Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung

(Stand 25.08.05)

Kapitel 6.5

Marcelo da Veiga Greuel

Von allen untersuchten Publikationen behandelt die Arbeit von Marcelo da Veiga Greuel 62 das Thema der Beobachtungsaporie am konsequentesten und mit der größten Stringenz in der Sache, so daß sich sagen läßt: er steht von allen hier behandelten Autoren am dichtesten vor einer Auflösung dieser Frage. Seine Arbeit fällt vor allem durch eine auf den ersten Blick unspektakuläre, aber gleichwohl bemerkenswerte erkenntnispsychologische Einzelheit auf: Da Veiga Greuel sagt - als einziger der hier behandelten Autoren, soweit ich sehen kann - sachlich angemessen was geschieht, wenn wir versuchen, unser aktuelles Denken zu beobachten. Bemerkenswert ist dieses Detail vor allem deswegen, weil sich dieses Resultat nur aufweisen läßt, wenn man zumindest implizit über einen tragfähigen Begriff von Denk-Beobachtung verfügt und diesen auch zutreffend auf die empirische Erfahrung des Denkens anwendet. Was seiner Auseinandersetzung mit der Beobachtungsfrage indessen fehlt, ist eine ebenso konsequente Fortführung des eigenen Denkansatzes. Konkret ist damit gemeint: dem Steinerschen Begriff von Denk-Beobachtung hätte er weiter nachgehen und vor allem dessen Spaltungsargument mehr als nur von weiter Ferne in die Überlegungen einbeziehen sollen, und zu einem solchen Abschluß kommt es leider in seiner Darstellung nicht.

Da Veiga Greuels Arbeit zeigt daneben ein weiteres interessantes Detail: Er ist es auch, der immerhin - man möchte sagen: aus überaus vorsichtiger Distanz - auf das Spaltungsargument hinweist. Sein Vorgehen bei dieser Erwähnung ist jedoch ebenso irritierend wie charakteristisch. Man hat den Eindruck, als scheue er davor zurück, dieses Argument mit Steiner unmittelbar in Zusammenhang zu bringen. So zitiert er wohl den zentralen Steinerschen Passus, der dieses Argument enthält, aber er läßt Steiner dann nicht selbst mit dieser Begründung zu Wort kommen, sondern nimmt das Spaltungsargument aus Steiners Gedankengang heraus. Stattdessen bedient er sich der Hilfe einer Art von Mittelsmännern und läßt diese das Spaltungsargument vortragen, und auch dies nur äußerst diskret im Rahmen einer Anmerkung und ohne jeden Hinweis auf die entsprechende Parallele bei Steiner. Hätte ein Leser mit dem Steinerschen Spaltungsargument in der "Philosophie der Freiheit" nicht bereits Bekanntschaft gemacht, er käme nicht entfernt darauf, daß auch Steiner dieses Argument vorbringt, und schon gar nicht an einer so exponierten Stelle.

Kommen wir zu da Veiga Greuels expliziter Behandlung der Beobachtungsaporie. So schreibt er (S. 43): "Das Denken zu erkennen, bedeutet, es zum Gegenstand seiner selbst zu machen. Da aber alles Denken, wenn es in seiner Erkenntnisfunktion verwendet wird, auf Beobachtbares bezogen sein muß, muß es, im Falle der Selbsterkenntnis des Denkens, zuvor als empirischer Sachverhalt vorliegen. Das Denken als Objekt einer wissenschaftlichen Untersuchung bildet insofern keine Ausnahme gegenüber anderen möglichen Objekten, als es auch zunächst als Vorkommnis innerhalb des Bewußtseins aufgesucht werden muß. Denn für Steiner besteht Wissenschaft grundsätzlich nur in der denkenden Erschließung eines empirisch Gegebenen." Im Hinblick auf seine empirische Untersuchung genießt das Denken keine Vorzugsbehandlung gegenüber anderen Gegenständen der Erkenntnis. Es muß wie jeder andere empirische Sachverhalt in der Erfahrung vorliegen. Das ist das Credo der Steinerschen Erkenntniswissenschaft.

