Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Anthroposophie und wissenschaftliche Selbstbeobachtung

(Stand 12.07.01)

Kapitel 5

Steiners Antwort auf spezifische Probleme der Selbstbeobachtung

Rudolf Steiner waren die basalen Schwierigkeiten, denen sich die Psychologie seiner Zeit ausgesetzt sah, durchaus vertraut. Im Rahmen einer der seltenen öffentlichen Auseinandersetzungen mit psychologischen Zeitgenossen kommt er auf die methodischen Bedenken Wilhelm Wundts gegenüber der Selbstbeobachtung zu sprechen: "Das bloße Versenken in das eigene Innere, die Selbstbeobachtung", so Steiner, "hat bei den Fachpsychologen wesentlich an Vertrauen eingebüßt. Wundt hat sich gegen sie in der schärfsten Weise gewendet. Er fragt: Was hat denn die Psychologie durch die Selbstbeobachtung gewonnen? Wenn ein Bewohner einer anderen Welt auf unsere Erde herabstiege und aus den Lehrbüchern der Psychologie auf die Natur der menschlichen Seele schließen wollte, so würde er wahrscheinlich zu dem Ergebnis kommen, daß sich die verschiedenen Schilderungen der Psychologen, die alle ihre Anschauungen aus der Selbstbeobachtung gewonnen haben wollen, auf Wesen ganz verschiedener Welten bezögen."36

Wundts methodisches Unbehagen gegenüber der Selbstbeobachtung teilt er durchaus, ihre rigide Ablehnung wegen der beträchtlichen Sicherungsprobleme eines solchen Vorgehens will er jedoch nicht gelten lassen: "Es ist unbedingt richtig", so Steiner weiter, "daß die Selbstbeobachtung eine reiche Quelle von Irrtümern ist. Aber ebenso zweifellos ist es, daß uns nichts intimer, unmittelbarer bekannt ist als gerade unser eigenes Innere. Was wir auch sonst beobachten mögen: es bleibt uns ein Äußeres. Wir können nicht in seinen Kern dringen. Im Kreise unserer seelischen Erscheinungen stehen wir mitten drinnen. Sie stehen uns also nahe wie nichts anderes in der Welt. Sollte das nicht zugleich die Ursache davon sein, daß wir bei der Beobachtung dieser Erscheinungen so vielen Fehlern ausgesetzt sind? Objektivität und Unbefangenheit ist dem Nahen gegenüber gewiß schwieriger als dem Entfernten gegenüber. Weil die Selbstbeobachtung etwas so Unmittelbares ist, darum wird sie wohl auch eine schwierige sein."37

Bei Steiners eigenen Verfahrensvorschlägen fällt eines ins Auge: was ihn deutlich von den Fachwissenschaftlern seiner Zeit abhebt, ist die ausgesprochen pragmatische Orientierung seines Vorgehens. Steiner bleibt nie dabei stehen, Probleme zu benennen, sondern er liefert stets praktische Verfahren, wie bestimmten Schwierigkeiten zu begegnen ist.

Beispiel Distanzierung: Die Nähe der seelischen Erscheinungen führt zwangsläufig auf die Frage nach der Distanzierung von ihnen, damit eine unbefangene und objektive Untersuchung möglich wird. Dabei kann sich die Nähe sehr verschieden auf den Beobachtungsvorgang auswirken. Sie kann dazu führen, daß sich die Beobachtungsabsicht vor die wahrgenommenen Erscheinungen legt, sodaß nicht mehr zu erkennen ist, ob die letztere nicht lediglich unter dem suggestiven Einfluß der Beobachtungsabsicht zustande kam. Sie kann ferner dazu führen, daß bestimmte Erscheinungen einfach verschwinden - auf diesen Umstand deutete Brentano im Falle der Gefühlsbeobachtungen hin. Sie kann - eine etwas andere Variante des Verschwindens - zu Verdrängungen führen; hier wird eine Erscheinung, die vielleicht unangenehme Folgen für die Selbstbewertung des Beobachters hat, ausgeblendet, d.h. sie gelangt gar nicht erst zur Wahrnehmung.

Diese Nähe kann so bedrückend empfunden werden, daß, wie im Falle Wundt`s, eine wissenschaftliche Selbstbeobachtung kategorisch abgelehnt beziehungsweise drastisch auf einfachste Phänomene der Sinneswahrnehmung beschränkt wird. F.A. Lange schlägt vor, emotionale Distanz auf mehr technischem Wege, z.B. über Protokolle zu erreichen. Der Beobachter schreibt zunächst auf, was ihm an innerer Wahrnehmung begegnet - etwa Gedanken oder Gefühle - und versucht durch nachträgliche Überprüfung Ordnung und Zusammenhang in das solchermaßen Festgehaltene zu bekommen. Dabei muß die Arbeit der Deutung und des Zusammenhang-Stiftens nicht notwendig vom Wahrnehmenden selbst durchgeführt werden, wie etwa die Vorgehensweise der Psychoanalyse zeigt.

