Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung

(Stand 22.07.05)

Anmerkungen

1 Siehe GA - 4, 1978, S. 43

2 Zum Begriff der "Beobachtungsaporie" siehe auch die Darstellung Lorenzo Ravaglis: Der esoterische Schulungsweg der Anthroposophie im Frühwerk Rudolf Steiners, in Jahrbuch für anthroposophische Kritik, 1997, S. 88 f.

3 Siehe Herbert Witzenmann, Methodische Konsequenzen der Goetheschen Metamorphosenidee, Kap. III, Über Erinnerung. In Herbert Witzenmann, Goethes universalästhetischer Impuls, Dornach 1987, S. 341 ff, insbes. S. 345; S. 374; S. 397.

4 Karl Martin Dietz, Die Suche nach Wirklichkeit, Stuttgart 1988, S. 198 f.

5 Peter Schneider, Einführung in die Waldorfpädagogik, 2Stuttgart, 1985, S. 114.

6 Siehe GA-4, 1978, S. 55 f. Steiner schreibt dort: "Von einer Persönlichkeit, welche der Verfasser dieses Buches als Denker sehr hochschätzt, ist ihm eingewendet worden, daß so, wie es hier geschieht, nicht über das Denken gesprochen werden könne, weil es nur ein Schein sei, was man als tätiges Denken zu beobachten glaube. In Wirklichkeit beobachte man nur die Ergebnisse einer nicht bewußten Tätigkeit, die dem Denken zugrunde liegt. Nur weil diese nicht bewußte Tätigkeit eben nicht beobachtet werde, entstehe die Täuschung, es bestehe das beobachtete Denken durch sich selbst, wie wenn man bei rasch aufeinanderfolgender Beleuchtung durch elektrische Funken eine Bewegung zu sehen glaubt. Auch dieser Einwand beruht nur auf einer ungenauen Anschauung der Sachlage. Wer ihn macht, berücksichtigt nicht, daß es das «Ich» selbst ist, das im Denken drinnen stehend seine Tätigkeit beobachtet. Es müßte das «Ich» außer dem Denken stehen, wenn es so getäuscht werden könnte, wie bei rasch aufeinanderfolgender Beleuchtung durch elektrische Funken. Man könnte vielmehr sagen: wer einen solchen Vergleich macht, der täuscht sich gewaltsam etwa wie jemand, der von einem in Bewegung begriffenen Licht durchaus sagen wollte: es wird an jedem Orte, an dem es erscheint, von unbekannter Hand neu angezündet. -Nein, wer in dem Denken etwas anderes sehen will als das im « Ich» selbst als überschaubare Tätigkeit Hervorgebrachte, der muß sich erst für den einfachen, der Beobachtung vorliegenden Tatbestand blind machen, um dann eine hypothetische Tätigkeit dem Denken zugrunde legen zu können. Wer sich nicht so blind macht, der muß erkennen, daß alles, was er in dieser Art zu dem Denken «hinzudenkt», aus dem Wesen des Denkens herausführt. Die unbefangene Beobachtung ergibt, daß nichts zum Wesen des Denkens gerechnet werden kann, was nicht im Denken selbst gefunden wird. Man kann nicht zu etwas kommen, was das Denken bewirkt, wenn man den Bereich des Denkens verläßt."

7 GA-4, 1978, S. 43.

8 GA-4, 1978, S. 43.

9 Man beachte, daß Steiner dieses Argument nahezu fünfzehn Jahre vor der Debatte zwischen Wundt und Bühler verwendet. Das wirft die Frage nach einer möglichen Tradition dieser Begründung in der Denkpsychologie auf. Dieser Angelegenheit konnte ich im Rahmen meiner Arbeit allerdings nicht ausführlich nachgehen. Anmerkungsweise sei nur erwähnt, daß Franz Brentano die Verwendung dieses Arguments durch Comte in seiner "Psychologie vom empirischen Standpunkt" anführt. (Siehe Psychologie vom empirischen Standpunkt, herausgegeben von Oskar Kraus, Bd. 1, 1973, S. 44 f. )

Auf Steiners Spaltungsargument gehen die von mir behandelten anthroposophischen Autoren allesamt nicht ein. Herbert Witzenmann hat es eigentümlicherweise in seiner sehr ausgreifenden Untersuchung der erinnerungstheoretischen Implikationen des "Ausnahmezustandes" bei der Widergabe der einschlägigen Steinerschen Textpassage auf S. 346 seiner Schrift, Goethes universalästhetischer Impuls, Dornach 1987, einfach weggelassen, so, als sei es eine eher beiläufige Bemerkung Steiners von eher illustrierendem Rang und ohne größeren Erkenntniswert für den Sachzusammenhang. Ich meine, daß diese Steinersche Erklärung der Schlüssel zum Verständnis der fraglichen Textstelle ist.

10 GA-4, 1978, S. 145.

11 Herbert Witzenmann, Methodische Konsequenzen der Goetheschen Metamorphosenidee, in: Goethes universalästhetischer Impuls, Dornach 1987, S.346.

12 Siehe Herbert Witzenmann, Methodische Konsequenzen der Goetheschen Metamorphosenidee, in: Goethes universalästhetischer Impuls, Dornach 1987, S. 344; S. 345; S. 356; S. 363; S. 368; S. 374; S. 397.

13 Herbert Witzenmann, Die Philosophie der Freiheit als Grundlage künstlerischen Schaffens, 2 Dornach 1988.

14 Herbert Witzenmann, Intuition und Beobachtung, Teil 1. Stuttgart 1977. Siehe dort insbesondere Witzenmanns Arbeit mit dem Titel "Intuition und Beobachtung", S. 73 ff.

15 Folgende Schriften Herbert Witzenmanns habe ich bei der Suche nach einer Auseinandersetzung mit Steiners Beobachtungsverdikt ergebnislos durchgesehen:

-Die Kategorienlehre Rudolf Steiners, Krefeld 1994

-Was ist Meditation, 2 Dornach 1989

-Die Philosophie der Freiheit als Grundlage künstlerischen Schaffens, 2 Dornach 1988

-Goethes universalästhetischer Impuls, Dornach 1987

-Die Voraussetzungslosigkeit der Anthroposophie, 2 Stuttgart 1986

-Verstandesblindheit und Ideenschau, Dornach 1985

-Strukturphänomenologie, Dornach 1983

-Intuition und Beobachtung, Bd. 2, Stuttgart 1978

-Intuition und Beobachtung, Bd. 1 Stuttgart 1977

16 Herbert Witzenmann, Methodische Konsequenzen der Goetheschen Metamorphosenidee, in: Goethes universalästhetischer Impuls, Dornach 1987, S. 397.

17 Herbert Witzenmann, Methodische Konsequenzen der Goetheschen Metamorphosenidee, in: Goethes universalästhetischer Impuls, Dornach 1987, S. 334. Siehe im selben Sinne auch S. 386.

18 Zur "Grundfrage" der Erkenntnistheorie bei Steiner: In GA-1, 1973, Kap. IX, Goethes Erkenntnistheorie, betont Steiner, daß die Frage: "Was ist Erkenntnis?" die zentrale Frage der Erkenntnistheorie sei. So lesen wir zunächst auf S. 143 : "Die Erkenntnistheorie aber, die in der Gegenwart geradezu zur wissenschaftlichen Zeitfrage geworden ist, soll nichts weiter sein als die ausführliche Antwort auf die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? Auf Goethe angewendet, würde dann die Frage heißen: Wie dachte sich Goethe die Möglichkeit einer Erkenntnis? Bei genauerem Zusehen stellt sich aber heraus, daß die Beantwortung der gestellten Frage durchaus nicht an die Spitze der Erkenntnistheorie gestellt werden darf. Wenn ich nach der Möglichkeit eines Dinges frage, dann muß ich vorher dasselbe erst untersucht haben. Wie aber, wenn sich der Begriff der Erkenntnis, den Kant und seine Anhänger haben, und von dem sie fragen, ob er möglich ist oder nicht, selbst als durchaus unhaltbar erwiese, wenn er vor einer eindringenden Kritik nicht standhalten könnte?" Nach längeren Auseinandersetzungen folgt dann auf S. 157 das Fazit: "Damit haben wir der transzendenten Weltansicht Lockes, Kants, des späteren Schelling, Schopenhauers, Volkelts, der Neukantianer und der modernen Naturforscher eine wahrhaft immanente gegenübergestellt. Jene suchen den Weltgrund in einem dem Bewußtsein Fremden, Jenseitigen, die immanente Philosophie in dem, was für die Vernunft zur Erscheinung kommt. Die transzendente Weltansicht betrachtet die begriffliche Erkenntnis als Bild der Welt, die immanente als die höchste Erscheinungsform derselben. Jene kann daher nur eine formale Erkenntnistheorie liefern, die sich auf die Frage gründet: Welches ist das Verhältnis von Denken und Sein? Diese stellt an die Spitze ihrer Erkenntnistheorie die Frage: Was ist Erkennen? Jene geht von dem Vorurteil einer essentiellen Differenz von Denken und Sein aus, diese geht vorurteilslos auf das allein Gewisse, das Denken, los und weiß, daß sie außer dem Denken kein Sein finden kann."

