Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


Ende     vorwärts   Inhalt      Gesamtinhalt   Home

Michael Muschalle

Wie denkt man einen Denkakt?

Bemerkungen zu Lindenbergs Kritik an Witzenmanns Denken des Denkaktes

Teil I

(Stand 05.12.03)

I.

Vorweg einige Zeilen zum Hintergrund dieser kritischen Betrachtung: Der hier behandelte Aufsatz Christoph Lindenbergs Was heißt: das Denken beobachten? in: Die Drei, 6/99, S. 88-90, (im Internet zugänglich unter: http://www.geistesleben.com/diedrei/drei699/denk.html) stammt aus dem Jahre 1964 als ihr Verfasser noch ein vergleichsweise junger Mann war. Das wird vielleicht zwei Fragen aufwerfen: Einmal, was die Diskussion einer fast 40 Jahre alten und recht kurzgefaßten Publikation gegenwärtig noch für einen Erkenntniswert haben kann? Und zum anderen wird man sich überlegen, ob Lindenberg, falls er noch unter uns weilte, die dort vorgelegten Gedanken nach Inhalt und Form heute selbst noch akzeptieren würde. Oder ob ihn sein eigener Erkenntnisfortschritt nicht längst über die vorgestellten Positionen hinausgeführt hat? Die zweite Frage ist mir angesichts der Persönlichkeit Lindenbergs sehr wichtig, und ich bitte den Leser bei der Lektüre meiner Ausführungen dies im Auge zu behalten. Der Grund, warum ich mich trotzdem mit dieser Arbeit befasse, liegt darin, daß sie im Jahre 1999 neuerlich - posthum - veröffentlicht wurde. Den verantwortlichen Redakteuren der Zeitschrift Die Drei muß es demnach ein besonderes Anliegen gewesen sein, diesen Aufsatz noch einmal zugänglich zu machen. Offensichtlich war seine Thematik nach wie vor virulent und Lindenbergs Gedanken ihrer Meinung nach nicht veraltet. Der Untertitel: In Erinnerung an Christoph Lindenberg hebt dies indirekt noch einmal hervor. Denn man wird zum Andenken an einen geschätzten Zeitgenossen sicherlich keinen seiner Artikel neu herausgeben, der von vornherein antiquiert und sachlich fragwürdig erscheint, sondern immer noch aktuell ist und in etwa dem öffentlichen Ansehen des Verfassers entspricht. Augenscheinlich steht Lindenbergs Überzeugung von 1964 nach wie vor repräsentativ für ein bestimmtes Meinungsspektrum innerhalb der anthroposophischen Bewegung. Dies allein hat mich bewogen, hierzu Stellung zu nehmen. Bei Herbert Witzenmann ist die Sachlage etwas anders. Nicht nur ist sein Aufsatz Intuition und Beobachtung, 1 der hier in einem Teilaspekt diskutiert wird, bis zum Ende seines Lebens mit verschiedenen Veränderungen von ihm selbst herausgegeben worden. Er gehört auch zu den meist zitierten Arbeiten Witzenmanns und nimmt damit schon eine exponierte Stellung innerhalb der anthroposophischen Steinerrezeption ein. Bei Witzenmann glaube ich auch eine gewisse Kontinuität in der Gedankenführung bis zu seinen letzten Lebensjahren feststellen zu können. Vor allem die hier behandelte Problematik der Erkenntnis des gegenwärtigen Denkens hat ihn immer wieder bis in sein hohes Alter beschäftigt. Und in den diesbezüglichen basalen Positionen Witzenmanns, soweit sie hier zur Sprache kommen, meine ich keinen eklatanten Wandel entdecken zu können.

II.

