Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Thomas S. Kuhn und das Erzeugen der Wirklichkeit

(Stand 22.06.02)

Kapitel 3

Psychologische Forschung in Steiners Erkenntnistheorie

Der Kenner der "Philosophie der Freiheit" weiß, daß Steiner dieses Werk als psychologisches bezeichnet. Die Kennzeichnung "Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode" macht diesen Status deutlich. Die Grundstruktur des Erkenntnisvorganges wird also im Selbstverständnis Steiners mit einer psychologischen Vorgehensweise herausgearbeitet. Der psychologische Charakter dieses Verfahrens ließe sich ohne weiteres auch anhand der wissenschaftssystematischen Ausführungen Steiners in den "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung" (GA-02, 1979) aufzeigen, insbesondere anhand des Kapitels 18, "Psychologisches Erkennen". Die Grundstruktur selbst besteht in der denkenden Durchsetzung von wahrnehmlich Gegebenem mit Begriffen. Diese Grundstruktur findet sich auch in den übrigen epistemischen Werken Steiners in jeweils etwas modifizierter Weise herausgearbeitet. Und auch hier betont Steiner den Erfahrungshintergrund seiner Technik, das heißt auch hier ist diese eine psychologische zu nennen, auch wenn das Ziel ein erkenntnistheoretisches ist.

Eine solche Kennzeichnung ist naheliegend und sie war zu Steiners Zeit durchaus gebräuchlich. So finden wir bei Johannes Volkelt, jenem von Steiner so überaus geschätzten philosophischen Zeitgenossen, die Bemerkung: "Die Methode der Selbstbesinnung hat ... zweifellos eine psychologische Seite. Alle Aussagen, die der Erkenntnistheoretiker auf Grund des Selbstinneseins über die verschiedenen Arten der Gewißheit tut, könnten ebensogut von einem Psychologen, falls er nur sich auf diese bestimmten Gebiete des seelischen Lebens mit seinen Bereichen verlegt, gemacht werden. Es sind psychologisch feststellbare Tatsachen, die von dem Erkenntnistheoretiker in jenen Aussagen beschrieben werden."16

Die sachliche Nähe von Erkenntnistheorie und Psychologie ist geradezu augenfällig und sie scheint um so ausgeprägter zu sein, je zentraler die zu behandelnden Fragen sind. So hat es immer wieder Grenzüberschreitungen und Übergriffe in der einen oder anderen Richtung gegeben, insbesondere von der Psychologie zur Logik und Erkenntnistheorie, die unter dem Stichwort des logischen oder erkenntnistheoretischen "Psychologismus" in die Philosophiegeschichte Eingang gefunden haben.17 Und so ist es auch nicht sonderlich überraschend, daß eben jene psychologischen Gedankengänge, die Steiner in den Frühschriften bei der Analyse des Verhältnisses von Denken und Wahrnehmung entwickelt, sich bei reinen Fachpsychologen in so ähnlicher Weise finden, daß man auf den ersten Blick meint, sie könnten von Steiner selbst stammen.

Die Verfahren einer erkenntnistheoretisch-psychologischen Analyse können, abhängig von der spezifischen wissenschaftlichen Disziplin und dem jeweiligen Ziel der Erhebung, recht verschieden sein: Man kann versuchen, die individualpsychologische Entwicklung des Erkennens nachzuvollziehen, etwa indem man sich den Erkenntniserwerb von Kindern unterschiedlicher Altersstufen ansieht, wie dies Jean Piaget in vielfältiger Weise durchgeführt hat.18 Man kann auch wie Kuhn als Historiker die erkenntnisgenetische Fragestellung auf Kollektive ausdehnen und den Erkenntniserwerb und -wandel von scientific communities über Jahrhunderte ins Auge fassen. In beiden Fällen kommt man zu einer historischen Rekonstruktion der Erkenntnisgenese und sieht sich vor die interessante Frage gestellt, wie sich im Verlauf solcher Erkenntnisgenese die Wirklichkeit für den Erkennenden verändert und ob individueller und kollektiver Erkenntniserwerb u. U. Parallelen aufweisen (nach Kuhn scheint das so zu sein.).