GA-2, 1973, S. 25. Dort spricht Steiner zunächst von "den Grundfragen" der Erkenntniswissenschaft und erläutert dies anschließend auf S. 25 f so: "Jede Wissenschaft hat ihr Gebiet, auf dem sie den Zusammenhang der Erscheinungen sucht. Dann bleibt noch immer ein großer Gegensatz in unseren wissenschaftlichen Bemühungen bestehen: die durch die Wissenschaften gewonnene ideelle Welt einerseits und die ihr zugrunde liegenden Gegenstände andererseits. Es muß eine Wissenschaft geben, die auch hier die gegenseitigen Beziehungen klarlegt. Die ideelle und reale Welt, der Gegensatz von Idee und Wirklichkeit, sind die Aufgabe einer solchen Wissenschaft. Auch diese Gegensätze müssen in ihrer gegenseitigen Beziehung erkannt werden.

Diese Beziehungen zu suchen, ist der Zweck der folgenden Ausführungen. Die Tatsache der Wissenschaft einerseits und die Natur und Geschichte andererseits sind in ein Verhältnis zu bringen. Was für eine Bedeutung hat die Spiegelung der Außenwelt in dem menschlichen Bewußtsein, welche Beziehung besteht zwischen unserem Denken über die Gegenstände der Wirklichkeit und den letzteren selbst?"

Wenn man diese Pluralität von Grundfragen in eine Rangordnung bringt, dann wird deutlich, daß die Frage: "Was ist Erkenntnis?" die entscheidende Frage ist, wie sich ebenfalls in GA-2, S. 137 f. zeigt: " Man sieht aus der ganzen Haltung dieser Erkenntnistheorie, daß es bei ihren Auseinandersetzungen darauf ankommt, eine Antwort auf die Frage zu gewinnen: Was ist Erkenntnis? Um dieses Ziel zu erreichen, wird zunächst die Welt der sinnlichen Anschauung einerseits und die gedankliche Durchdringung andrerseits ins Auge gefaßt. Und es wird nachgewiesen, daß im Durchdringen der beiden die wahre Wirklichkeit des Sinnenseins sich offenbart. Damit ist die Frage: «Was ist Erkennen?» dem Prinzipe nach beantwortet."

Steiners Rostocker Dissertation bei Heinrich von Stein trug den Titel: "Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre. Prolegomena zur Verständigung des philosophischen Bewußtseins mit sich selbst". Siehe hierzu die Hinweise des Herausgebers zur 5. Auflage von GA-3, 1980, S. 93.

In GA-3 , 1980, S. 26 f spricht Steiner zunächst auch von "den Grundfragen" der Erkenntnistheorie: "Wenn auch die Erkenntnistheorie als Voraussetzung aller übrigen Wissenschaften eine ganz besondere Stellung einnimmt, so ist dennoch vorauszusehen, daß auch in ihr ein erfolgreiches Fortschreiten in der Untersuchung nur dann möglich sein wird, wenn die Grundfragen in richtiger Form aufgeworfen werden."Gegenüber Kants Grundfrage: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" (siehe GA-3, S. 29) macht Steiner u. a. auf S. 35 geltend: "Daß wir wirklich Erkenntnisse haben, die von aller Erfahrung unabhängig sind, und daß die letzteren nur Einsichten von komparativer Allgemeinheit liefern, könnten wir nur als Folgesätze von anderen Urteilen gelten lassen. Es müßte diesen Behauptungen unbedingt eine Untersuchung über das Wesen der Erfahrung und eine solche über das Wesen unseres Erkennens vorangehen. Aus jener könnte der erste, aus dieser der zweite der obigen Sätze folgen."

Die Erinnerungsthematik ist für Steiner erkenntnistheoretisch allerdings ohne Gewicht. Gegebenenfalls ließen sich einige Ausführungen Steiners zur Erinnerung in GA-21,1976, S. 129 ff der Erkenntnistheorie zuordnen, weil sie in einen erkenntnistheoretischen Kontext gestellt werden. Gerade diese außerordentliche Divergenz zwischen Steiner und Witzenmann in der erkenntnistheoretischen Bewertung der Erinnerungsfrage macht den Schluß besonders plausibel, daß Witzenmann einem grandiosen Mißverständnis aufgesessen ist.

19 GA-4, S. 53. Siehe hierzu auch Steiners Ausführung in GA-4, 1978, S. 51 f. "Ich habe bisher von dem Denken gesprochen, ohne auf seinen Träger, das menschliche Bewußtsein, Rücksicht zu nehmen. Die meisten Philosophen der Gegenwart werden mir einwenden: bevor es ein Denken gibt, muß es ein Bewußtsein geben. Deshalb sei vom Bewußtsein und nicht vom Denken auszugehen. Es gebe kein Denken ohne Bewußtsein. Ich muß dem gegenüber erwidern: Wenn ich darüber Aufklärung haben will, welches Verhältnis zwischen Denken und Bewußtsein besteht, so muß ich darüber nachdenken. Ich setze das Denken damit voraus. Nun kann man darauf allerdings antworten: Wenn der Philosoph das Bewußtsein begreifen will, dann bedient er sich des Denkens; er setzt es insoferne voraus; im gewöhnlichen Verlaufe des Lebens aber entsteht das Denken innerhalb des Bewußtseins und setzt also dieses voraus. Wenn diese Antwort dem Weltschöpfer gegeben würde, der das Denken schaffen will, so wäre sie ohne Zweifel berechtigt. Man kann natürlich das Denken nicht entstehen lassen, ohne vorher das Bewußtsein zustande zu bringen. Dem Philosophen aber handelt es sich nicht um die Weltschöpfung, sondern um das Begreifen derselben. Er hat daher auch nicht die Ausgangspunkte für das Schaffen, sondern für das Begreifen der Welt zu suchen. Ich finde es ganz sonderbar, wenn man dem Philosophen vorwirft, daß er sich vor allen andern Dingen um die Richtigkeit seiner Prinzipien, nicht aber sogleich um die Gegenstände bekümmert, die er begreifen will. Der Weltschöpfer mußte vor allem wissen, wie er einen Träger für das Denken findet, der Philosoph aber muß nach einer sichern Grundlage suchen, von der aus er das Vorhandene begreifen kann. Was frommt es uns, wenn wir vom Bewußtsein ausgehen und es der denkenden Betrachtung unterwerfen, wenn wir vorher über die Möglichkeit, durch denkende Betrachtung Aufschluß über die Dinge zu bekommen, nichts wissen?" Diese Steinerschen Reflexionen sind auch auf Witzenmanns erinnerungstheoretische Gedankengänge anzuwenden: »Was frommt es uns, wenn wir vom Erinnerungs-Bewußtsein ausgehen und es der denkenden Betrachtung unterwerfen, wenn wir vorher über die Möglichkeit, durch denkende Betrachtung Aufschluß über die Dinge zu bekommen, nichts wissen?«

20 Herbert Witzenmann, Strukturphänomenologie, Dornach 1983. Siehe dort etwa S. 25 f; S. 31 ff; S. 50 f.

21 GA-4, 1978, S. 44.

22 Wilfried Gabriel, Personale Pädagogik in der Informationsgesellschaft, Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Bd. 240, S. 172.

23 Siehe Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1, neu herausgegeben von Oskar Kraus, 1973, S. 40 ff. S. 180 ff. So schreibt Brentano resümierend auf S. 48: "Also die innere Wahrnehmung der eigenen psychischen Phänomene ist die erste Quelle der Erfahrungen, welche für die psychologischen Untersuchungen unentbehrlich sind. Und diese innere Wahrnehmung ist nicht mit einer inneren Beobachtung der in uns bestehenden Zustände zu verwechseln, da eine solche vielmehr unmöglich ist."

Zu Wundt siehe etwa Wilhelm Wundt, Die Aufgaben der experimentellen Psychologie, 1882, in Wundt, Essays, 21908, S. 197 f.

Ebenso Wilhelm Wundt, Selbstbeobachtung und innere Wahrnehmung, in: Wilhelm Wundt, Philosophische Studien, 1888, Reprint des des Zentralarchivs der DDR, 1983, S. 620 ff.