Weil sich nun aber das Denken selbst zu beobachten und zu erkennen hat, entsteht aus dieser Selbstreflexivität der Denk-Beobachtung ein gewisses Dilemma: das aktuelle Denken ist nicht zu beobachten: "Das Denken als die interpretativ erschließende Betrachtung des empirisch Gegebenen, ist an die Relation des Gegenüberstehens gebunden. Das gegenwärtige Denken läßt sich dabei nicht zugleich beobachten oder betrachten, da es erst im Moment des Hervorbringens entsteht und infolge dessen sich nicht selbst gegenüberstehen kann. Der Versuch, das Denken in seinem jeweils aktuellen Verlauf gleichzeitig zu betrachten, führt unweigerlich zur Unterbrechung des Denkvorganges und damit zum Verschwinden des Objektes." schreibt da Veiga Greuel auf S. 43 in Bezug auf Steiners Aussage, daß ich mein gegenwärtiges Denken nie beobachten kann (GA-4, S. 43). Er stellt in diesem Zusammenhang positiv dar, was tatsächlich geschieht, wenn wir versuchen unser aktuelles Denken zu beobachten: - das beobachtete Denken verschwindet, weil wir es dann unterbrechen müssen. Diese Feststellung da Veiga Greuels ist wirklich bemerkenswert, weil sie den Tatsachen entspricht und eine grundlegende Einsicht in den psychologischen Sachzusammenhang und in die Steinerschen Gedankengänge verrät. Er hat Wesentliches zusammengetragen, um die Beobachtungsaporie aufzuklären: es ist das Denken, welches das Denken beobachtet, und wenn sich das beobachtende Denken auf das gegenwärtige Denken richtet, dann muß das letztere gleichsam weichen - deswegen ist es in seinem aktuellen Verlauf nicht zu betrachten.

Da Veiga Greuel hat auf dem Wege zur Klärung der Aporie praktisch den Schlüssel schon im Schloß herumgedreht, hat sie im Grundsatz schon gelöst - aber er macht die Tür nicht auf. Das heißt, er reflektiert nicht konsequent zu Ende, was er da eigentlich geleistet hat. Er zeigt, was es heißt, sein Denken zu beobachten, und er zeigt positiv, was geschieht, wenn wir unser aktuelles Denken beobachten wollen, daß nämlich dann das beobachtete Denken quasi verschwindet. Aber er fragt sich jetzt nicht weiter unter welchen Umständen es gegebenenfalls »nicht« verschwinden würde. Und die Antwort auf diese Frage müßte lauten: unter den Bedingungen einer Persönlichkeitsspaltung.

Gerade angesichts seiner bis hierhin so stringenten Vorgehensweise ist es erstaunlich zu sehen, wie er mit dem Spaltungsargument verfährt. Man kann nicht direkt sagen, daß er es ignoriert; man kann aber auch nicht sagen, daß er es dem Leser mehr als in äußerster Oberflächlichkeit vorstellt. Er erwähnt es nur am Rande und nur auf Umwegen. Er deutet in Anmerkung 15, S. 43 auf eine argumentative Rezeptionslinie von Comte über Brentano und schreibt dort: "Auf das Problem der Beobachtbarkeit des Denkens verweist bereits A. Comte: «Das denkende Individuum kann sich nicht in zwei zerteilen, von welchen das eine nachdenkt, während das andere es nachdenken sieht.» (In F. Brentano, «Psychologie vom empirischen Standpunkt» I, Hamburg 1973; S. 41)." Daß Steiner aber selbst dieses Argument explizit an zentraler Stelle einsetzt, und zwar als begründende Fortführung jener Passage, die da Veiga Greuel anfänglich selbst zitiert, erwähnt und diskutiert er nicht. Der Leser erfährt absolut nichts über Steiners Verwendung des Spaltungsargumentes. 63 Das heißt: er führt den entscheidenden Passus aus dem dritten Kapitel der "Philosophie der Freiheit" nur rudimentär an, läßt aber dann nicht Steiner sondern andere mit dem Spaltungsargument zu Wort kommen, und sagt noch nicht einmal, daß es bei Steiner überhaupt auftritt. Er zitiert Steiner, ohne dieses Argument als essentiellen inhaltlichen Bestandteil mit in das Zitat aufzunehmen, geschweige denn es ernsthaft zu reflektieren und ihm hinsichtlich seiner inhaltlichen und erkenntnistheoretisch-methodischen Dimensionen weiter nachzugehen. Die ganze Steinersche Gedankenfolge von Behauptung und Begründung der Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens wird auf diesem Wege auseinandergebrochen und zum Torso, denn Steiners Auffassung von der Unbeobachtbarkeit ist ohne diese Rechtfertigung nicht einmal mehr die Hälfte wert, weil dieses Argument eine Schlüsselaussage innerhalb seines Gedankenganges ist, indem es der Steinerschen These in maßgeblichem Umfang überhaupt erst die argumentative Substanz verleiht und sichert, und zugleich den Beobachtungsbegriff näher spezifiziert.