Wahrnehmungstheoretische Untersuchungen lassen sich anstellen um zu sehen, wieweit die Vorerfahrung eines erwachsenen Menschen bzw. sein Denken darauf Einfluß nimmt, wie er auf bestimmte Wahrnehmungsangebote eingeht und sie deutet.19 Man kann in der sachlich auch notwendigen Zuspitzung dieser Fragestellung ermitteln, ob es überhaupt von jeglicher Vorerfahrung, von jeglichem Denken unbeeinflußte Ebenen elementarer Wahrnehmung gibt, also reine Sinnesdaten. Die Ausgangsbasis einer solchen Untersuchung könnte sowohl eine wahrnehmungspsychologische als auch eine Denk- oder kognitionspsychologische sein, aber auch eine rein philosophisch-erkenntnistheoretische oder gar eine ästhetiktheoretische, da insbesondere bei der künstlerischen Erfahrung das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Denken ein sehr inniges ist. All diese letztgenannten Fragestellungen lassen sich natürlich auch individuell angehen, sei es in Form von echten seelischen Selbstbeobachtungsexperimenten oder Gedankenexperimenten. Ein Gedankenexperiment wäre etwa die rationale Rekonstruktion einer von jeglichem Gedankeninhalt entkleideten Wahrnehmungswelt durch Herauslösung aller hinzugefügten Prädikate, weil Prädikation nur auf dem Wege des Denkens erfolgen kann. Im Gedankenexperiment ließen sich dann alle hier vorhandenen logischen Möglichkeiten durchspielen.

Wie sähe eine solche psychologisch oder rational rekonstruierte Welt aus? Bliebe nach der Extraktion alles Gedanklichen überhaupt noch etwas zurück, das den Namen "Wahrnehmung" oder "Wirklichkeit" verdient? Wie könnte man dessen dann überhaupt habhaft werden? Und welches Gedankliche sollte entfernt werden? Die aktuelle gedankliche Zutat zu wie auch immer beschaffenen Wahrnehmungen oder auch jene gedankliche Zutat, die sich möglicherweise im Verlauf der Erkenntnisgenese mit reinen Sinnesdaten zu einer untrennbaren symbiotischen Einheit verbunden hat, also selbst Wahrnehmungscharakter angenommen hat, obwohl sie gedanklicher Natur ist? Ist der Wahrnehmungsgegenstand vielleicht notwendig immer das Produkt aus reinen Sinnesdaten und gedanklichen Zutaten? Im letzteren Fall hätte die Sinneswahrnehmung als Ganzes vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit mit der Lichtwahrnehmung im speziellen. Wie Licht für sich genommen nicht visuell wahrnehmbar ist, sondern erst durch streuende Objekte, die ihrerseits ohne Licht nicht sichtbar sind, so wäre dann eine Wahrnehmung im allgemeinen gewissermaßen die "Streuung" eines an sich "unsichtbaren" Gedanklichen am Widerstand eines ebenso "unwahrnehmlichen" Sinnlichen. Erst im Zusammentreffen beider entstünde dann Wahrnehmung als Symbiose oder synthetisches Produkt eines "Untersinnlichen" mit einem "Übersinnlichen". 20

Die Suche nach elementaren Wahrnehmungen steht also im engen Konnex zu Fragen der Art: (Wie) modifiziert das Denken die Wahrnehmung? Ist das Denken unter Umständen gar der (Mit)Erzeuger der Wahrnehmung? (Wie) wird das Gedachte seinerseits zum Wahrnehmungsdatum? Gibt es überhaupt so etwas wie "reine Sinnesdaten", die von jeglichem Gedanklichen unbeeinflußt sind? Und wie kann man sich zu letzteren Zugang verschaffen? Ist ein "theoriefreier" Zugriff auf solche Sinnesdaten überhaupt denkbar?

Abgesehen davon, daß Steiners erkenntnistheoretische Vorgehensweise nach seinem Selbstverständnis auf seelischen Beobachtungen basiert, scheint sie auch eine Mischung verschiedener methodischer Ansätze zu sein: Man findet psychologische Gedankengänge darin, erkenntnisgenetische, aber auch reine Gedankenexperimente. Und das ist vielleicht noch nicht alles. Schauen wir kurz und lediglich illustrierend auf einige Überlegungen, die Steiner in den "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung" und "Wahrheit und Wissenschaft" zur Grundstruktur des Erkennens darlegt. Was Steiner im 5. Kapitel der "Grundlinien..." unter dem Begriff der "reinen Erfahrung" zu verdeutlichen sucht, ist der Umstand, daß die Erfahrung ein völlig beziehungsloses Aggregat von Wahrnehmungen bleibt, solange sie nicht vom Denken durchtränkt wird. Erst das Denken schafft Beziehung, Struktur und Bedeutung.