24 Franz Brentano schreibt zur Frage der Beobachtung aus der Erinnerung auf S. 48: " Es ist offenbar, daß hier die Psychologie den andern allgemeinen Wissenschaften gegenüber in großem Nachteile erscheint. Denn ohne Experiment sind zwar manche unter ihnen, ..., ohne Beobachtung aber ist keine. In Wahrheit würde die Psychologie geradezu zur Unmöglichkeit werden, wenn für den Mangel kein Ersatz sich böte. Einen solchen findet sie aber, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, durch die Betrachtung früherer psychischer Zustände im Gedächtnisse. " Und S. 49 heißt es weiter: " Wenn der Versuch, den Zorn, der uns bewegt, beobachtend zu verfolgen, durch Aufhebung des Phänomens unmöglich wird, so kann dagegen ein Zustand früherer Aufregung offenbar keine Störung mehr erleiden. Auch gelingt es wirklich, dem vergangenen psychischen Phänomene so wie einem gegenwärtigen physischen mit Aufmerksamkeit sich zuzuwenden und es in dieser Weise so zu sagen zu beobachten. Ja man könnte sagen, daß sogar das Experiment mit eigenen Seelenerscheinungen auf diesem Wege möglich werde. Denn wir können absichtlich durch mannigfache Mittel gewisse Seelenerscheinungen in uns hervorrufen, um zu erfahren, ob sich diese oder jene Erscheinung als Folge daran knüpfe, indem wir dann das Resultat des Versuches mit aller Ruhe und Aufmerksamkeit im Gedächtnis betrachten." (Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1, neu herausgegeben von Oskar Kraus, 1973)

Johannes Volkelt, Psychologische Streitfragen, =Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 90 (o.J.), S. 1 ff. Volkelt hebt dort u. a. die Möglichkeit einer Beobachtung aus der Erinnerung hervor (S. 12), eine Auffassung, die wiederum von Wilhelm Wundt abgewiesen wird. (Wilhelm Wundt, Selbstbeobachtung und innere Wahrnehmung, in: Wilhelm Wundt, Philosophische Studien, 1888, Reprint des des Zentralarchivs der DDR, 1983, S. 625)

Karl Bühler, Antwort auf die von W. Wundt erhobenen Einwände gegen die Methode der Selbstbeobachtung an experimentell erzeugten Erlebnissen, in Archiv für Psychologie XII:, 1908, S. 99 f.

25 Wilhelm Wundt, Über Ausfrageexperimente und über die Methoden zur Psychologie des Denkens. In: Wundt, Psychologische Studien III., 1908, S. 331.

26 Karl Bühler, Antwort auf die von W. Wundt erhobenen Einwände gegen die Methode der Selbstbeobachtung an experimentell erzeugten Erlebnissen, in Archiv für Psychologie XII:, 1908, S. 99 f.

27 Karl Bühler, Antwort auf die von W. Wundt erhobenen Einwände gegen die Methode der Selbstbeobachtung an experimentell erzeugten Erlebnissen, in Archiv für Psychologie XII:, 1908, S. 99

28 Vergl. Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge I., Über Gedanken. In: Archiv für die gesamte Psychologie, 9, 1907, S. 303.

29 Diese Verbindung Steiners zu Külpe war über Friedrich Rittelmeyer zustande gekommen. Ein Gespräch mit Rittelmeyer darüber fand am 12. März 1915 statt. In einem Brief an Rittelmeyer vom 27. November 1915 erklärt sich Rudolf Steiner zu einem Treffen mit Professor Külpe bereit. Es sollte bei dieser Zusammenkunft darum gehen, ob und wieweit und unter welchen Umständen hellsichtige Fähigkeiten experimentell geprüft werden können. Siehe Friedrich Rittelmeyer, Meine Lebenbegegnung mit Rudolf Steiner, 11 Stuttgart 1983, S. 71 ff. Siehe auch Christoph Lindenberg, Rudolf Steiner, Eine Chronik, Stuttgart 1988, S. 362 u. S. 367 f.

30 Karl Bühler, Antwort auf die von W. Wundt erhobenen Einwände gegen die Methode der Selbstbeobachtung an experimentell erzeugten Erlebnissen, in Archiv für Psychologie XII:, 1908, S. 99 f.

31 GA-4, 1978, S. 43.

32 GA-4, 1978, S. 43 f.

33 GA-4, 1978,S. 49.

34 Lorenzo Ravagli, Der esoterische Schulungsweg der Anthroposophie im Frühwerk Rudolf Steiners, in: Jahrbuch für anthroposophische Kritik, 1997, S. 88

35 Lorenzo Ravagli, Der esoterische Schulungsweg der Anthroposophie im Frühwerk Rudolf Steiners, in: Jahrbuch für anthroposophische Kritik, 1997, S. 88.

36 Lorenzo Ravagli hat mir in diesem Zusammenhang eingewendet, wenn ich mein eigenes Denken beobachten wolle, dann nütze mir das fremde Denken nichts. Das ist, innerhalb gewisser Grenzen gedacht, durchaus zutreffend. Dieser Einwand wäre dann allerdings nicht mir, sondern Steiner gegenüber vorzubringen.

Nun geht es aber in Steiners Darstellung nicht nur um »mein« individuelles Denken, sondern um Denken überhaupt - ganz im Sinne einer "Wissenschaft des Denkens". Und vor diesem Hintergrund lassen sich Ravaglis Bedenken nicht verabsolutieren. Sie gelten zweifellos für eine epistemologische Grundlegung, bei der nicht nur die »Beobachtung« des Denkens, sondern vor allem seine unmittelbare Erfahrbarkeit von Belang ist. Für diese Grundlegung ist es wirklich wichtig, auch das Werden des »eigenen« Denkens im mehr psychologischen Sinne zu erfahren. Denn es geht bei dieser Grundlegung darum, den Nachweis einer Erfahrung zu bringen, die in sich völlig überschaubar ist - und dazu ist das fremde Denken kein geeignetes Objekt, weil ich weder die Produktion fremder Gedanken unmittelbar erfahren, noch auf dieser epistemischen Ebene überhaupt eine gesicherte Aussage über fremde denkende Wesen machen kann.

Auf der anderen Seite macht Steiner durch die Ausweitung der Beobachtung auf das fremde Denken unmißverständlich klar, daß es ihm an dieser Stelle entscheidend auf einen allgemeinen Erkenntniserwerb hinsichtlich des Denkens im Sinne einer Wissenschaft des Denkens ankommt. Das heißt, es geht ihm nicht mehr zentral um eine erkenntnistheoretische sondern weit mehr um eine methodologische Grundlegung. Aber auch das fremde Denken läßt sich nur durch das Denken beobachten. Und hier würde ich Ravagli nicht mehr zustimmen, wenn er sagt, ich könne mittels der Beobachtung fremden Denkens nichts über das eigene erfahren. Eine derart radikalisierte Position müßte auf einen extremen Subjektivismus hinauslaufen, weil jedes Menschenwesen dann sein eigenes apartes Denken und entsprechend seine eigenen Denkgesetze respektive seine eigene Logik haben müßte. Unter diesen Bedingungen wäre intersubjektive Verständigung auf dem Wege des Denkens kaum noch vorstellbar. Wenn wir allerdings die basale epistemische Ebene verlassen, dann ist es doch so, daß wir sehr viel über das eigene Denken anhand der Beobachtung fremden Denkens erkennen können, weil das Denken eben nicht subjektiv ist. Um ein praktisches Beispiel zu bringen: So läßt sich etwa in einem literarischen Erzeugnis nicht nur beobachten, wie ein Dichter seine Gedanken in Metaphern kleidet und damit etwas über seine schriftstellerische Qualität, sondern es läßt sich auch beobachten, daß, und wie sich Gedanken in Bilder kleiden lassen. Letzteres ist eine Beobachtung, die das Denken an sich und nicht den Dichter betrifft. Und diese Beobachtung kann ich ohne Frage auf mein eigenes Denken übertragen.

37 GA-4, 1978, S. 43.

38 GA-4, 1978, S. 48.

39 GA-4, 1978, S. 43 f.

40 GA-4, 1978, S. 44.

41 Siehe: Peter Schneider, Einführung in die Waldorfpädagogik, 2Stuttgart, 1985, S. 67, Anmerkung 40 und S. 127 Anmerkung 3.

42 Siehe: Peter Schneider, Einführung in die Waldorfpädagogik, 2Stuttgart, 1985, S. 88 ff; S. 112 ff.; S. 120 f.

43 Peter Schneider, Einführung in die Waldorfpädagogik, 2Stuttgart, 1985, S. 87.

44 Peter Schneider, Einführung in die Waldorfpädagogik, 2Stuttgart, 1985, S. 88.

45 Siehe GA-4, 1978, Kap. III, S. 36 ff.

46 GA-4, 1978, S. 43: "Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe, kann ich nachher zum Objekt des Denkens machen."

47 GA-4, 1978, S. 145: "Ein richtiges Verständnis dieser Beobachtung kommt zu der Einsicht, daß das Denken als eine in sich beschlossene Wesenheit unmittelbar angeschaut werden kann. Wer nötig findet, zur Erklärung des Denkens als solchem etwas anderes herbeizuziehen, wie etwa physische Gehirnvorgänge, oder hinter dem beobachteten bewußten Denken liegende unbewußte geistige Vorgänge, der verkennt, was ihm die unbefangene Beobachtung des Denkens gibt." Bei Schneider ist die Passage zitiert auf S. 89.