Denn eines ist in diesem Zusammenhang noch einmal zu betonen: es gibt zwei Steinersche Argumente die Beobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens betreffend. Das eine ließe sich als »Gegebenheitsargument« bezeichnen, was soviel heißt wie: das Denken kann nur beobachtet werden, wenn es als empirischer Sachverhalt vorliegt. Das zweite Argument läßt sich demgegenüber als »Reflexionsargument« bezeichnen. Es bedeutet: das Denken kann nur auf dem Wege einer reflexiven Betrachtung seiner eigenen Tätigkeit von ihm selbst beobachtet werden. Das erste ist ein empiristisches und das zweite ein methodologisches Argument. Und gerade dieses zweite, mit der Spaltungsthese als argumentativem Kern, sagt etwas aus über die methodischen Einzelheiten dieser Beobachtung. Es sagt vor allem etwas aus über das von Steiner erwähnte "Zusehen", das gegenüber dem aktuellen Denken nicht möglich sein soll. Dieses "Zusehen" kann dann nämlich nicht in der unmittelbaren »Erfahrung« des Denkens bestehen. Anders gewendet: es kann sehr wohl eine unmittelbare und bewußtseinsklare Erfahrung des aktuellen Denkens geben, ohne daß diesem Denken dabei "zugesehen" wird. Eben dazu äußert sich dieses Spaltungsargument, indem es unmißverständlich klar macht, daß die aktuelle Unbeobachtbarkeit nicht im empiristischen, sondern lediglich im methodologischen Sinne zu verstehen ist. Die unmittelbare Erfahrung des Denkens ist indessen absolut notwendig, wenn die Steinersche Philosophie nicht im Bodenlosen versinken soll. Die ganze Beobachtungsaporie ist erst eine Folge des unsachgemäßen Gebrauchs des Steinerschen Begriffs von Denk-Beobachtung, beziehungsweise sie beruht im wesentlichen auf einer mangelnden Unterscheidung zwischen den beiden Argumenten mit ihrer jeweils speziellen Zielrichtung. Anders gesagt: die Aporie wird gegenstandslos, wenn wir diesen Unterscheidungsmangel beseitigen und den von da Veiga Greuel vorgetragenen Gedankengang wirklich zu Ende führen.

Schauen wir dazu noch einmal auf da Veiga Greuels Aussagen die empirische Gegebenheit und die Beobachtung des gegenwärtigen Denkens betreffend. Im Hinblick auf die Gegebenheit sagt er: "Das Denken zu erkennen, bedeutet, es zum Gegenstand seiner selbst zu machen. Da aber alles Denken, wenn es in seiner Erkenntnisfunktion verwendet wird, auf Beobachtbares bezogen sein muß, muß es, im Falle der Selbsterkenntnis des Denkens, zuvor als empirischer Sachverhalt vorliegen." Und im Hinblick auf seine gegenwärtige Beobachtbarkeit: "Das Denken als die interpretativ erschließende Betrachtung des empirisch Gegebenen, ist an die Relation des Gegenüberstehens gebunden. Das gegenwärtige Denken läßt sich dabei nicht zugleich beobachten oder betrachten, da es erst im Moment des Hervorbringens entsteht und infolge dessen sich nicht selbst gegenüberstehen kann. Der Versuch, das Denken in seinem jeweils aktuellen Verlauf gleichzeitig zu betrachten, führt unweigerlich zur Unterbrechung des Denkvorganges und damit zum Verschwinden des Objektes." Wir sehen, daß er hier auf die beiden genannten Argumente zurückgreift. Das Denken muß empirisch gegeben sein (Gegebenheitsargument), und wenn es sich jetzt auf die eigene Tätigkeit wendet, dann wird der beobachtete Denkvorgang unterbrochen als Folge der veränderten Tätigkeitsrichtung des Denkens (Reflexionsargument).

