansicht, daß es auch der Ätherleib ist, der die Denkvorgänge tätigt. Wer also in der beschriebenen Weise seine Meditationserfahrungen macht, der erlebt dreierlei: a) seine denkende Anstrengung. b) damit zu­gleich eine Aktivität seines ätherischen- oder Bildekräfteleibes und c) die unmittelbaren Folgen, die diese Tätigtkeit im und für das Organsystem hat. Und gleichermaßen für sein Bewußtsein.

Die gekennzeichnete Wirkung der Denkaktivität ist eine der folgen­schwersten, die man an seinem Denken beobachten kann. Und es ist nie­mand davon ausgenommen eine solche Beobachtung zu machen. Denn das Faktum als solches festzustellen verlangt kein philosophisches oder psychologisches Spezialwissen, sondern lediglich den Willen und die Disziplin so ein Denkexperiment oder Beobachtungsprojekt einmal über eine längere zeitliche Distanz, die sich in der Regel über einen Zeitraum von mehreren Wochen bis einigen Monaten erstreckt, durchzuführen und auf die Eigentümlichkeiten und Umstände der Zurückdrängung ebenso zu achten wie auf die nachfolgenden Wirkungen, die sie hat. Der Beob­achter betreibt dann, obwohl er weder Fachphilosoph noch Fachpsy­chologe ist, nichts anderes, als die Spezialisten der Wissenschaft in Karl Bühlers Denkversuchen um das Jahr 1908 betrieben haben – er beobach­tet einen Aspekt seines Denkens. Vielleicht sogar einen bedeutsameren als man damals in Augenschein genommen hat. Und er ist im Vergleich zu den Versuchspersonen Bühlers in der Lage, daß er die Tatsachen sei­nes Bewußtseins über einen weit längeren Zeitraum verfolgen kann und zudem seine Experimente beliebig oft nahezu identisch wiederholen kann – eine Forderung, die Wilhelm Wundt seinerzeit an die Bühlerschen Ver­suche richtete.

Wenn aber ein Denkakt nach Auffassung Witzenmanns erst dann Be­wußtseinsinhalt sein sollte, wenn ich ihn selbst zum inhaltlichen Ergeb­nis eines auf ihn abzielenden Aktes mache, woher will ich dann wissen, ob ich ihn überhaupt vollzogen habe? Diese Tatsache kann sich doch nur aus einer unmittelbar und bewußt erlebten Denktätigkeit selbst ergeben und nicht aus vorhandenen Denkinhalten. Denkinhalte können als Be­wußtseinsphänomene weiß Gott woher stammen. Als bloße Inhalte geben sie keine Auskunft über den Grund und die Bedingungen ihrer Anwesen­heit. Sie kommen und gehen aus vielerlei Anlässen ohne mich zu fragen ob mir ihr Erscheinen und Verklingen auch genehm ist. Lediglich der Kontinuität meiner inneren Erfahrung der Denktätigkeit ist es zuzuschrei­ben, wenn ich einen direkten ursächlichen Zusammenhang zwischen ei­nem Bewußtseinsinhalt und meiner individuellen Tätigkeit konstatiere. Weil ich Gedanken ganz willkürlich durch persönlichen Entschluß her­vorrufen, variieren, verbinden, trennen, beurteilen und wieder aus dem Bewußtsein tilgen kann und dabei die seelische Qualität meiner Aktivität unmittelbar erlebe. Und zwar im Kontrast zur erlebten relativen Passivi­tät, wenn diese Aktivität nicht oder in geringeren Graden vorhanden ist und die Bewußtseinsinhalte kommen und gehen wie sie wollen und nicht wie ich will. Indem ich mich ständig und faktisch an dem messen muß, was nicht Eigenaktivität, sondern Fremdaktivität ist. Indem es sich für mich sehr anders ausnimmt, ob ich mit müheloser Leichtigkeit im allge­meinen Strom des Bewußtseins so dahinschwimme und von ihm mit- und fortgetragen werde, oder ob ich mich gegen ihn anstemme wie gegen ei­nen überschäumenden Wildbach.