48 Soweit ich sehen kann, verwendet Steiner selbst den Ausdruck der "unmittelbaren Beobachtung" nicht, sondern spricht häufiger von einer "unbefangenen Beobachtung". Es wird aus den Sachzusammenhängen aber deutlich, daß hier ein "unmittelbares Beobachten" gemeint ist, dergestalt, daß kein anderes methodisches Mittel eingesetzt wird. "Unmittelbare Beobachtung" des Denkens bedeutet demnach: Richten des Denkens auf die unmittelbare Erfahrung des Denkens, wie insbesondere Steiners Abweisung hirnphysiologischer oder anderer Erklärungen des Denkens in diesem Kontext zeigen: "Wer nötig findet, zur Erklärung des Denkens als solchem etwas anderes herbeizuziehen, wie etwa physische Gehirnvorgänge, oder hinter dem beobachteten bewußten Denken liegende unbewußte geistige Vorgänge, der verkennt, was ihm die unbefangene Beobachtung des Denkens gibt." (GA-4, 1978, S. 145) Ferner: "Diese durchsichtige Klarheit in bezug auf den Denkprozeß ist ganz unabhängig von unserer Kenntnis der physiologischen Grundlagen des Denkens. Ich spreche hier von dem Denken, insoferne es sich aus der Beobachtung unserer geistigen Tätigkeit ergibt. Wie ein materieller Vorgang meines Gehirns einen andern veranlaßt oder beeinflußt, während ich eine Gedankenoperation ausführe, kommt dabei gar nicht in Betracht. Was ich am Denken beobachte, ist nicht: welcher Vorgang in meinem Gehirne den Begriff des Blitz es mit dem des Donners verbindet, sondern, was mich veranlaßt, die beiden Begriffe in ein bestimmtes Verhältnis zu bringen. Meine Beobachtung ergibt, daß mir für meine Gedankenverbindungen nichts vorliegt, nach dem ich mich richte, als der Inhalt meiner Gedanken; nicht nach den materiellen Vorgängen in meinem Gehirn richte ich mich. Für ein weniger materialistisches Zeitalter als das unsrige wäre diese Bemerkung natürlich vollständig überflüssig. Gegenwärtig aber, wo es Leute gibt, die glauben: wenn wir wissen, was Materie ist, werden wir auch wissen, wie die Materie denkt, muß doch gesagt werden, daß man vom Denken reden kann, ohne sogleich mit der Gehirnphysiologie in Kollision zu treten." (GA-4, 1978, S. 44 f)

49 Für diese verwirrende Sachlage ist Steiner selbst maßgeblich verantwortlich, weil er seinem unterschiedlichen Gebrauch des Anschauungsbegriffes wenig Klärendes beigegeben hat. Exemplarisch kann dazu auf eine Passage aus "Goethes Weltanschauung" (GA-6, Taschenbuchausgabe 1979, S. 86) zurückgegriffen werden, auf die auch Peter Schneider rekurriert: "Wenn auch die Ideen der Inhalt dessen sind, was in den Dingen wirkt; zum erscheinenden Dasein kommen sie durch die menschliche Tätigkeit. Die eigene Natur der Ideenwelt kann also der Mensch nur erkennen, wenn er seine Tätigkeit anschaut. Bei jeder anderen Anschauung durchdringt er nur die wirkende Idee; das Ding, in dem gewirkt wird, bleibt als Wahrnehmung außerhalb seines Geistes. In der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes ganz in seinem Innern enthalten. Er hat den ganzen Prozeß restlos in seinem Innern gegenwärtig. Die Anschauung erscheint nicht mehr von der Idee hervorgebracht; denn die Anschauung ist jetzt selbst Idee. Diese Anschauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit. Bei der Beobachtung des Denkens durchschaut der Mensch das Weltgeschehen. Er hat hier nicht nach einer Idee dieses Geschehens zu forschen, denn dieses Geschehen ist die Idee selbst. Die sonst erlebte Einheit von Anschauung und Idee ist hier Erleben der anschaulich gewordenen Geistigkeit der Ideenwelt." Hier ist auch von einer Anschauung der Idee die Rede, aber damit ist ganz offensichtlich etwas anderes gemeint als die "intellektuelle Anschauung" von reinen Begriffen oder Ideen, sondern die im menschlichen Denken selbst tätige Idee, die bei der Betrachtung oder Beobachtung des Denkens angeschaut wird.

Der Begriff der "Anschauung" scheint alles in allem eine geradezu gummiartige Konsistenz und Flexibilität zu haben, so daß er in jede Richtung dehnbar und zahlreichen Sachverhalten anpaßbar erscheint - auf Kosten seiner Eindeutigkeit.

50 (GA-3, 1980, S. 60) : "Nur die Begriffe und Ideen sind uns in der Form geben, die man die intellektuelle Anschauung genannt hat. Kant und die neueren an ihn anknüpfenden Philosophen sprechen dieses Vermögen dem Menschen vollständig ab, weil alles Denken sich nur auf Gegenstände beziehe und aus sich selbst absolut nichts hervorbringe. In der intellektuellen Anschauung muß mit der Denkform zugleich der Inhalt mitgegeben sein. Ist dies aber nicht bei den reinen Begriffen und Ideen * wirklich der Fall: Man muß sie nur in der Form betrachten, in der sie von allem empirischen Inhalt noch ganz frei sind. Wenn man z. B. den reinen Begriff der Kausalität erfassen will, darf man sich nicht an irgend eine bestimmte Kausalität oder an die Summe aller Kausalitäten halten, sondern an den bloßen Begriff derselben. Ursachen und Wirkungen müssen wir in der Welt aufsuchen, Ursachlichkeit als Gedankenform müssen wir selbst hervorbringen, ehe wir die ersteren in der Welt finden können.".

51 Peter Schneider, Einführung in die Waldorfpädagogik, 2Stuttgart, 1985, S. 67. Anmerkung 40.

52 GA-4, 1978, S. 43 .

53 Dietrich Dörner, Problemlösen als Informationsverarbeitung, Stuttgart 1972, S. 42. Zitiert nach Peter Schneider, Einführung in die Waldorfpädagogik, 2Stuttgart, 1985, S.68, Anmerkung 40.

54 Die Ausdrücke "Beobachtung" und " denkende Betrachtung" werden im 3. Kapitel der "Philosophie der Freiheit" von Steiner weitgehend synonym verwendet.

a) S. 40: "Man muß sich klar darüber sein, daß man bei der Beobachtung des Denkens auf dieses ein Verfahren anwendet, das für die Betrachtung des ganzen übrigen Weltinhaltes den normalen Zustand bildet, das aber im Verfolge dieses normalen Zustandes für das Denken selbst nicht eintritt."

b) S. 43: "Während ich über den Gegenstand nachdenke, bin ich mit diesem beschäftigt, mein Blick ist ihm zugewandt. Diese Beschäftigung ist eben die denkende Betrachtung."

c) S. 47 f: "Während wir die andern Dinge beobachten, mischt sich in das Weltgeschehen - zu dem ich jetzt das Beobachten mitzähle - ein Prozeß, der übersehen wird. Es ist etwas von allem andern Geschehen verschiedenes vorhanden, das nicht mitberücksichtigt wird. Wenn ich aber mein Denken betrachte, so ist kein solches unberücksichtigtes Element vorhanden. Denn was jetzt im Hintergrunde schwebt, ist selbst wieder nur das Denken. Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ derselbe wie die Tätigkeit, die sich auf ihn richtet.

d) S. 49: "Leicht könnte jemand meinem Satze: wir müssen denken, bevor wir das Denken betrachten können, den andern als gleichberechtigt entgegenstellen: wir können auch mit dem Verdauen nicht warten, bis wir den Vorgang des Verdauens beobachtet haben. Das wäre ein Einwand ähnlich dem, den Pascal dem Cartesius machte, indem er behauptete, man könne auch sagen: ich gehe spazieren, also bin ich. Ganz gewiß muß ich auch resolut verdauen, bevor ich den physiologischen Prozeß der Verdauung studiert habe. Aber mit der Betrachtung des Denkens ließe sich das nur vergleichen, wenn ich die Verdauung hinterher nicht denkend betrachten, sondern essen und verdauen wollte."

e) S. 50: "Ich möchte nun einen weitverbreiteten Irrtum noch erwähnen, der in bezug auf das Denken herrscht. Er besteht darin, daß man sagt: das Denken, so wie es an sich selbst ist, ist uns nirgends gegeben. Das Denken, das die Beobachtungen unserer Erfahrungen verbindet und mit einem Netz von Begriffen durchspinnt, sei durchaus nicht dasselbe, wie dasjenige, das wir hinterher wieder von den Gegenständen der Beobachtung herausschälen und zum Gegenstande unserer Betrachtung machen. Was wir erst unbewußt in die Dinge hineinweben, sei ein ganz anderes, als was wir dann mit Bewußtsein wieder herauslösen. Ich kann aus dem Denken gar nicht herauskommen, wenn ich das Denken betrachten will. Wenn man das vorbewußte Denken von dem nachher bewußten Denken unterscheidet, so sollte man doch nicht vergessen, daß diese Unterscheidung eine ganz äußerliche ist, die mit der Sache selbst gar nichts zu tun hat. Ich mache eine Sache dadurch überhaupt nicht zu einer andern, daß ich sie denkend betrachte."

f) S. 51: "Ich betrachte ja die ganze übrige Welt mit Hilfe des Denkens. Wie sollte ich bei meinem Denken hiervon eine Ausnahme machen?"

g) S. 52: "Wir müssen erst das Denken ganz neutral, ohne Beziehung auf ein denkendes Subjekt oder ein gedachtes Objekt betrachten."

Diese Beispiele zeigen einen mal schwächeren, mal stärkeren Synonymgebrauch der Ausdrücke Beobachten und Betrachten. In einigen Fällen (etwa Beispiel c und e) halte ich den Gebrauch für vollkommen deckungsgleich. Von hier aus ergibt sich auch ein Verständniszugang zu dem, allerdings so weit ich sehe nur einmal im einleitenden Zusatz zu Kap IX. (S. 145) verwendendeten Ausdruck der Anschauung des Denkens. Denn was ich betrachte, das schaue ich verständlicherweise auch an. Wer also das Denken denkend betrachtet, der schaut es dementsprechend auch an.