Daß er hier zwei sehr unterschiedliche Argumente anführt, scheint da Veiga Greuel selbst allerdings nicht bewußt zu sein, ebensowenig der Umstand, daß er damit das empiristische Grundlagenproblem bereits so gut wie gelöst hat. Denn was er dann auf den weiteren Seiten als "zweiten Lösungsansatz" in Hinsicht auf das "Erzeugungsproblem" des Denkens vorstellt, ist angesichts dessen, was er bis hierhin entwickelt hat, nicht nur unnötig, sondern auch ohnmächtig gegenüber dem Empirismusproblem. In dieser Frage hilft nur der Nachweis, daß das aktuelle Denken auch erfahrbar ist. Das sogenannte "Erzeugungsproblem" ist indessen keine genuine Misere der Steinerschen Philosophie, sondern lediglich eine selbstgemachte der Steinerschen Interpreten. Vorrangig ein Problem Herbert Witzenmanns, dem ganz offensichtlich seine Schüler in dieser Frage folgen. Aber die Tatsache, daß ich mein gegenwärtiges Denken nicht gleichzeitig durch das Denken beobachten kann, ist für die Frage nach einer Erfahrungsgrundlage des Denkens ohne jede Relevanz, weil ich es zwar nicht aktuell »beobachten« aber gleichwohl aktuell »erfahren« kann. Und das ist das Entscheidende für den Empiriker.

Diese weitreichende Konsequenz seiner Untersuchung, daß das Beobachtungsproblem kein Erfahrungsproblem ist, zieht da Veiga Greuel allerdings nicht, weil er die Verschiedenheit zwischen dem empiristischen Gegebenheitsargument und dem methodologischen Reflexionsargument nicht erkennt, und deswegen rührt er die methodologische und die empiristische Frage wieder zusammen wenn er (S. 43 f) schreibt: "Das hier auftretende Erzeugungsproblem in der Beobachtung des Denkens stellt die Möglichkeit einer sich auf Erfahrung gründenden Erkenntniswissenschaft in Frage. Die in der Beobachtung ansetzende Selbstreflexion des Denkens scheint durch die Tätigkeitsstruktur des Denkens nicht durchführbar zu sein."

Freilich ist die selbstreflexive Betrachtung des Denkens während des aktuellen Denkens nicht durchführbar. Die Tatsache der Selbstgebung des Denkens verhindert ganz gewiß seine aktuelle Beobachtung, aber das ist nicht, wie da Veiga Greuel hier andeutet, ein Problem der empirischen Grundlegung, sondern, wenn überhaupt ein Problem, dann lediglich eins der Philologie und der Methode. Das empiristische Problem stellt sich schlechthin nicht mehr, wenn man den Unterschied zwischen »Erfahrung« und »Beobachtung« des Denkens einmal gefaßt hat, und weil dies offenkundig bei Steiner nicht ganz leicht zu erkennen ist, darum ist es ein philologisches Problem. Weil wir aber jederzeit auf unsere Erfahrungen des Denkens zurückgreifen können und auch wissen, daß wir diese Erfahrungen des Denkens im Aktualzustand durchlaufen, wie Peter Schneider zutreffend dargelegt hat, darum können wir unsere Beobachtungen des Denkens selbstredend immer auf aktuelle Denk-Erfahrungen rückbeziehen. Das heißt: das sogenannte "Erzeugungsproblem in der Beobachtung des Denkens" ist weder eine ernsthafte Schwierigkeit, wie Witzenmann in seiner "Strukturphänomenologie" behauptet, 64 noch kann es die Möglichkeit einer sich auf Erfahrung gründenden Erkenntniswissenschaft grundsätzlich infrage stellen. Es gibt überhaupt kein Erzeugungsproblem, und deswegen wird die Möglichkeit einer sich auf Erfahrung gründenden Erkenntniswissenschaft davon auch nicht berührt. Und an dieser aktuellen Erfahrbarkeit scheint da Veiga Greuel doch nicht zu rütteln. Sein anschließender Hinweis auf Steiners "ersten Ausweg", daß das Erfahrungsproblem im Rekurs auf die Erfahrungen von vergangenem Denken angegangen werden kann: "Dem betrachtenden Gegenüberstehen sind als empirische Anhaltspunkte für die Beobachtung des Denkens die Erfahrungen von abgeschlossenen, d.h. vergangenen Denkakten gegeben." (S. 44) kann doch nur Bestand haben, wenn dieses vergangene Denken einmal aktuell bewußt war. Daß aber dieses aktuelle Denken in der Erfahrung vorliegt, hat da Veiga Greuel uns bereits vorher bestätigt, denn es ist das aktuelle Denken, welches unterbrochen wird und verschwindet, wenn sich das beobachtende Denken darauf richtet, weil das aktuelle Denken dann zum beobachtenden Denken wird. Das scheinbare Verschwinden des aktuellen Denkens ist darin begründet, daß das gegenwärtige Denken mit dem Beobachtungsentschluß eine andere Tätigkeitsrichtung annimmt und anderen Inhalten nachgeht als das beobachtete Denken. Das aktuelle Denken verschwindet also nicht wirklich, sondern bleibt was es ist: aktuelles Denken. Es verändert lediglich seine Tätigkeitsichtung und die Inhalte seiner Tätigkeit.