Einen anderen Weg versucht Johannes Volkelt zu beschreiten, indem er über ein systematisches Training, zumindest partiell, das seelische Gefüge des Beobachters zu verändern sucht. Auch hier ist eine Form von Distanzierung das Ziel, wobei es im geschilderten Fall um die Zurückdrängung der Beobachtungsabsicht ging.

Um emotionale Distanz zu erreichen, wird auch bei Steiner eine gezielte Veranlagung seelischer Kräfte gefordert. So nennt er als eine allererste Bedingung zur Selbsterkenntnis im Sinne der Anthroposophie die Ausbildung der Fähigkeit zur Selbstdistanzierung. Das Subjekt muß in der Lage sein, von den persönlichen Belangen soweit Abstand zu gewinnen, daß es imstande ist, sich wie einem völlig Fremden gegenüberzustehen.

Dieses Vermögen wird ausgebildet in regelmäßig einzurichtenden Zeiten kontemplativer, distanzierter Selbstbetrachtung: "In dieser Zeit soll der Mensch sich vollständig herausreißen aus seinem Alltagsleben. Sein Gedanken-, sein Gefühlsleben soll da eine andere Färbung erhalten, als sie sonst haben. Er soll seine Freuden, seine Leiden, seine Sorgen, seine Erfahrungen, seine Taten vor seiner Seele vorbeiziehen lassen. Und er soll sich dabei so stellen, daß er alles das, was er sonst erlebt, von einem höheren Gesichtspunkte aus ansieht. Man denke nur einmal daran, wie man im gewöhnlichen Leben etwas ganz anders ansieht, was ein anderer erlebt oder getan hat, als was man selbst erlebt oder getan hat. Das kann nicht anders sein. Denn mit dem, was man selbst erlebt oder tut, ist man verwoben; das Erlebnis oder die Tat eines anderen betrachtet man nur. Was man in den ausgesonderten Augenblicken anzustreben hat, ist nun, die eigenen Erlebnisse und Taten so anzuschauen, so zu beurteilen, als ob man sie nicht selbst, sondern als ob sie ein anderer erlebt oder getan hätte. ... Der Geheimschüler muß die Kraft suchen, sich selbst in gewissen Zeiten wie ein Fremder gegenüberzustehen. Mit der inneren Ruhe des Beurteilers muß er sich selbst entgegentreten."38

Entscheidend ist für Steiner nicht so sehr der jeweilige Gegenstand der Betrachtung, sondern die seelische Kraft, welche dabei entfaltet werden muß: "Der Wert solcher inneren, ruhigen Selbstschau", so Steiner weiter, "hängt viel weniger davon ab, was man dabei erschaut, als vielmehr davon, daß man in sich die Kraft findet, die solche innere Ruhe entwickelt."39

In erster Annäherung ist Steiners Vorgehensweise in ihrer Intention vergleichbar mit jener, die F.A. Lange einigermaßen brauchbare Resultate bei der Selbstbeobachtung zu garantieren schien. Weil der Beobachter in so hohem Maße und so vielfältig in die beoachteten Erscheinungen involviert ist, lautet die zentrale Forderung Langes an eine introspektive Untersuchung: Distanzierung von diesen Erscheinungen. Bei Lange heißt dies zeitliche Distanzierung zwischen Beobachtung und Interpretation auf dem Wege eines Protokollverfahrens. Er verspricht sich durch das nachträgliche Prüfen des solchermaßen fixierten Vorstellungsverlaufs einen positiven Effekt hinsichtlich der Elimination der Einflüsse von "vorgefaßten Ansichten und Neigungen" (s.o.). Es stellt sich allerdings die Frage, wie weit durch zeitliche Distanzierung die von ihm verlangte "Unbefangenheit" tatsächlich erreichbar ist. Insbesondere ein Tatbestand wie die "Verdrängung" zeigt, daß die erwähnte Befangenheit schon bei der Wahrnehmung gewisser psychischer Erscheinungen zur Geltung kommt und somit Teilbereiche des Wahrnehmbaren schlicht ausgeblendet werden.