55 Wilfried Gabriel, Personale Pädagogik in der Informationsgesellschaft, Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Bd. 240, S. 172.

56 Wilfried Gabriels Aussage ließe noch die Lesart zu, daß auch der Inhalt des Denkens erst gegeben ist, wenn der Denkvorgang bereits vorüber ist. Das scheint mir aber hier nicht gemeint zu sein, da die Konsequenzen dieser Formulierung ziemlich abstrus wären - wir würden vom Denkakt dann gar nichts bemerken, weder von seiner inhaltlichen noch von seiner Tätigkeitsseite und lediglich aus dem Nachhinein auf so etwas wie Denktätigkeit schließen können. Wir hätten es dann mit Erinnerungen von Unwahrnehmbarem zu tun. Freilich kommen wir auch mit der von mir bevorzugten Lesart in ein ähnliches Dilemma. Denn auch wenn der Denkakt als Akt erst gegeben ist, wenn er bereits vorbei ist, stellt sich dieselbe Frage, auf welchem Wege ich überhaupt von ihm wissen kann.

57 Wilfried Gabriel, Personale Pädagogik in der Informationsgesellschaft, Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Bd. 240, S. 172.

58 Wilfried Gabriel, Personale Pädagogik in der Informationsgesellschaft, Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Bd. 240, S. 172.

59 Georg Kühlewind, Bewußtseinsstufen. Meditationen über die Grenzen der Seele. 3. Auflage, Stuttgart 1993.

60 So erläutert er etwa auf S. 17 f Steiners Zusätze von 1918 zum Kapitel "Die Konsequenzen des Monismus" : "Der Gegensatz zur Feststellung, es vertrügen sich »tätiges Hervorbringen und beschauliches Gegenüberstellen« nicht, könnte nicht entschiedener sein. In Wirklichkeit liegt überhaupt kein Widerspruch vor, denn das intuitive Erleben ist in der Tat kein »beschauliches Gegenüberstehen«, auch kein »Beobachten« im gewöhnlichen Sinne, sondern Anwesenheit, Gegenwärtigkeit bei der Betätigung, unmittelbares Erfahren von innen her."

61 Das Paradigma vom denkenden Gehirn gilt heute eher noch mehr als zu Steiners Zeiten. Siehe hierzu exemplarisch das Interview mit dem Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung Wolf Singer in Spektrum der Wissenschaft, 2, 2001, S. 72 ff. Die von Singer dort vorgetragenen Argumente gegen die Willensfreiheit sind im Prinzip noch dieselben, die schon seit Generationen angeführt werden: Der Hirnstatus bestimmt den Inhalt des Denkens. Dieses ist damit im strengen Sinne materiell determiniert. Und die Willensfreiheit eine Illusion.

62 Marcelo da Veiga Greuel ,Wirklichkeit und Freiheit. Die Bedeutung Johann Gottlieb Fichtes für das philosophische Denken Rudolf Steiners. Gideon Spicker Verlag, Dornach 1990

63 Rein sprachlich gesehen ist das von Brentano erwähnte Comtesche Argument dem Steinerschen auffallend ähnlich, aber man muß sich davor hüten, hier zunächst mehr als nur eine unspezifische Parallelität zu sehen. Die Frage ist nämlich, was Comte unter dieser Beobachtung genau versteht, und das ist dem Zitat nicht zu entnehmen.

64 Herbert Witzenmann, Strukturphänomenologie, Dornach 1983. Siehe dort etwa S. 25.

65 Greuel bezieht sich hier ab S. 44 auf die vor allem von Witzenmann vertretene Lösungsvariante einer Akt-Inhalt-Unterscheidung. Hierzu ist zu bemerken, daß das dritte Kapitel der "Philosophie der Freiheit" einen solchen Ansatz nicht plausibel erscheinen läßt. - Das heißt: die Frage der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens hat mit der Unterscheidung von Denkakt und Denkinhalt nicht das geringste zu tun, etwa in dem Sinne, daß uns zwar die Inhalte, nicht aber die gegenwärtigen Denkakte bewußt wären. Bei hinreichender Aufmerksamkeit sind die gegenwärtigen Denkakte nicht minder Gegenstand der Erfahrung bzw. des Erlebens wie die Inhalte. Ich kann allerdings während des Denkens zu keinem Begriff von diesem gegenwärtigen Denkakt kommen, weil ich darüber nicht simultan nachdenken kann - das heißt: weil ich den aktuellen Denkakt nicht gleichzeitig denkend betrachten (= beobachten) kann. Doch diese Restriktion gilt genauso gegenüber dem Denkinhalt. Ich kann während des Durchdenkens eines beliebigen Inhaltes aus denselben Gründen auch nicht gleichzeitig den Begriff des Denkinhaltes bilden, sondern auch hier nur im Nachhinein nach gesonderter denkender Betrachtung der entsprechenden Denk-Erfahrung. Denkakt und Denkinhalt sind bereits Metabegriffe zur Kennzeichnung von Gebilden des Denkens, die sich beide erst aus der denkenden Betrachtung (=Beobachtung) von Erfahrungen des Denkens ergeben. Ferner wäre dieser von Greuel skizzierte Weg nicht imstande die Empirismusfrage zu bewältigen, weil er zum Problem der Erfahrungsgegebenheit des aktuellen Denkens keine klärende Aussage treffen kann. Um detaillierter darauf einzugehen, müßte man sich allerdings mit dem entsprechenden Witzenmannschen Gedankenweg näher auseinandersetzen, was im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist.

66 Herbert Witzenmann, Intuition und Beobachtung, in: ders. Intuition und Beobachtung, Teil 1. Stuttgart 1977, S. 73 ff. Dieser Aufsatz, der hier mit Ergänzungen und Änderungen neu abgedruckt wird, erschien erstmals in der Zeitschrift "Die Drei«, 1948, 6. 72

67 Herbert Witzenmann, Die Philosophie der Freiheit als Grundlage künstlerischen Schaffens, 2 Dornach 1988.

68 Die Voraussetzungslosigkeit der Anthroposophie, 2 Stuttgart 1986

69 Herbert Witzenmann, Methodische Konsequenzen der Goetheschen Metamorphosenidee, in: Goethes universalästhetischer Impuls, Dornach 1987, S. 334-408. Witzenmann geht in dieser Untersuchung nicht ausschließlich und speziell der Beobachtung des Denkens nach, sondern die Beobachtung des Denkens ist einer allgemeineren Fragestellung untergeordnet. Es geht um die Beobachtung von Akten und Vollzügen. Diese Fragestellung hat insofern einen gewissen Vorteil, als man sich nicht darüber auseinanderzusetzen braucht, ob die jeweils untersuchten Akte oder Vollzüge im strengen Sinne als "Denken" zu bezeichnen sind oder nicht. Zum Beispiel könnte man sich ja fragen, ob die Produktion einer Phantasievorstellung oder einer inneren sprachlichen Vorstellung überhaupt unter den Begriff des Denkens fallen. Witzenmanns Strategie vermeidet solche Diskussionen und das scheint mir nicht unvorteilhaft zu sein, weil der Begriff des Denkens bei Steiner auch nicht eben klar umschrieben ist.

70 Herbert Witzenmann, Methodische Konsequenzen der Goetheschen Metamorphosenidee, in: Goethes universalästhetischer Impuls, Dornach 1987, S.346.

71 Methodische Konsequenzen der Goetheschen Metamorphosenidee, in: Goethes universalästhetischer Impuls, Dornach 1987, etwa S.346 f; S. 401.

72 So schreibt Bühler: "Es gibt wohl kaum eine andere einzelwissenschaftliche Frage, auf die man so viele verschiedene Antworten erhalten kann als auf die: was ist Denken? Denken ist Verknüpfung, Denken ist Zerlegung. Denken ist Urteilen. Denken heißt Apperzipieren. Das Wesen des Denkens liegt in der Abstraktion. Denken ist Beziehen. Denken ist Aktivität, ist ein Willensvorgang. Fragt man aber spezieller nach den Inhalten der Denkerlebnisse, dann lautet die Antwort sehr einmütig, spezifische Denkinhalte gebe es nicht. Es gibt nur ganz wenige Forscher, die diesen Satz nicht anerkennen würden." Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 297.

73 Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 300 ff.