Denkakt heißt vor allem: Aktivität des Denkens und hat erlebnismäßig auch einen rein qualitativen Aspekt, denn sie ist schließlich keine seelen­lose mentale Inhalts-Hervorbringungs-Technologie. Diese reinen seeli­schen Qualitäten, den ganzen Facettenreichtum des Gegensatzes von Ak­tivität und Passivität, das Wechselspiel von Tun und Zulassen, all die fei­nen Schattierungen von Bestimmen und Bestimmt-Sein, von Herrschen bis Beherrscht-Werden, von Macht und Schwäche; die ganze Bandbreite denkerischer Tatkraft von der vollen Bewußtseinssouveränität bis hin zur Bewußtseinssklaverei kann ich als Qualitäten nicht denken, sondern sie müssen gelebt, erlebt, durchlebt, durchlitten und ausgekostet werden. Wer jedoch diese Aktivität nur denken aber nicht erleben will, der gleicht einem Menschen, der im Begriff ist sich ein sattes Rot vorzustellen, ohne je eines gesehen zu haben. "Wer blind geboren ist, weiß nicht einmal, was Dunkelheit ist." Wie also wollte jemand einen Denkakt denken, ohne ihn erlebt zu haben? (Vergl.: Der sehende Blinde, in, Der Spiegel, Nr. 47, 18.11.2002, S. 199)

In einem Vortrag von 1921 (GA-78, 1968, S. 38 ff) erläutert Steiner rückblickend die wesentlichen Gedankengänge seiner frühen philosophi­schen Schriften, sein damaliges Verhältnis zu anderen Denkern und die Motive seiner philosophischen Ausarbeitungen und sagt dort (S. 42): " ... ich kann es verstehen, wie solche Denker [gemeint sind Richard Wahle und Johannes Volkelt, MM] dann, weil sie sich ganz einleben in das Wahrnehmen, nicht dazu kommen, sich auch einleben zu können in die aktive Wesenheit des Denkens, sich nicht aufschwingen können dazu, an­zuerkennen, daß wir, indem wir die Aktivität des Denkens erleben, in ei­ner Tätigkeit ganz drinnenstehen, und weil wir ganz drinnenstehen, sie mit unserem Bewußtsein völlig verbinden können. Ich kann mir gut vor­stellen, wie unbegreiflich es solchen Denkern ist, wenn man ihnen aus dem vollen Erleben dieser Aktivität des Denkens die Worte entgegnet: Im Denken haben wir das Weltgeschehen selber an einem Zipfel erfaßt! -, wie ich es in meiner «Philosophie der Freiheit» [GA-04, 1978; Kap. III, S. 49, MM] ausgesprochen habe.

Einem Philosophen mag es vielleicht schwer fallen anzuerkennen, daß es bei der Beobachtung des Denkens auch um rein seelische Erlebnisquali­täten geht, weil das ja etwas Psychologisches ist und scheinbar nichts Philosophisches. Deswegen richtet er den Blick hauptsächlich auf das Formale, Logische. Aber bei der Behandlung meiner eigenen Denkaktivi­tät komme ich ohne solche seelischen Qualitäten gar nicht aus, weil ich sonst kein empirisches Mittel habe zu unterscheiden, was mein Tun ist, und was nicht dazu gehört. Nur weil ich in einem Erlebenszusammen­hang mitten drin stehe, und weil ich mich direkt als das einheitliche Zen­trum erlebe, von dem diese Aktivität ausgeht, kann ich sagen: "Ich habe einen Inhalt hervorgebracht." Wer aber ausschließlich nach formalen Be­weisen für seine Ich-Aktivität im Denken sucht, der täuscht sich gewalt­sam über diese Tatsache hinweg.