Steiner schlägt einen anderen Weg ein: der Beobachter veranlagt bei sich die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung als ein dauerhaftes persönliches Vermögen. Der Vorteil einer solchen Vorgehensweise scheint mir darin zu liegen, daß eine solche Fähigkeit, wenn sie einmal erworben ist, schon auf der Wahrnehmungsseite wirksam wird und nicht erst dann, wenn eine bestimmte Wahrnehmung zwar gemacht, aber noch nicht begrifflich eingeordnet ist. Wahrnehmungen, und insbesondere interne Wahrnehmungen, sind, wie die vorangehende Erörterung der Methodenprobleme zeigte, von den (theoretischen) Erwartungen des Beobachters abhängig, von der Begrifflichkeit, die ihm zur Verfügung steht, bestimmte Phänomene als solche überhaupt erst einmal zu lokalisieren, und letztendlich sind sie auch abhängig von seinen individuellen Wertmaßstäben im weitesten Sinne. Wenn nun eine Beobachtung gemacht werden könnte, welche möglicherweise Konsequenzen für den entsprechenden Erwartungshintergrund oder die Selbsteinschätzung des Beobachters hat, so ist anzunehmen, daß bestimmte Dinge gar nicht bemerkt werden, weil sie auf einen für solche Erscheinungen "indisponierten" Beobachter auftreffen und entsprechend natürlich auch nicht in die weitere Begriffsbildung einfließen können. Dieses Dilemma ist auch beim Langeschen Protokollverfahren nicht auszuschließen, da es nicht primär wahrnehmungswirksam, sondern deutungswirksam ist - von ihrer technischen Umsetzung ganz zu Schweigen. Eine entsprechende Disposition entfaltet dagegen sowohl auf der Perzeptionsseite als auch auf der interpretativen Seite ihre Wirksamkeit.

Befangenheit, Vorurteile, Starrheit festgelegter Ansichten, moralische Unzulänglichkeit - für F.A. Lange die größten Hindernisse einer Psychologie der Selbstbeobachtung. Bei der Analyse der Steinerschen Methode, vor allem derjenigen Empfehlungen, die gelegentlich unter das Stichwort "Nebenübungen" subsummiert werden,40 offenbart sich die Vielschichtigkeit, mit der er den genannten Schwierigkeiten der Selbstbeobachtung begegnet. Neben die Fähigkeit der inneren Distanz treten simultan andere Eigenschaften, die zunächst im weitesten Sinne der Wahrnehmungsdifferenzierung des Selbstbeobachters dienen können. Wenn Steiner etwa verlangt, der Geheimschüler habe sich systematisch die Eigenschaft der Positivität zu erwerben, dann hat dies selbstredend auch entsprechende Folgen für die Selbstwahrnehmung und - beurteilung, insofern wir uns in denselben Kategorien, die wir auf die restliche Welt richten, auch selber wahrnehmen und bewerten. Jede Differenzierung und Versachlichung dieser Kategorien muß auch den Horizont der Selbstwahrnehmung erweitern und vertiefen. In diesem Sinne ist auch die Aneignung von innerem Gleichmut oder Unbefangenheit gegenüber neuen Erfahrungen bei der Selbstwahrnehmung wirksam.41

Es ist nicht zu übersehen, daß all diese Maßnahmen erhebliche moralische Implikationen haben und dies ist auch von Steiner beabsichtigt und von der Sache her notwendig. Er legt seine Übungen gezielt so an, daß der Schüler das Erforderliche aus eigener Einsicht erwerben kann. So heißt es in der "Geheimwissenschaft": "Wer diese Übungen in genügendem Maße macht, wird während derselben auf manche Mängel und Fehler seines Seelenlebens stoßen; und er wird die gerade ihm notwendigen Mittel finden zur Kräftigung und Sicherung seines intellektuellen, gefühlsmäßigen und Charakterlebens."42

Auf die Notwendigkeit eines sachlichen Denkens wies Oswald Külpe eigens hin. Für Steiner ist es eine grundlegende Bedingung, die der Geheimschüler zu erfüllen hat.43 Er bleibt bei der Forderung allein jedoch nicht stehen, sondern zeigt, wie pragmatisch verfahren werden kann. Zum Erwerb der geforderten Selbstkorrektur empfiehlt er ein regelmäßiges Denktraining über längere Zeit und zwar anhand möglichst einfacher Inhalte, weil deren Durchschaubarkeit eine Gewähr dafür ist, daß auch tatsächlich sachgemäß gedacht wird. Steiner weiter: "Deshalb sollen entsprechende >>Denkübungen<< nicht an fernliegenden und komplizierten Gegenständen vorgenommen werden, sondern an einfachen und naheliegenden. Wer sich überwindet, durch Monate hindurch täglich wenigstens fünf Minuten seine Gedanken an einen alltäglichen Gegenstand (zum Beispiel eine Stecknadel, einen Bleistift usw.) zu wenden, der hat nach dieser Richtung hin viel getan...Denn wenn man eine Zeitlang die Gedanken heftet an etwas, was einem ganz bekannt ist, so kann man sicher sein, daß man sachgemäß denkt. Wer sich frägt: Welche Bestandteile setzen einen Bleistift zusammen? Wie werden die Materialien zu dem Bleistift vorgearbeitet? ...und so weiter: ein solcher paßt seine Vorstellungen sicher mehr der Wirklichkeit an als derjenige, der darüber nachdenkt, wie die Abstammung des Menschen ist oder was das Leben ist."44