74 Siehe etwa GA-18, 1968, im Kapitel "Skizzenhaft dargestellter Ausblick auf eine Anthroposophie", S. 605: "Man wird auf diesem Wege nur etwas erreichen, wenn man nicht zurückschreckt davor, sich zu gestehen, daß die Selbsterkenntnis der Seele nicht einfach angetreten werden kann, indem man nach dem Innern schaut, das stets vorhanden ist, sondern vielmehr nach demjenigen, das durch innere Seelenarbeit erst aufgedeckt werden muß. Durch eine Seelenarbeit, die durch Übung zu einem solchen Verharren in der inneren Tätigkeit des Denkens, Fühlens und Wollens gelangt, daß diese Erlebnisse gewissermaßen sich geistig in sich «verdichten». Sie offenbaren dann in dieser «Verdichtung» ihr inneres Wesen, das im gewöhnlichen Bewußtsein nicht wahrgenommen werden kann. Man entdeckt durch solche Seelenarbeit, daß für das Zustandekommen des gewöhnlichen Bewußtseins die Seelenkräfte sich so «verdünnen» müssen und daß sie in dieser Verdünnung unwahrnehmbar werden. Die hier gemeinte Seelenarbeit besteht in der unbegrenzten Steigerung von Seelenfähigkeiten, welche auch das gewöhnliche Bewußtsein kennt, die dieses aber in solcher Steigerung nicht anwendet. Es sind die Fähigkeiten der Aufmerksamkeit und der liebevollen Hingabe an das von der Seele Erlebte. Es müssen, um das Angedeutete zu erreichen, diese Fähigkeiten in einem solchen Grade gesteigert werden, daß sie wie völlig neue Seelenkräfte wirken."

75 Man kann hier sicherlich auch auf "Wahrheit und Wissenschaft" zurückgreifen. Auch dort kommen erinnerungstheoretische Überlegungen logischerweise nicht vor. Man könnte exemplarisch Steiners Satz hier aus GA-3, 1980, S. 39 entsprechend umformulieren: »Wenn ich sage: mein gegebener Bewußtseinsinhalt erstreckt sich zunächst nur auf meine Erinnerungen, so ist das doch ein ganz bestimmtes Erkenntnisurteil. Ich füge durch diesen Satz der mir gegebenen Welt ein Prädikat bei, nämlich die Existenz in Form der Erinnerung. Woher aber soll ich vor allem Erkennen wissen; daß die mir gegebenen Dinge Erinnerungen sind ?«

76 Johannes Volkelt, Immanuel Kants Erkenntnistheorie nach ihren Grundprincipien analysirt. Ein Beitrag zur Grundlegung der Erkenntnisstheorie von Johannes Volkelt. Leipzig, 1879, S. 167 f.

77 Michael Muschalle, Das Denken und seine Beobachtung. Untersuchungen zur Beziehung zwischen Epistemologie und Methodologie in der Philosophie Rudolf Steiners. Dissertation Bielefeld, 1989.

78 Peter Schneider, Einführung in die Waldorfpädagogik, 2Stuttgart, 1985, S. 67. Anmerkung 40.

79 Ich denke, daß sich die Psychologie der Steinerzeit in einem selten günstigen historischen Moment befunden hat, die sie auch für die Steinerforschung interessant macht. Das liegt nicht nur daran, daß sie sich noch mit vollem Ernst einer Psychologie der Selbstbeobachtung gewidmet hat, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe. Sondern dieser günstige Moment liegt auch darin, daß ihre Ablösung von der Philosophie noch nicht definitiv vollzogen, sondern erst eingeleitet war, und bedeutende Psychologen oft auch gute Philosophen waren und ihre Fragestellung mit entsprechender philosophischer Tiefgründigkeit vorantrieben.

80 Eine ausführlichere Erklärung für die Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens gibt Brentano im ersten Band seiner "Psychologie vom empirischen Standpunkt" auf S. 180 f. Er schreibt dort: "Wir können den Ton das primäre, das Hören selbst das sekundäre Objekt des Hörens nennen. Denn zeitlich treten sie zwar beide zugleich auf, aber der Natur der Sache nach ist der Ton das frühere. Eine Vorstellung des Tones ohne Vorstellung des Hörens wäre, von vornherein wenigstens, nicht undenkbar; eine Vorstellung des Hörens ohne Vorstellung des Tones dagegen ein offenbarer Widerspruch. Dem Tone erscheint das Hören im eigentlichsten Sinne zugewandt, und indem es dieses ist, scheint es sich selbst nebenbei und als Zugabe mit zu erfassen.

§ 9. Ist dieses richtig, so ergibt sich daraus die Erklärung mehrerer auffallender Erscheinungen, und mit anderen löst sich auch die Schwierigkeit, welche zuletzt gegen die Annahme, es seien alle psychischen Phänomene bewußt, geltend gemacht wurde.

Nehmen wir psychische Phänomene wahr, die in uns bestehen?- Die Frage muß mit entschiedenem Ja beantwortet werden; denn woher hätten wir ohne eine solche Wahrnehmung die Begriffe des Vorstellens und Denkens? Aber es zeigt sich andererseits, daß wir nicht imstande sind, unsere gegenwärtigen psychischen Phänomene zu beobachten, und wie soll man dies erklären, wenn nicht daraus, daß wir unfähig sind sie wahrzunehmen? - Früher, in der Tat, schien eine andere Erklärung nicht wohl denkbar; jetzt aber sehen wir den wahren Grund deutlich ein. Die einen psychischen Akt begleitende, auf ihn bezügliche Vorstellung gehört mit zu dem Gegenstande, auf welchen sie gerichtet ist. Würde jemals aus einer inneren Vorste1lung eine innere Beobachtung werden, so würde eine Beobachtung auf sich selbst gerichtet sein. Das aber scheinen auch die Verteidiger der inneren Beobachtung nicht für möglich zu halten, und J. St. Mill, wo er gegen Comte die Möglichkeit vertritt, daß jemand sich beim Beobachten beobachte, beruft sich darum auf unsere Fähigkeit, mehreres gleichzeitig mit Aufmerksamkeit zu verfolgen. Eine Beobachtung soll also auf die andere Beobachtung, nicht dieselbe auf dieselbe gerichtet sein können. In Wahrheit kann etwas, was nur sekundäres Objekt eines Aktes ist, zwar in ihm bewußt, nicht aber in ihm beobachtet sein; zur Beobachtung gehört vielmehr, daß man sich dem Gegenstande als primärem Objekte zuwende. Also nur in einem zweiten, gleichzeitigen Akte, der einem in uns bestehenden Akte als primärem Objekte sich zuwendete, könnte dieser beobachtet werden. Aber die begleitende innere Vorstellung gehört eben nicht zu einem zweiten Akte. Somit sehen wir, daß überhaupt keine gleichzeitige Beobachtung des eigenen Beobachtens oder eines anderen eigenen psychischen Aktes möglich ist."

Man sieht, daß Brentano hier infolge seines andersartigen epistemischen Bezugspunktes, der offenkundig nicht im Fundamentalbegriff des Denkens gründet, die aktuelle Unbeobachtbarkeit auf sämtliche psychischen Phänomene ausdehnt. Ein dergestalt generalisierter Standpunkt läßt sich aus dem Steinerschen Verständnis mit seinem zentralen Begriff des Denkens sicherlich nicht ableiten. Ebensowenig könnte im Steinerschen Sinne das Hören (im Sinne einer seelischen Aktivität) zum Objekt des Hörens werden, wie Brentano hier eingangs meint, sondern allenfalls zum Objekt des Denkens, es sei denn, man begreift unter der seelischen Aktivität des Hörens selbst eine Variante des Denkens. In diesem Fall entspräche die Tätigkeit des Hörens dem gedanklichen Anteil bei der Wahrnehmung des Tönenden, oder im Witzenmannschen Sinne des entsprechenden Strukturaufbaus. Für Steiner gilt die aktuelle Unbeobachtbarkeit zunächst nur für das Selbstgegebene, das ist: für das Denken. Einmütigkeit besteht zwischen Brentano und Steiner allerdings dahingehend, daß auch gemäß der Brentanoschen Auffassung das aktuelle Denken nicht gleichzeitig durch das Denken beobachtet, wohl aber erlebt werden kann.

81 Siehe etwa auch Helmut Kiene, Grundlinien einer essentialen Wissenschaftstheorie, Stuttgart 1984. Auch Kiene geht Steiners Argumenten für die Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens so gut wie nicht nach, und das Spaltungsargument wird gar nicht erst erwähnt. So schreibt er zwar auf S. 142: "Das Denken ist das tragende Prinzip aller wissenschaftlichen Erkenntnis. Es selbst aber ist ein nicht erkanntes Mysterium. Soll diese paradoxe Unbegründetheit der gegenwärtigen Wissenschaft überwunden werden, so muß das Denken selbst erkannt werden." Die Erkenntnis des Denkens ist, wie Kiene ganz richtig sieht, der Dreh- und Angelpunkt der Wissenschaft. Über die Art und Weise aber, »wie« wir das Denken erkennen können, äußert er sich nur sehr rudimentär und überaus verschwommen und oberflächlich.

