Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Anthroposophie und wissenschaftliche Selbstbeobachtung

(Stand 12.07.01)

Kapitel 3

Notwendigkeit der Ausbildung zur inneren Beobachtung

Von Wilhelm Wundt stammt die ironische Bemerkung, man halte offenbar die Selbstbeobachtung für eine "ebenso natürliche, aller wissenschaftlichen Anwendung vorausgehende Fähigkeit ... wie das Essen und Trinken".22 Daß dem nicht so sei versteht sich für ihn von selbst, und mit ihm teilt diese Ansicht der Psychologe Oswald Külpe. In seinen "Vorlesungen über Psychologie" betont Külpe, daß die Methode der Selbstbeobachtung "ganz von der Güte der Versuchsperson [sprich des Selbstbeobachters] abhängt, von deren Fähigkeit und Neigung zu beobachten, von ihrer Übung und Gewöhnung an diese Aufgabe, von ihrer Disposition und Stimmung." Darum, so Külpe, "spielt die Ausbildung der Versuchsperson zur Selbstbeobachtung eine beträchtliche Rolle..."23

Zunächst gilt für die Methode der inneren Selbstbeobachtung im Prinzip derselbe Tatbestand wie für die Formen "äußerer" Beobachtung: je größer die Erfahrung im Umgang mit den jeweiligen Untersuchungsgegenständen, je umfangreicher der einschlägige Sprachschatz und Begriffsvorrat, desto reicher wird der jeweilige Beobachtungsinhalt. Dies deswegen, weil der ungeübte Beobachter den größten Teil der Phänomene schlicht übersieht; er hat von ihrer Existenz keine Kenntnis und demgemäß richtet sich auch seine Aufmerksamkeit nicht darauf. Diese ist auf diejenigen Erscheinungen fokussiert, mit denen er in irgend einem Sinne vertraut ist.

G. E. Müller kommt aus den Erfahrungen seiner psychologischen Praxis heraus zu solchen Überlegungen. Er macht darauf aufmerksam, daß schon bei vergleichsweise einfachen Beobachtungsgegenständen Geübtheit oder Unerfahrenheit in der Selbstbeobachtung von großer Relevanz sind. Dies insbesondere, weil die meisten psychischen Vorgänge sich gegenüber der Außenweltwahrnehmung durch weit geringere Intensitäts- und Deutlichkeitsgrade auszeichnen. Die Erlebnisse sind flüchtig und vage und prägen sich dem Beobachter nur wenig ein.24 Müller betont denn auch, wie wesentlich ein entsprechendes Sachinteresse und einschlägige psychologische Sachkenntnisse beim Beobachter sind und kommt im Hinblick auf sein spezielles Forschungsfeld zu dem Fazit, "daß die rückschauende Selbstbeobachtung des in richtiger Weise ausgebildeten und geübten Psychologen bei den gleichen Versuchen im allgemeinen erfolgreicher ist als diejenige des ungeübten Laien. "25

Insbesondere die Vagheit und Flüchtigkeit der Innenerlebnisse wird immer wieder betont. Die innere Beobachtung unterscheidet sich von der externen wesentlich im Hinblick auf die seelische Kraft, die der Beobachter benötigt, um Wahrnehmungen deutlich und dauerhaft zu haben. Diese Kräfte werden wegen des subtilen Charakters der seelischen Phänomene in einem viel höheren Maße beansprucht, als dies für die Beobachtung externer Gegenstände gilt, welche die Aufmerksamkeit in der Regel sehr viel stärker zu fesseln vermögen. Oswald Külpe zählt daher zu den großen Schwierigkeiten der Selbstbeobachtung "an erster Stelle die Flüchtigkeit und Veränderlichkeit der psychischen Tatsachen, die ihre genaue und adäquate Erfassung außerordentlich erschwert." Und weiter: "Die Empfindungen, die Sinneseindrücke halten noch am besten stand; aber schon bei ihnen machen Faktoren wie das Anklingen und Abklingen, der Einfluß der Umgebung, der Ermüdung und andere, z. B. die Fixierung einer Qualität schwierig. Vollends zeigt sich dieser Mangel an Beständigkeit als ein Hindernis für die Erkenntnis der Gefühle, Vorstellungsbilder, Gedanken, wo auch die Konstanz der Sinnesreize fortfällt, die dort das Festhalten erleichtert."26

Oswald Külpe spricht von weiteren Grundbedingungen der Selbstbeobachtung. Er betont die "beträchtlichen moralischen Anforderungen" der Versuchspersonen. Eine "strenge Regelung der Lebensweise" wird gegebenenfalls verlangt, "Pflichtbewußtsein" und "Herrschaft über sich selbst", "Sachlichkeit" und "Ausschaltung der persönlichen Interessen".27

Ohne eine entsprechende Vorbereitung, Ausbildung oder Schulung der intellektuellen, affektiven und moralischen Voraussetzungen, ist also auf dem Felde einer wissenschaftlichen Innenbeobachtung nicht viel zu gewinnen. Wenn Steiner zur Durchführung von Meditiationsübungen verlangt, daß hierzu die nötigen Rahmenbedingungen herzustellen seien, insofern innere Ruhe, Affektkontrolle, Konzentration und Kraft der Vorstellung in hinreichendem Maße gefordert werden; wenn er auf eine gezielte Schulung der geistigen und moralischen Kräfte zur Selbsterkenntnis hinweist, so ließe sich diese Forderung ohne Umschweife als eine Grundbedingung einer Wissenschaft der inneren Beobachtung kennzeichnen. Sie findet sich direkt oder implizit ausgesprochen in einem von G.E. Müller erstellten Maßnahmenkatalog für Versuchsleiter 28 und in Külpes "Vorlesungen über Psychologie".29 Sie stehen dort aber lediglich als wissenschaftliche Forderungen - abgesehen von Steiner macht sich niemand die Mühe, einen Weg ihrer konkreten und systematischen Umsetzung zu entwickeln.

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