In den Beispielen, die Steiner, von Volkelt entlehnt, zur Veranschaulichung anführt, ist die "reine Erfahrung" keine elementare Wahrnehmung nach der Art "reiner" Sinnesdaten, sondern hat den oben gekennzeichneten symbiotischen Charakter. In ihr sind die erkenntnisgenetisch hinzugefügten gedanklichen Zutaten gewissermaßen "eingefroren" und zum festen Bestandteil der Wahrnehmung geworden; sie gehören mit zum Material der "reinen Erfahrung".

Steiner zitiert Volkelts "vorzügliche Charakterisierung" der "reinen Erfahrung" und schreibt:" Sie schildert uns einfach die Bilder, die in einem beschränkten Zeitabschnitte in völlig zusammenhangloser Weise vor unserem Bewußtsein vorüberziehen. Volkelt sagt: «Jetzt hat zum Beispiel mein Bewußtsein die Vorstellung, heute fleißig gearbeitet zu haben, zum Inhalte; unmittelbar daran knüpft sich der Vorstellungsinhalt, mit gutem Gewissen spazieren gehen zu können; doch plötzlich tritt das Wahrnehmungsbild der sich öffnenden Türe und des hereintretenden Briefträgers ein; das Briefträgerbild erscheint bald handausstreckend, bald mundöffnend, bald das Gegenteil tuend; zugleich verbinden sich mit dem Wahrnehmungsinhalte des Mundöffnens allerhand Gehörseindrücke, unter anderen auch einer, daß es draußen zu regnen anfange. Das Briefträgerbild verschwindet aus meinem Bewußtsein, und die Vorstellungen, die nun eintreten, haben der Reihe nach zu ihrem Inhalte: Ergreifen der Schere, Öffnen des Briefes, Vorwurf unleserlichen Schreibens, Gesichtsbilder mannigfachster Schriftzeichen, mannigfache sich daran knüpfende Phantasiebilder und Gedanken; kaum ist diese Reihe vollendet, als wiederum die Vorstellung, fleißig gearbeitet zu haben, und die mit Mißmut begleitete Wahrnehmung des fortfahrenden Regens eintreten; doch beide verschwinden aus meinem Bewußtsein, und es taucht eine Vorstellung auf mit dem Inhalte, daß eine während des heutigen Arbeitens gelöst geglaubte Schwierigkeit nicht gelöst sei; damit zugleich sind die Vorstellungen: Willensfreiheit, empirische Notwendigkeit, Verantwortlichkeit, Wert der Tugend, absoluter Zufall, Unbegreiflichkeit usw. eingetreten und verbinden sich miteinander in der verschiedenartigsten, kompliziertesten Weise; und ähnlich geht es weiter.» Da haben wir für einen gewissen, beschränkten Zeitabschnitt das geschildert, was wir wirklich erfahren, diejenige Form der Wirklichkeit, an der das Denken gar keinen Anteil hat."21

Die hier erfahrene Form der Wirklichkeit ist weit entfernt vom Typ "reine Sinnesdaten" sondern enthält zum Teil hochkomplexe gedankliche Entitäten. Man kann mit Recht darüber streiten, ob das Volkeltsche Beispiel glücklich gewählt ist für ein Weltbild, an dem das Denken "gar keinen Anteil hat", weil keiner der hier angeführten Erfahrungsinhalte tatsächlich unabhängig vom Denken am Wahrnehmungshorizont erscheinen könnte. Man kann sich natürlich darauf verständigen, daß elementare Wahrnehmung nicht aus reinen Sinnesdaten bestehen muß oder daß die erkenntnisgenetische Perspektive ausgeblendet werden kann. Im Prinzip reicht das aus, um die beziehungsstiftende Leistung des an dieser Wahrnehmung ansetzenden Denkens deutlich zu machen, bzw. um exemplarisch zu klären was denn an (wissenschaftlicher) Erkenntnis zustande beziehungsweise nicht zustande käme, wenn man sich des Denkens enthielte. Und darum geht es Steiner an dieser Stelle. "Reine Erfahrung" oder das "Gegebene" ist dann eben die gesamte Wahrnehmung abzüglich aktueller weiterverarbeitender, beziehungsstiftender Denkoperationen. Die Frage, wie das alles zustande kommt und welchen genetischen Anteil das Denken dabei hat, wird hier nicht gestellt ebensowenig wie die Frage, ob das Denken über seine beziehungsstiftende Leistung hinaus noch andere Funktionen hat; ob und wie es vielleicht auch beim Aufbau der sinnlich-anschaulichen Welt beteiligt ist? Solche Fragen sind möglich, aber sie müssen hier vielleicht (noch) nicht behandelt werden.