Wenn ein anthroposophischer Autor einen Artikel verfaßt, der den Titel trägt: Was heißt: das Denken beobachten?, so wird man als Leser, zumal als anthroposophischer, auf den ersten Blick zweierlei mit dieser Überschrift verbinden: Erstens weist sie darauf hin, daß es in bezug auf den behandelten Gegenstand offene Fragen oder Unklarheiten in einer Größenordnung gibt, die dazu auffordert sich darüber einmal ernsthaft Gedanken zu machen. Der Titel ist also problembezogen. Ihm ist auch zu entnehmen um welches Problem es dabei geht, nämlich um die Methode der Beobachtung des Denkens. Kennt man sich jetzt in Steiners Werk ein wenig aus, dann ahnt man natürlich auch näheres um den Bezugspunkt dieser methodischen Fragestellung: Es ist Steiners Philosophie der Freiheit 2 und im engeren Sinne dort das dritte Kapitel, Das Denken im Dienste der Weltauffassung, das wie keine andere Textstelle bei Steiner die Beobachtung des Denkens zur Schlüsselmethode einer tiefer gehenden Welterkenntnis und implizit zur Lösung der Freiheitsfrage erhebt, und ebendort auch prinzipielle Einzelheiten über das Wie und Warum dieser Beobachtung unterbreitet, die nirgendwo sonst in seinem gesamten schriftlichen Werk zu finden sind. Lindenbergs kurzer Aufsatz macht also den Leser im Titel darauf aufmerksam, daß es bezüglich dieser Schlüsselmethode ein Defizit gibt. Sei es ein Defizit ihrer Darstellung, sei es eines ihres Verständnisses oder sei es eines in beiderlei Hinsicht. Er behandelt kurz gesagt einen ebenso zentralen wie problematischen Begriff aus Philosophie und Weltanschauung Steiners, von dessen Verständnis gemäß Steiners Auffassung viel abhängt. Man wird als Leser jetzt mit einiger Wahrscheinlichkeit erwarten, daß der Autor sich um die Beseitigung oder Verringerung dieses Defizits bemüht, indem er die Methode erläutert, die Steiner in diesem Text darlegt. Und daß er sich entweder um eine Interpretation der maßgeblichen Textstellen bemüht, soweit das auf wenigen Seiten möglich ist, oder doch immerhin partiell entscheidende Passagen in seinen Klärungsversuch einbezieht. Indessen: das Mißverhältnis zwischen der Erwartungshaltung des Lesers und dem, was Lindenberg in seiner Arbeit tatsächlich behandelt, ist doch ausgesprochen krass.

Summarisch läßt sich zu seiner Arbeit dreierlei feststellen: Erstens, daß das Muster der Interpretationszugänge, das bei anderen anthroposophische Autoren vielfach erkennbar ist, auch auf ihn zutrifft, und zwar in besonders auffälliger Weise: Textstellen, die dem eigenen Verständnis entgegenkommen, greift man auf, und solche, die vielleicht schwerer zugänglich, aber für den Sinnzusammenhang wichtig sind, läßt man weg, ohne sie weiter zu thematisieren oder gar zu problematisieren. Das heißt Steiners Begriff der Beobachtung des Denkens und insbesondere seine Behauptung von der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens wird auch von ihm nicht textimmanent erschlossen. Ganz im Gegenteil: Es findet noch nicht einmal ein annäherungsweiser Versuch statt Steiners explizite Aussagen aus dem dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit verständlich zu machen und auf ihre methodischen Implikationen hin zu sondieren. An die Stelle eines interpretierenden Textzuganges tritt ersatzweise ein überwiegend subjektives, aus persönlicher Erfahrung und Überlegung gewonnenes Verständnis der fraglichen Begrifflichkeit, das nirgendwo ernsthaft an ihren philosophischen Quellpunkt angebunden wird. Als Interpretationszugang ist das absolut unzureichend. Letztendlich werden nicht einmal die Intentionen Lindenbergs deutlich: Will er seinem Leser die Interpretation beziehungsweise Erläuterung einer Begrifflichkeit Rudolf Steiners anbieten oder will er ihm nur mitteilen was er selbst zum Thema Beobachtung des Denkens zu sagen hat?

Zweitens: Bei Lindenberg kommt noch hinzu, daß er sein Verständnis zwar hier und da mit Aussagen Steiners zu belegen versucht, unglücklicherweise aber an einer delikaten Stelle so unreflektiert auf eine Vortragsmitschrift zurückgreift, die, wenn man sie so nimmt, wie sie veröffentlicht wurde, nicht nur in sich kaum plausibel ist, sondern auch mit entscheidenden Textstellen der Philosophie der Freiheit ganz unvereinbar, und zum mindesten die Frage nach der inneren Konsistenz Steinerscher Ausführungen zur Methode der Denk-Beobachtung hätte aufwerfen müssen. Mit anderen Worten: Bei Lindenberg tritt hier an die Stelle eines mit Sicherheit authentischen Textes - nämlich des dritten Kapitels der Philosophie der Freiheit - ein wenig authentischer und von der Aussage her kaum stringenter, zudem logisch problematischer Vortragstext. Bei einem achtsamen Philologen hätten auf jeden Fall erhebliche Vorbehalte auftreten müssen, eine solche Vortragsmitschrift unkommentiert als Belegstelle anzuführen.