Wie also denkt man einen Denkakt, - zumal einen solchen, für den es kei­ne reale Erfahrungsgrundlage gibt? Wie denkt man die Qualität Denkak­tivität, ohne daß sie als Qualität erlebter Bewußtseinsinhalt war? Über das rein Methodisch-Operative seines Vorgehens schweigt Witzenmann sich aus. Die Formel >Ich bringe also einen Akt durch einen Akt als des­sen Inhalt hervor< enthält keine praktikablen Hinweise darauf, wie der Zugang zu dem fraglichen Gebilde "Denkakt" beschaffen sein soll. Das Denkakt-Denken schwebt frei in der Luft ohne eine empirische Stütze, denn wo keine Denkaktivität erlebt wird kann auch keine wirklich ge­dacht werden. Witzenmann verweilt ausschließlich auf einer abstrakt phi­losophischen Ebene, die über das an dieser Stelle Entscheidende, nämlich das handgreifliche methodische Verfahren, keine Auskunft gibt und in­folge der gemachten Voraussetzungen auch gar keine mehr geben kann. Seine Denkakte sind, so wie er es 1948 darstellt, allenfalls hypothetische Konstrukte ohne Erfahrungsbasis. An dieser Sachlage ändert sich auch in der 1977 überarbeiteten Version des vorliegenden Aufsatzes grundsätz­lich nichts. Wir werden darauf an späterer Stelle noch zurückkommen.

Ende Teil II

Anmerkungen Teil II

4 Die mehr subtile Ebene dieser Zurückdrängung läßt grob gesagt zwei Zielrichtungen erkennen: Einmal die mehr seelische Seite des Denkens, und einmal die mehr inhaltliche Seite. Die Zurückdrängung der ersteren Art richtet sich gegen die vereinseitigende, befangenmachende, doktrinä­re und schematisierende Wirkung bestimmter dispositioneller Eigenarten unserer Persönlichkeit. Und zwar gegen alles dasjenige, was entweder herkunftsbedingt schon dispositionelle Veranlagung war, z. B. charakter­liche Eigenheiten, Temperament und Effekte einer spezifischen kindli­chen Sozialisiation. Oder gegen das, was wir uns im Laufe unseres späte­ren Erkenntnislebens an Denkgewohnheiten, Meinungen, vorläufigen Einsichten, Denkstilen und individuellen Paradigmen angeeignet haben - was also erst im weiteren biographischen Verlauf dispositionell und so­mit ein Teil unserer seelischen Organisation geworden ist. Die zurück­drängende Wirkung unserer Denkaktivität ist hier mehr mittelbarer Art und tritt eher zeitverzögert auf. Zum Beispiel als Folge einer kontinuierli­chen Hingabe an die von Steiner gegebenen sogenannten "Nebenübun­gen", die eigentlich "Hauptübungen" heißen müßten. Das Ablegen oder Verändern von persönlichen Handlungsgewohnheiten, die gezielte Ver­sachlichung des Denkens, Positivität der Einstellung und Ausgeglichen­heit des Gefühlslebens tritt nicht sofort und unmittelbar im Zusammen­hang mit einer Übung ein, sondern erst im Verlauf einer beharrlichen und anhaltenden Praxis. In dem Maße aber, wie diese Praxis anhält, zeigt sich auch eine unmittelbare Wirkung im Denken selbst.

Die inhaltliche Zurückdrängung zielt auf alles, was aus der leiblich ge­bundenen Anschauung stammt. Am ehesten trifft darauf Steiners Aus­druck des sinnlichkeitsfreien oder reinen Denkens zu. Als exemplarisches Beispiel dafür ließe sich die Idee der Freiheit anführen, die nicht aus der sinnlichen Erfahrung gewonnen ist. Aber auch das rein mathematische Denken und, wie Steiner gelegentlich anführt, das Denken der analyti­schen Mechanik und analytischen Geometrie.

Steiners Sinnbildmeditationen nehmen hier eine eigentümliche Zwi­schenstellung ein, insofern, als die Inhalte zwar anschaulicher Natur sind, in der Art ihrer Zusammenstellung jedoch nur aus der Seelenenergie ge­wonnen werden, wie er es in der Geheimwissenschaft (S. 308) sagt.

5 Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriß, (GA-13), Dornach 1977, S. 309 ff.

Ende Anmerkungen Teil II


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