In "Wahrheit und Wissenschaft" wird das beziehungslose Aggregat als das "unmittelbar Gegebene" bezeichnet: "Was da an uns vorüberzieht, und woran wir vorüberziehen, dieses zusammenhanglose und doch auch nicht in individuelle Einzelheiten gesonderte Weltbild, in dem nichts voneinander unterschieden, nichts aufeinander bezogen ist, nichts durch ein anderes bestimmt erscheint: das ist das unmittelbar Gegebene."22

Das Verfahren, zu diesem "unmittelbar Gegebenen" zu kommen, ließe sich weder als reine wahrnehmungstheoretische noch als reine rationale, gedankenexperimentelle Rekonstruktion bezeichnen, aber es enthält Bestandteile nicht nur jener beiden sondern ansatzweise auch erkenntnisgenetische Gedankengänge. Die Rekonstruktion des "unmittelbar Gegebenen" beruht auf der einen Seite auf einem Verzicht der Bestimmung des "Gegebenen", der sowohl im Gedankenexperiment wie auch im realen Experiment durchgeführt werden könnte, und scheint gleichzeitig ein Prozeß der rationalen Elimination aller gedanklichen Bestandteile aus einem vorhandenen Weltbild zu sein. Welcher Rest nun verbleibt, dürfte zum guten Teil davon abhängen, wie man diese Elimination betreibt und wieweit man dabei geht. Die Vorgehensweise Steiners läßt hier eigentlich nur einen Schluß zu: Nach der Entfernung aller gedanklichen Bestandteile, bleibt kein Rest oder Rückstand von wahrnehmungsartigem Charakter. 22a

Das so erhaltene Weltbild liegt uns, wie Steiner meint, in keinem Augenblick unseres Lebens wirklich in dieser Form vor: "Die Grenze zwischen Gegebenem und Erkanntem wird überhaupt mit keinem Augenblicke der menschlichen Entwicklung zusammenfallen, sondern sie muß künstlich gezogen werden. Dies aber kann auf jeder Entwicklungsstufe geschehen, wenn wir nur den Schnitt zwischen dem, was ohne gedankliche Bestimmung vor dem Erkennen an uns herantritt, und dem, was durch letzteres erst daraus gemacht wird, richtig führen."23

Es gibt einen kleinen aber merklichen Unterschied in der Charakterisierung dieses "Gegebenen" im Vergleich zu den "Grundlinien....": Während dort noch hervorgehoben wird, die "reine Erfahrung" sei "ein Aggregat aus lauter zusammenhanglosen Einzelheiten"24 bzw. "eine unendliche Menge von Einzelheiten"25, heißt es in "Wahrheit und Wissenschaft", dieses Weltbild enthalte vor jeder gedanklichen Bestimmung auch keine "individuellen Einzelheiten". Steiner verweist ausdrücklich in einer Fußnote auf diesen Sachverhalt und schreibt dort: "Das Absondern individueller Einzelheiten aus dem ganz unterschiedlosen gegebenen Weltbild ist schon ein Akt gedanklicher Tätigkeit."26 Dieser Unterschied mag geringfügig erscheinen; wahrnehmungs- und kognitionspsychologisch ist er es allerdings nicht; vielleicht auch nicht im philosophisch-erkenntnistheoretischen Sinne. Wenn Steiner in "Wahrheit und Wissenschaft" schreibt, die Grenze zwischen Gegebenem und Erkanntem muß künstlich gezogen werden, so zeigt die Differenz in den beiden Schriften, daß es bei der in Rede stehenden Grenzziehung offenbar auch bei Steiner selbst unterschiedliche Auffassungen über das "Wo" gab.