Hinsichtlich der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens bzw. des "Erkennens des Denkens"spricht Kiene von einer "grundsätzlichen Erschwernis" (S. 150): "Dieses Erkennen des Denkens steht aber unter dem Zeichen einer grundsätzlichen Erschwernis. Es ist nämlich die Eigentümlichkeit des Denkens, daß es sich normalerweise während des jeweiligen aktuellen Denkaktes dem Bewußtsein entzieht." Und einige Zeilen weiter: "Es entzieht sich dem Bewußtsein aus gerade diesem Grunde - weil man es selbst hervorbringt. - »Zwei Dinge vertragen sich nicht: Beschauliches Gegenüberstellen und tätiges Hervorbringen.«". Nun entzieht sich nach Steiner das gegenwärtige Denken nicht dem "Bewußtsein" sondern lediglich der "Beobachtung". Der Umstand, daß wir uns das gegenwärtige Denken nicht "beschaulich gegenüberstellen" können ist keineswegs gleichbedeutend mit seiner fehlenden Bewußtheit. Wäre uns das gegenwärtige Denken prinzipiell nicht bewußt, dann wäre es auch nicht unmittelbar erfahrbar und der ganze Aufwand, mit seiner Hilfe ein empirisches wissenschaftliches Fundament zu errichten, wäre vergeblich. Dann wäre es nämlich nicht mehr auf dem Wege empirischer Erfahrungen sondern lediglich noch schlußfolgernd über paradoxe Erinnerungen an Unerfahrbares erkennbar, und wir ständen vor derselben fatalen erkenntnistheoretischen Situation wie bei Witzenmann. Auch Kiene versäumt es, sich über Steiners Begriff der Denk-Beobachtung Klarheit verschaffen, und deswegen entgeht ihm, daß Steiners Reflexionsargument kein empiristisches Argument ist.

82 Wilhelm Wundt, Über Ausfrageexperimente und über die Methoden zur Psychologie des Denkens. In: Wundt, Psychologische Studien III., 1908, S. 330 f.

Diese Auffassung wird übrigens auch von E. Dürr, einer der zwei Bühlerschen Versuchspersonen bestätigt. Siehe hierzu E. v. Aster, Die psychologische Beobachtung und experimentelle Untersuchung von Denkvorgängen, in: Zeitschrift für Psychologie, 49, 1908, S. 56-107. Von Aster erwähnt dort auf S. 107 einen Dürrschen Vortrag, in dem dieser eben jene Ansicht zum Ausdruck gebracht habe.

83 Wilhelm Wundt, Kritische Nachlese zur Ausfragemethode, in: Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. XI, 1908, S. 450. Wundts kritische Haltung gegenüber den erinnerungsgestützten Bühlerschen Denk-Beobachtungsversuchen speist sich vor allem auch daraus, daß ihm die von Bühler verwendeten Denkobjekte viel zu kompliziert erschienen. Es handelte sich dabei zum Teil um sehr komplexe Fragen aus dem Bereich der Philosophie, z. B. ob mit dem Denken das Wesen des Denkens erfaßt werden könne. Solche Fragen, obschon sie an Philosophen gerichtet waren, mußten nach Wundts Auffassung die Aufmerksamkeit so hochgradig absorbieren, daß für Erlebniskonstatierungen nichts mehr übrig blieb. (siehe S. 450 f)

84 Karl Bühler, Antwort auf die von W. Wundt erhobenen Einwände gegen die Methode der Selbstbeobachtung an experimentell erzeugten Erlebnissen, in Archiv für Psychologie XII:, 1908, S. 99 f.

85 So verlangte Bühler im Rahmen der Auseinandersetzung mit Wundt ausdrücklich die Entwicklung einer psychologischen Quellenkritik, und zwar: "sowohl eine allgemeine, welche eine Theorie der Selbstbeobachtung überhaupt enthält, als eine individuelle, welche uns ein Maß der Zuverlässigkeit für das einzelne Protokoll einer bestimmten Vp. zu bieten imstande ist."Siehe Karl. Bühler, Antwort auf die von W. Wundt erhobenen Einwände gegen die Methode der Selbstbeobachtung an experimentell erzeugten Erlebnissen, in : Archiv für Psychologie XII:, 1908, S. 101.

86 Auf den Mangel eines anerkannten Denkbegriffes kommt Bühler gleich zu Beginn seiner Arbeit zu sprechen, wenn er schreibt: "Es gibt wohl kaum eine andere einzelwissenschaftliche Frage, auf die man so viele verschiedene Antworten erhalten kann als auf die: was ist Denken? Denken ist Verknüpfung, Denken ist Zerlegung. Denken ist Urteilen. Denken heißt Apperzipieren. Das Wesen des Denkens liegt in der Abstraktion. Denken ist Beziehen. Denken ist Aktivität, ist ein Willensvorgang..." Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 297.

Auf S. 303 betont er erneut diesen Mangel eines anerkannten Denkbegriffes, wenn es heißt: "Wir stellen uns also die allgemeine Frage: Was erleben wir wenn wir denken? Dann versuchen wir uns gar nicht erst an einer vorläufigen Bestimmung des Begriffes Denken sondern wählen für die Analyse nur solche Vorgänge, die jedermann als Denkvorgänge bezeichnen wird."

87 Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 303.

88 Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 316 f.

89 Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 308 f.

90 Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 303. Dort schreibt Bühler: "Wer garantiert uns denn dafür, daß Urteil und Begriff Begriffsbestimmungen sind, zu denen auch eine psychologische Betrachtungsweise der Denkvorgänge kommen wird? Und selbst wenn sie zu ihnen kommt, daß diese Bestimmungen auch dieselbe dominierende Bedeutung haben werden, wie in der Logik?"

91 Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 334 ff.

92 Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 343 ff.

93 Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 347.

94 Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 347.

95 Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 348.

96 Vergl. Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge I., Über Gedanken. In: Archiv für die gesamte Psychologie, 9, 1907, S. 303. Bühler erwähnt hier andere Arbeiten aus dem Würzburger Institut, bei denen man davon ausgegangen war, daß die Denk-Erlebnisse Begriffe, Urteile und Schlüsse sein müßten. Diese Annahme ist für Bühler keineswegs selbstverständlich. So schreib er diesbezüglich: "An sich sind das ja gewiß ganz einwandfreie Problemstellungen, aber ihre logische Herkunft ist doch geeignet, eine gewisse Einengung des Horizonts mit sich zu bringen. Wer garantiert uns denn dafür, daß Urteil und Begriff Begriffsbestimmungen sind, zu denen auch eine psychologische Betrachtungsweise der Denkvorgänge kommen wird. Und selbst wenn sie zu ihnen kommt, daß diese Bestimmungen auch dieselbe dominierende Bedeutung haben werden wie in der Logik?"

97 Siehe hierzu Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge I., Über Gedanken. In: Archiv für die gesamte Psychologie, 9, 1907, S. 297-365.

98 GA-3, 1980, S. 63.

99 GA-2, 1979, S. 49.

100 Ludwik Fleck, Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im allgemeinen, in: Ludwik Fleck, Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Mit einer Einleitung herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1983, S. 60.

101 Siehe hierzu etwa Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Textkritische Ausgabe von E. Holenstein. Bd. 1, Prolegomena zur reinen Logik, Den Haag, 1975. Wenn Husserl übrigens dort auf S. 72 f seine Psychologismuskritik auf die These stützt, daß es die Psychologie bislang nicht zu exakten Gesetzen sondern nur zu vagen Verallgemeinerungen gebracht habe, so steht dies im vollen Widerspruch zu Steiners Aussage von der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens. Denn genau dieses Gesetz der Unbeobachtbarkeit gilt apodiktisch und es läßt sich auf keinem anderen Wege finden als auf dem der Erfahrung. Es besteht zudem kein Anlaß, ihm nicht auch den Status eines psychologischen Gesetzes zuzuschreiben, denn es gilt grundsätzlich auch für alle Urteilsvorgänge, die nach Steiner (etwa GA-115, Vortr. v. 1. und 2. 11. 1910) und Brentano explizit seelische Tatbestände sind. Zu Brentano siehe: Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd.2, herausgegeben von O. Kraus, Hamburg 1959, S. 179 f; S. 181 f.

Es mag andere gute Gründe geben, die Psychologie von der Logik zu scheiden. Der Verweis auf die mangelnde Exaktheit psychologischer Gesetze scheint mir kein sehr solides Kriterium einer solchen Scheidung zu sein. Es orientiert sich viel zu sehr am zufälligen historischen Entwicklungsstand einer Wissenschaft als an den Gegenständen derselben. Daß es die empirische Psychologie im Laufe ihrer verhältnismäßig sehr kurzen Geschichte noch nicht zu vergleichbar exakten Gesetzen gebracht hat wie die Logik mit ihrer mehr als zweitausendjährigen Vergangenheit ist nicht verwunderlich. Allein, daß Husserl seine Unterscheidung am historisch bedingten Reifegrad einer Wissenschaft festmacht, scheint mir wenig überzeugend und unrealistisch. Und - quasi unter sportlichen Gesichtspunkten gesehen - ist diese Vorgehensweise auch nicht ganz fair gegenüber der gerade erst sich formierenden empirischen Psychologie. Es ist so, als wollte man den sportlichen Wettbewerb von zehnjährigen Nachwuchskickern mit ausgebufften Profis des FC Bayern ins Auge fassen. Husserls Urteil über den Nachwuchs müsste lauten: Weil er bei diesem Wettbewerb verliert, werden diese Spieler immer schlechte Spieler bleiben.

Siehe weiter:

Melchior Palàgyi, Der Streit der Psychologisten und Formalisten in der modernen Logik, Leipzig 1902.

Willy Moog, Logik, Psychologie und Psychologismus, Halle a. S., 1919.

Gabriele Gutzmann, Logik als Erfahrungswissenschaft. Der Kalkülismus und Wege zu seiner Überwindung. Berlin 1980.