Ein dritter und letzter Aspekt scheint mir an Lindenbergs Arbeit schließlich noch hervorhebenswert: Die Art und Weise, wie er seine Kritik an Herbert Witzenmann vorbringt und worauf er sich dabei stützt. Hier stellt sich die Frage, wie man die Interpretation oder den Verständnisansatz eines anderen anthroposophischen Autoren (Herbert Witzenmann) kritisieren kann, wenn man selbst kaum über eine halbwegs gesicherte Verständnisgrundlage dessen verfügt, worum es bei dieser Kritik gehen soll. Denn abweisen oder anerkennen läßt sich die Textauffassung eines Fachkollegen doch nur wenn man sich auf denselben Bestand an Texten bezieht. Da aber Lindenberg sich in seinen Ausführungen so gut wie gar nicht mit Steiners Begriff der Denk-Beobachtung im dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit auseinandersetzt, ist mir unklar, was kritische Bemerkungen in dieser Richtung überhaupt zu leisten vermögen, wenn sie nicht lediglich der Ausdruck persönlicher Animositäten sein sollen? Durch das nahezu vollständige Fehlen einer zu diskutierenden Textgrundlage wird Lindenbergs Kritik an Witzenmann überwiegend zur Schattendiskussion ohne erkennbaren Gegenstand.

III.

Die problematische Grundlage dieser Kritik wird bald zu Beginn deutlich. Lindenberg weist dort anhand einer Vortragsmitschrift (GA-322, 1981, S. 50, Vortr. v. 30.09.1920) darauf hin, daß Steiner sich verschiedentlich gegen ein "Denken des Denkens" gewandt habe und zitiert: " ... denn man kann eigentlich in Wirklichkeit nicht über das Denken denken. Man kann das Denken ebensowenig im Grunde denken, wie man das Eisen eisern und das Holz hölzern kann." Nun ist diese Aussage Steiners in mehrfacher Hinsicht heikel: Sowohl auf semantischer Ebene, als auch im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Verständnis des dritten Kapitels der Philosophie der Freiheit und basaler Teile seines übrigen rein philosophischen Werkes. Und darin vor allem liegt das Delikate dieser Angelegenheit.

Semantisch gesehen ist die Vortragsaussage auf jeden Fall mehrdeutig, denn ein Denken des Denkens ist nicht dasselbe wie ein Denken über das Denken. So kann man zwar auch das Dichten nicht dichten - um im Bilde Steiners zu bleiben - man kann es aber sehr wohl zum Gegenstand des Dichtens machen und meinetwegen einen Essay oder einen lyrischen Vers über die Dichtkunst oder die persönlichen Erfahrungen damit verfassen. Und das Sprechen kann man ebenso wenig sprechen, gleichwohl wird über das Sprechen sehr viel gesprochen, vor allem von Linguisten und Rhetorikern. Steiners sprachliche Illustrationen lassen sich wohl auf das Denken des Denkens beziehen, nicht aber auf ein Denken über das Denken. Somit stellt sich die Frage: Was meint der Vortragende hier eigentlich? Das Denken über das Denken - zumal davon im Verlauf des Vortrags noch einmal die Rede ist? Oder meint er das Denken des Denkens? Meint er vielleicht gar beides? Oder hält er etwa beide Ausdrucksvarianten für äquivalent? Hat der Vortragsstenograph womöglich nicht gut zugehört? Sind Mitschriften fehlerhaft? Haben die Herausgeber von Steiners Vortragswerk gar unsolide gearbeitet? - Wir wissen es nicht. - Auf jeden Fall kann man sagen, daß es sich bei den Bemerkungen im Vortrag nicht um geschliffene philosophische Formulierungen handelt, sondern es klingt wie etwas, das aus dem Stegreif genommen ist. Es sieht hier eher so aus, als sei Steiner auf der Suche nach dem treffenden Ausdruck für das, was er mitteilen will. Wie auch immer: Die von Steiner nicht überprüfte Vortragsmitschrift für sich genommen gibt keine klare Auskunft sondern hinterläßt einen verwirrenden Eindruck.