Wie weitreichend und tiefgreifend die Steinersche Methode die psychologischen Rahmenbedingungen der Selbstbeobachtung in den Blick faßt, kann das folgende Beispiel verdeutlichen. Man kann das, was dort von ihm dargelegt wird, als eine Form der Selbsterziehung bezeichnen, die bis in subtilste Zusammenhänge des Seelen und Erkenntnislebens ihre Auswirkungen zeitigt. Gerade auf diese sublimen Zusammenhänge richtet die Steinersche Methode ihr Augenmerk. Er geht davon aus, daß ein kognitives, logisches Urteil nicht nur das Resultat einer isolierten Ratio ist, sondern daß hier emotionale Bewertungen mit ins Spiel kommen. Bezeichnenderweise versucht er nun nicht etwa, diese Bewertungsinstanz auszuschalten, sondern sie zu aktivieren, indem er sie auf einen speziellen Wertebereich hinorientiert - den der Wahrheit.

Er schreibt: "Man muß sich zunächst gewisse Gefühle aneignen, die man im gewöhnlichen Leben nur zu einem geringen Grade kennt...Zu den wichtigsten gehört eine höhere Empfindlichkeit gegenüber von >>wahr<< und >>unwahr<<, von >>richtig<< und >>unrichtig<<. Gewiß hat ja auch der gewöhnliche Mensch ähnliche Gefühle. Sie müssen aber eben bei dem Geheimschüler in einem viel höheren Maße ausgebildet werden. Man nehme an, jemand begehe einen logischen Fehler: ein anderer sieht diesen Fehler ein, und stellt die Sache richtig. Man mache sich klar, wie groß der Anteil des Urteiles, des Verstandes bei einem solchen Richtigstellen ist und wie gering das Gefühl der Lust beim Richtigen, der Unlust beim Unrichtigen. ... Ganz systematisch muß der Geheimschüler die Aufmerksamkeit auf sein Seelenleben lenken: und er muß es dahin bringen, daß ihm das logisch Unrichtige eine Quelle des Schmerzes wird, der durchaus nicht hinter dem physischen Schmerze zurückbleibt; und in umgekehrter Art muß ihm das >>Richtige<< wirkliche Freude oder Lust bereiten. Wo also ein anderer nur seinen Verstand, seine Urteilskraft in Bewegung bringt, muß der Geheimschüler lernen, die ganze Stufenfolge von Gefühlen, vom Schmerz bis zum Enthusiasmus, von der wehevollen Spannung bis zur entzückenden Lösung im Besitz der Wahrheit zu durchleben. Ja, er muß etwas wie Haß empfinden lernen gegen dasjenige, was beim >>normalen<< Menschen nur als ein nüchtern-kaltes >>Unrichtiges<< erlebt wird; er muß eine Liebe zur Wahrheit in sich entwickeln, welche einen ganz persönlichen Charakter trägt; so persönlich, so warm wie der Liebende der Geliebten gegenüber empfindet."45

Es braucht kaum betont zu werden, daß ein Beobachter, der entsprechend den Steinerschen Anregungen sensibilisiert und geschult ist, gegenüber den Tatsachen seiner Innenwelt in einer ganz anderen Wahrnehmungs- und Beurteilungsverfassung ist als ein ungeschulter. Man könnte bis ins Einzelne die Steinerschen Vorschläge zur Methodologie durchgehen und zeigen, wie sehr sie auch als Antwort auf die Probleme der wissenschaftlichen Selbstbeobachtung zu begreifen sind. Sie sind natürlich nicht nur dies, sondern im Steinerschen Verständnis weit mehr, aber vor allem der Aspekt Selbstbeobachtung ist an dieser Stelle von Interesse. Der wissenschaftliche Wert der Steinerschen Vorgehensweise zeigt sich in seiner vollen Dimension gerade wenn man die Auseinandersetzung der zeitgenössischen Psychologie um die Methode der Selbstbeobachtung studiert.

Ende Kapitel 5             


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