Steiners Methode und seine Resultate verdienen es sicherlich noch einmal genauer vergleichend und auf ihre logische Struktur hin betrachtet zu werden. Eine erkenntnistheoretisch-psychologische Bezugnahme auf analoge Vorhaben von anderer Seite könnte für die Heuristik eines solchen Vergleichs sehr fruchtbar sein. Wie auch immer man zu seiner Methode im einzelnen und ihren Resultaten stehen mag, die Problemstellung als solche wurde jedenfalls auch von reinen Fachpsychologen aufgegriffen und darauf wollte ich hinaus. Eine Passage von Wolfgang Köhler, die den Forschungsstand seiner Zeit schlaglichtartig beleuchtet, zeigt uns dies beispielhaft. Köhler skizziert diesen Forschungsstand in eher kritischer Absicht wie folgt: "Wenn man versucht, sich unbefangen im Gebiet der anschaulichen Welt umzutun, muß man auf Protest gefaßt sein. Wenn ich (als Psychologe) sage, daß ich ein Buch vor mir sehe, wird bereits Einspruch erfolgen, weil ein «Buch» nicht etwas sei, das man sehen kann. Hebe ich das Buch zwischen meinen Fingern auf, so werde ich geneigt sein zu sagen, daß ich sein Gewicht außerhalb meiner Finger und im Innern des Bereiches spüre, in dem ich das Buch auch sehe. Hier würden konservative Kritiker bemerken, daß meine Aussage typisch die eines ungeschulten Beobachters sei; sie reiche für die praktischen Bedürfnisse des gewöhnlichen Lebens gewiß vollkommen aus, unterscheide sich aber durchaus von der Beschreibung, welche ein geübter Psychologe geben würde. Selbst wenn ich das Buch als einen «Gegenstand» oder ein «Ding» bezeichnete, wie ich das unbefangen sicher tun würde, so hätte ich nach diesem kritischen Urteil gegen die Vorschriften korrekter psychologischer Beschreibung verstoßen. Solle die Beobachtung uns einfache und echte Daten als Elemente des Anschaulichen geben, dann müßten wir uns an die ganz fundamentale Unterscheidung zwischen «Empfindung» und «Wahrnehmung» gewöhnen, d.h. zwischen dem reinen Sinnesmaterial, welches uns als solches wirklich vorliege, und einer wahren Flut andersartiger Zutaten, welche seit unserer frühen Kindheit als Erfahrungsbesitz mit jenem reinen Material vereinigt worden seien. So sagt man mir, ich könne kein «Buch» sehen; denn die Anwendung dieses Ausdruckes setze vorgängige Kenntnis einer bestimmten Art von Dingen voraus, zu welcher das vorliegende Objekt gehört, außerdem ihrer Verwendungsart und dergleichen mehr, während reines Sehen natürlich solche Kenntnis nicht enthalte. Als Psychologen hätten wir all unser Wissen sorgfältig von dem Gesehenen als solchem, d.h. der Mannigfaltigkeit einfacher Empfindungen, abzutrennen."27

Was die von Köhler skizzierten Psychologen tun, ist in Methode und Fachterminologie vielleicht etwas abgewandelt, aber im Prinzip eben dasselbe, was Steiner in den epistemischen Grundschriften vorführt, um zum Begriff der "reinen Erfahrung" bzw. zu dem des "Gegebenen" zu gelangen: Aussonderung aller gedanklichen Zutaten zum Material der (Sinnes)Erfahrung. Soweit dies aus der Köhlerschen Passage hervorgeht, sind sie auf der Suche nach elementaren Erfahrungen nach der Art "reiner Sinnesdaten" bzw. nach den originären Funktionen der Sinneswahrnehmung und wie das Beispiel zeigt, sind sie bei dieser Suche von denselben Problemstellungen umgeben wie der Erkenntnistheoretiker Steiner: Wieweit prägt das Denken die Wahrnehmung? Was leistet das Denken beim Aufbau der Wirklichkeit? Gibt es elementare Sinnesdaten? Wie können wir die gedanklichen Zutaten aus der Wahrnehmung wieder herauslösen? und so fort.

Man möchte sich natürlich fragen: treiben die Psychologen Erkenntnistheorie oder treiben die Erkenntnistheoretiker Psychologie? Es scheint, wenn man das Augenmerk ausschließlich auf die empirischen Befunde richtet und weniger auf die Systematik der Wissenschaft, jeweils beides zu sein. Bemerkenswert und festzuhalten ist, daß ein basales Ziel der Steinerschen Philosophie von den Fachpsychologen in analoger Weise verfolgt worden ist. Und da sie wenigstens im Prinzip dieselbe Methode anwenden wie Steiner, kann man wohl unterstellen, daß die von Steiner behandelte Fragestellung in jener Zeit außerordentlich virulent war (und es immer noch ist).

Die psychologische Suche nach der "reinen Erfahrung" oder nach "reinen Sinnesdaten" scheint weitgehend dasselbe zutage zu fördern wie die erkenntnistheoretische Suche. Entblößt man das Weltbild von allem, was das Denken ihm hinzugefügt hat, dann stellen sich notwendig drei Fragen: Bleibt überhaupt noch etwas übrig, wenn man diese Herauslösung des Gedanklichen nur konsequent genug durchführt und wenn ja, ergibt es irgendeinen Sinn, den eventuell verbleibenden Rest mit dem Prädikat "Wirklichkeit" auszustatten? Sollte dieser Rest bedeutungslos sein oder sich gar nicht finden lassen, worauf stützen wir dann überhaupt unseren Glauben an die Wirklichkeit, wenn für diesen Glauben auf der Sinnesseite kein Fundament zu ermitteln ist?

Ende Kapitel 3             


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