In welche Schwierigkeiten man mit einer einfachen Übernahme des Vortragstextes geraten kann, zeigt nachfolgender Vergleich: Sollte Steiner hier nämlich wirklich meinen, daß man über das Denken nicht denken könne, dann wäre man postwendend aufgefordert, seine Philosophie der Freiheit zu guten Teilen ad acta zu legen. Denn sie ist ja in ihrem essentiellen Kern oft nichts anderes als das Resultat eines Denkens über das Denken - sogar ganz explizit, wie man den zahlreichen Beispielen im dritten Kapitel entnehmen kann. Etwa: "Ich bin sogar in demselben Fall, wenn ich den Ausnahmezustand eintreten lasse, und über mein Denken selbst nachdenke. Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe, kann ich nachher zum Objekt des Denkens machen." (S. 43) Oder: "Das sind Fragen, die sich jeder stellen muß, der über seine eigenen Gedankenprozesse nachdenkt. Sie fallen weg, wenn man über das Denken selbst nachdenkt. Wir fügen zu dem Denken nichts ihm Fremdes hinzu, haben uns also auch über ein solches Hinzufügen nicht zu rechtfertigen." (S. 48) Oder: "Das ist doch eben auch nicht ohne Grund, daß das Verdauen zwar nicht Gegenstand des Verdauens, das Denken aber sehr wohl Gegenstand des Denkens werden kann." (S. 49) Und in der Schrift Wahrheit und Wissenschaft (GA-03, 1980), dem "Vorspiel" zu seiner Philosophie der Freiheit, erklärt Steiner am Ende von Kapitel III, (S. 48) das Denken über das Denken nachgerade zum methodischen Nonplusultra der Erkenntnistheorie: "Die Erkenntnistheorie kann aber nur eine kritische Wissenschaft sein. Ihr Objekt ist ja ein eminent subjektives Tun des Menschen: das Erkennen, und was sie darlegen will, ist die Gesetzmäßigkeit des Erkennens. Von dieser Wissenschaft muß also alle Naivität ausgeschlossen sein. Sie muß gerade darinnen ihre Stärke sehen, daß sie dasjenige vollzieht, von dem sich viele aufs Praktische gerichtete Geister rühmen, es nie getan zu haben, nämlich das «Denken über das Denken»."

In Bezug auf Lindenberg will ich damit nur zeigen: Wenn man die von ihm zitierte Vortragspassage so nimmt, wie sie da steht, und gleichrangig neben dem Schrifttum zur Urteils- und Verständnisgrundlage macht, dann begibt man sich philologisch aufs Glatteis. Sowohl die semantische Unbestimmtheit als auch der klare inhaltliche Gegensatz dieser Aussage zu wesentlichen Passagen der Philosophie der Freiheit hätten Lindenberg zumindest stutzig machen müssen. Denn beide behandeln das Denken über das Denken. Die Aussagen "Ich bin sogar in demselben Fall, wenn ich den Ausnahmezustand eintreten lasse, und über mein Denken selbst nachdenke." und " ... man kann eigentlich in Wirklichkeit nicht über das Denken denken ..." sind miteinander nicht vereinbar. Einmal behauptet Steiner es gehe gar nicht, und ein anderes mal stützt er sich in essentiellen Fragen genau darauf - auf etwas, das gemäß der Vortragsmitschrift eigentlich nicht möglich ist. Da die Philosophie der Freiheit von Steiner absolut nicht als philosophische Entgleisung seiner Jugendzeit eingeschätzt wurde, sondern als erkenntnistheoretische Grundlegung seiner Anthroposophie (siehe etwa GA-21, 1976, S. 62), die er später in den fraglichen Passagen unverändert neu herausgab, stellt sich doch bei einer Gleichbewertung von Vortrag und Schrift zwangsläufig die Frage, was von diesem Autor Steiner eigentlich zu halten ist, der nahezu zeitgleich so offenkundig Unvereinbares verbreitet. Schlußendlich ist also auch zum Schutze Steiners selbst äußerste Vorsicht und Umsicht angesagt in bezug auf die Verwendung von Vortragsmitschriften. 3

Zusatz 01.12.03: Der hier problematisierte Sachverhalt des Denkens über das Denken wird von Steiner sehr viel ausführlicher in Berlin am 28. Februar 1918 über weite Strecken eines Vortrags hin erläutert. (GA-67, Dornach 1962, S. 68 ff) . Steiner erklärt dort etwa (S. 82 f) "Es handelt sich dabei ... darum, daß der Mensch das, was sonst bloß kombinierendes Denken ist, wie es dem zugrunde liegt, was man heute oftmals allein «Wissenschaft» nennt, zum innerlichen Denkleben erweckt. Dann ist das Denken ein Leben im Gedanken. Dann kann man auch nicht mehr über das Denken denken, sondern dann verwandelt es sich überhaupt in etwas anderes. Dann verwandelt sich das Denken über das Denken in eine geistige Anschauung des Denkens, dann hat man das Denken so vor sich, wie man sonst äußere Sinnesobjekte vor sich hat, nur daß man diese vor Augen und Ohren hat, während man das Denken vor der von geistiger Anschauung erfüllten Seele hat."