Anstatt nun die bislang dargelegten Gedankengänge konsequent und mit der begonnenen Stringenz weiterzuverfolgen - etwa den Unterschied zwischen »Beobachtung« und »Erfahrung« des Denkens differenziert herauszuarbeiten oder den Sinn des Spaltungsargumentes zu ergründen - gibt es jetzt einen regelrechten Bruch in da Veiga Greuels bis hierhin so überaus fruchtbarem Unternehmen. Er wechselt nun ohne Not die Gedankenspur, indem er sich auf die Witzenmannsche Interpretationslinie begibt, nicht sehend, daß diese auf grund seiner eigenen Reflexionen obsolet geworden ist.

Das Übergehen des Steinerschen Spaltungsargumentes scheint mir wirklich rätselhaft vor dem Hintergrund des außerordentlichen philosophischen Gewichtes, das laut da Veiga Greuel der Beobachtungsaporie zukommt. Es ist eben jenes, das ich selbst in dieser Arbeit schon an verschiedenen Stellen zum Ausdruck gebracht habe: mit der Auflösung dieser Aporie steht und fällt das Fundament und damit die gesamte Steinersche Weltanschauung. Aber nicht nur diese, sondern jegliche Erfahrungswissenschaft ist von einer bündigen Lösung dieser Frage abhängig. Wenn da Veiga Greuel unmittelbar nach der Einführung der Beobachtungsproblematik konstatiert: "Das hier auftretende Erzeugungsproblem in der Beobachtung des Denkens stellt die Möglichkeit einer sich auf Erfahrung gründenden Erkenntniswissenschaft in Frage." (S. 43) dann heißt das im Klartext nichts anderes als: hinter der Aporie der Denk-Beobachtung tut sich ein wahrer Abgrund auf! Und wenn man sich diese Konsequenzen vor Augen geführt hat, dann scheint es mir schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar, eine so zentrale Begründung wie das Steinersche Spaltungsargument ungeprüft beiseite zu lassen. Die Aussicht auf ein drohendes Debakel der Steinerschen Philosophie müßte doch alle nur greifbaren Denkmittel mobilisieren das Beobachtungsproblem zu lösen, und das heißt logischerweise zuallererst: die von Steiner selbst explizit vorgebrachten Argumente ernst zu nehmen. Und eben dies geschieht auch bei da Veiga Greuel nicht. Auch sein Verweis auf die Möglichkeit, die Beobachtungen des Denkens anhand von vergangenem Denken anzustellen, könnte den Untergang des Steinerschen Empirismus nur aufschieben aber nicht verhindern, wenn sich nicht zeigen ließe, daß dieses vergangene Denken nur für die Beobachtung vergangen ist, aber gleichwohl der unmittelbaren Erfahrung jeweils aktuell vorliegt. Wäre dies nicht sichtbar zu machen, dann hätten wir uns mit dem Rettungsboot "vergangenes Denken" einen Bärendienst erwiesen und uns ein neues und nicht minder ruinöses Problem für den Empirismus eingehandelt. Wir müßten dann nämlich zeigen, wie aus Nicht-Erfahrbarem Erinnerungen werden können - das ist Witzenmanns verfehlter Ansatz, der auf der "erkenntniswissenschaftlichen Fundamentalbedeutung der Erinnerungskunde" aufbaut, wie er ihn in der Schrift "Goethes universalästhetischer Impuls", Dornach 1987, S. 334 ff vorgestellt hat. Auch mit dem von da Veiga Greuel vorgestellten "zweiten Ansatz" zur Lösung der Beobachtungsfrage sind wir um nichts gebessert, da dieses Konzept auf die empiristische Grundlegungsfrage keine überzeugende Antwort gibt und auch keine zu geben vermag. 65

Ende Kapitel 6.5            


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