Und weiter unten (S. 83 f): "Goethe wußte, daß, wenn man über das Denken denken will, man eigentlich ungefähr in derselben Lage ist, wie wenn man das Malen malen wollte. Man könnte sich ja denken, daß jemand das Malen malen will, daß er es sogar tut. Aber dann wird man sich wohl sagen, daß über das, was das eigentliche Malen ist, hinausgegangen wird. Ebenso muß über das Denken hinausgegangen werden, wenn es gegenständlich werden soll."

Man könnte es in aller Kürze so zusammenfassen: Wenn man das Denken wirklich erkennen will, dann muß man zunächst zu einem wirklichen Erleben des Denkens kommen. Was man aber dann vollbringt, indem man seine Denkfähigkeit auf das dergestalt erlebte Denken richtet und versucht es zu erkennen, ist im strengen Sinne kein Denken mehr, sondern etwas, das über das Denken hinausgeht - eine höhere Erkenntnisstufe als die des reinen Denkens.

Daß es von diesem geistigen Anschauen des Denkens unterschiedliche qualitative Abstufungen und Reifegrade gibt, die durch systematische Übungen weiter ausgebaut werden können und müssen, ist selbstverständlich. Aber mir scheint, es geht zunächst darum das Prinzipielle dieser Anschauung zu begreifen und zu wissen, daß das, was man selbst vielleicht bereits seit geraumer Zeit anstrebt und praktisch vollzieht, seinem allgemeinen Charakter nach bereits zu dieser geistigen Anschauung zu zählen ist, die über das Denken hinausgeht.

Ich habe Georg Kühlewind auf dieser Homepage an verschiedenen Stellen  zwar recht scharf hinsichtlich seiner Interpretation der Philosophie der Freiheit kritisiert. Doch dessen ungeachtet ist es ein besonderes Verdienst Kühlewinds, seine Leser auf den Weg eines wirklichen Erlebens des Denkens zu führen und somit das praktisch zu veranlagen, was eigentlich in der Philosophie der Freiheit intendiert ist. Wer sich längere Zeit intensiv mit den von Kühlewind empfohlenen Gedankenübungen befaßt und sein erkennendes Denken auf dieses erlebte Denken gerichtet hat, der müßte eigentlich schon zu Formen dieser Denkanschauung gekommen sein, weil diese bei entsprechender Übung im Laufe der Zeit mit einer gewissen Notwendigkeit eintritt.

Siehe zu diesem Thema auch das Kapitel 9.1 meines Aufsatzes Rudolf Steiners Begriff der Denkbeobachtung auf dieser Homepage. Insbeondere dort auch die Bemerkungen vom 01.12.03 .

Ende Teil I

Anmerkungen Teil I

1 Herbert Witzenmann, Intuition und Beobachtung. In, Die Drei, Bd. 18, Stuttgart 1948, S. 36-52.

In überarbeiteter Fassung erschienen unter demselben Titel in: Herbert Witzenmann, Intuition und Beobachtung, Bd. 1, Stuttgart 1977, S. 73-101.

2 Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, 2. Aufl. 1918, (GA-04), Dornach 1978.

3 Eine lesenswerte neuere Studie zur Problematik "Authentizität von Vortragsmitschriften Steiners" ist die von Wolfgang Gädeke und Christward Kröner dazu vorgelegte Untersuchung: Wortgetreu und unverfäscht? Haben wir in der Gesamtausgabe Texte Rudolf Steiners? = Flensburger Hefte, Sonderheft 20, Flensburg 2002.

Gerade vor dem Hintergrund von Lindenbergs Textgrundlage hat diese Studie große Aktualität, denn die Folgen der von ihm angeführten Vortragsmitschrift aus GA-322 sind für das Verständnis der Philosophie Steiners von geradezu dramatischer Art.

Ende Anmerkungen Teil I


Top    vorwärts   Inhalt     Gesamtinhalt   Home