102 GA-4, 1978, S. 145.

103 Bernhard Kallert, Die Erkenntnistheorie Rudolf Steiner, Stuttgart, 2 1971, S. 50.

104 Siehe hierzu Steiners Bemerkungen in GA-4, 1978, S. 44 f: "Diese durchsichtige Klarheit in bezug auf den Denkprozeß ist ganz unabhängig von unserer Kenntnis der physiologischen Grundlagen des Denkens. Ich spreche hier von dem Denken, insoferne es sich aus der Beobachtung unserer geistigen Tätigkeit ergibt. Wie ein materieller Vorgang meines Gehirns einen andern veranlaßt oder beeinflußt, während ich eine Gedankenoperation ausführe, kommt dabei gar nicht in Betracht. Was ich am Denken beobachte, ist nicht: welcher Vorgang in meinem Gehirne den Begriff des Blitzes mit dem des Donners verbindet, sondern, was mich veranlaßt, die beiden Begriffe in ein bestimmtes Verhältnis zu bringen. Meine Beobachtung ergibt, daß mir für meine Gedankenverbindungen nichts vorliegt, nach dem ich mich richte, als der Inhalt meiner Gedanken; nicht nach den materiellen Vorgängen in meinem Gehirn richte ich mich. Für ein weniger materialistisches Zeitalter als das unsrige wäre diese Bemerkung natürlich vollständig überflüssig. Gegenwärtig aber, wo es Leute gibt, die glauben: wenn wir wissen, was Materie ist, werden wir auch wissen, wie die Materie denkt, muß doch gesagt werden, daß man vom Denken reden kann, ohne sogleich mit der Gehirnphysiologie in Kollision zu treten."

105 In diesem Sinne ist auch die Beobachtung des Denkens einer anderen Person eine unmittelbare zu nennen. Vergl GA-4, 1978, S. 43.

106 GA-4, 1978, S. 48.

107 GA-4, 1978, S. 54.

Etwas Vergleichbares zu dieser Steinerschen Kennzeichnung der Ich-Aktivität findet sich weder bei Wilhelm Wundt, noch bei Karl Bühler. Wundt sieht den Grund der Persönlichkeitsspaltung überwiegend in der Aufmerksamkeitsteilung. Bei Bühler ist die Lage etwas diffus: auf der einen Seite schließt er sich dieser Wundtschen Auffassung an - unterstellt aber implizit doch, daß eine Teilung der Aufmerksamkeit möglich ist. Denn seine Versuchspersonen mußten sich nicht nur auf das gedankliche Problem konzentrieren, sondern zusätzlich auf die Erlebnisse, die sie dabei hatten, was ja unterschiedliche Sachverhalte sind.

Rudolf Steiner hat später in einem Züricher Vortrag (GA 73, 1973, Vortrag v. 5. 11. 1917, S. 16f) das Motiv der Persönlichkeitsspaltung noch einmal aufgegriffen, und dort betont, daß sich zur Beobachtung des seelischen Lebens eine Spaltung vollziehen müsse: "Man könnte nun sagen: Der Natur gegenüber ist der Beobachter als selbstverständliche Außenpersönlichkeit gegeben; dem seelischen Erleben steht kein Beobachter gegenüber. Daher verzweifelten manche Leute überhaupt an einer Möglichkeit, das seelische Leben zu beobachten, weil sie sich gar nicht vorstellen konnten, wie die Spaltung sich vollziehen könnte: daß man zu gleicher Zeit den Ablauf des Seelenlebens hat und dennoch Beobachter ist. Das ist es aber gerade, dieses sonderbare Paradoxon, was eintreten muß, um eine Seelenwissenschaft, die sich der Naturwissenschaft zur Seite stellen kann, ich möchte sagen, im Geiste der Forderungen der Naturwissenschaft wieder erstehen zu lassen. Die Frage nach dem Beobachter des seelischen Lebens muß ernst, muß in ihrer vollen Bedeutung und Tiefe genommen werden." Mancher anthroposophische Autor mag an diese oder eine ähnliche Passage aus dem Vortragswerk denken, wenn er um das Verständnis der fraglichen Textstelle des dritten Kapitels der Philosophie der Freiheit ringt. Hierzu ist anzumerken, daß die Beobachtung des Seelenlebens im allgemeinen nicht gleichzusetzen ist mit der Beobachtung des Denkens im engeren Sinne, die einen ganz speziellen Fall von Beobachtung darstellt. Man kann es so formulieren: Das Ich kann sich als Beobachter wohl dem aktuellen Seelebleben gegenüberstellen, soweit dieses wie ein Fremdgegebenes erscheint, nicht aber seiner eigenen denkenden Tätigkeit. Steiner scheint sich hier eher mit der ebenfalls verbreiteten These auseinanderzusetzen, daß das Gegenwartsgeschehen des Seelenlebens jeglichen Typs grundsätzlich nicht zu beobachten sei, eine Auffassung, die sowohl Wundt, als auch - zumindest zeitweise - Franz Brentano vertreten hat. Wundts obige Einwände gegen Bühler werden noch überwiegend aus dieser Überzeugung gespeist.

107a Bei Wilson lautet die entsprechende Passage des dritten Kapitels: "I am, moreover, in the same position when I enter into the exceptional state and reflect on my own thinking. I can never observe my present thinking; I can only subsequently take my experiences of my thinking process as the object of fresh thinking. If I wanted to watch my present thinking, I should have to split myself into two persons, one to think, the other to observe this thinking. But this I cannot do. I can only accomplish it in two separate acts. The thinking to be observed is never that in which I am actually engaged, but another one. Whether, for this purpose, I make observations of my own former thinking, or follow the thinking process of another person, or finally, as in the example of the motions of the billiard balls, assume an imaginary thinking process, is immaterial." [Hervorhebung MM] Siehe dazu folgenden Link: Michael Wilson

Für Interpretationszwecke, vor allem wenn es um strittige Passagen geht, kann die Einbeziehung der englischen Ausgabe unter Umständen hilfreich sein, weil hinter dieser Übersetzung ein außerordentliches Bemühen um Adäquatheit der englischen Ausdrücke steht, in die Steiner teilweise auch einbezogen war. Zumindest sein Drängen auf Titeländerung von Philosophy of Freedom zu Philosophy of Spiritual Activity ist bekannt. Bei der englischen Ausgabe handelt es sich streng genommen um eine Form der Interpretation der deutschen Ausgabe, denn die angemessene Übertragung ist nur möglich bei genauester Kenntnis der deutschsprachigen Bedeutungen spezifischer Formulierungen. Siehe dazu die Einführung des Übersetzers.

107b Penrose erörtert auf S. 92 ff die Frage, wie "real" die Gegenstände der mathematischen Welt seien und drückt die Überzeugung aus, sie seien eigenständige Wesenheiten, die nicht konstruiert, sondern wahrgenommen werden. Auf S. 416 ff versucht er, diesen Aspekt der Wahrnehmung beim mathematischen Denken weiter zu plausibilisieren. So schreibt er etwa S. 418: "Ich stelle mir vor, daß der Geist jedesmal, wenn er eine mathematische Idee wahrnimmt, mit der Platonischen Welt mathematischer Begriffe in Kontakt tritt. ... Wenn man eine mathematische Wahrheit »einsieht«, dringt das Bewußtsein in diese Welt der Ideen ein und tritt mit ihr in direkten Kontakt." Penrose will diesen Prozeß des "Sehens" von Platonischen mathematischen Entitäten keinesfalls nur metaphorisch verstanden wissen, sondern ist von der Realität dieser Ideenwelt derart überzeugt, daß er von einer Aufhellung des Verhältnisses zwischen Denker und Idee eine völlige Umwälzung der modernen Physik erwartet. Daher auch sein Bemühen, die Unvereinbarkeit von Quantentheorie und Relativitätstheorie mittels einer Theorie des Bewußtseins zu überwinden. Man könnte sehr vorsichtig dazu sagen, daß Penrose hier jenem Bereich des Geistigen auf der Spur ist, den Steiner Bildekräfte oder das Ätherische nennt. Weiteres dazu siehe hier.

Während Penrose die Eigenständigkeit des Ideellen zunächst noch weitgehend auf mathematische Entitäten beschränkt, gilt diese bei Steiner auch für nichtmathematische Ideen wie die Idee der Freiheit. Diese wird nicht etwa in subjektivistischem Sinne ausgedacht oder konstruiert, sondern wahrgenommen oder beobachtet, mit derselben Strenge, mit der mathematische Ideen beobachtet werden, weil die Idee der Freiheit einen ebenso auf sich beruhenden Inhalt hat, wie die Ideen der Mathematik. In seinem Lebensgang schreibt Steiner (GA-28, 1962, S. 331: "Ich glaube nicht, daß ich deshalb diese Idee [der Freiheit, MM] einseitig angeschaut habe, weil sie in meinem eigenen Leben die große Bedeutung hatte. Sie entspricht einer objektiven Wirklichkeit, und was man selbst mit einer solchen erlebt, kann bei einem gewissenhaften Erkenntnisstreben diese Wirklichkeit nicht verändern, sondern nur deren Durchschauen in stärkerem oder geringerem Grade möglich machen." Bei dieser Idee der Freiheit handelt es sich demnach um einen nicht minder subjektunabhängigen, objektiven geistigen Sachverhalt wie bei der Idee des Dreiecks, der Primzahlen oder der Mandelbrot-Menge. Sie hat eine eigene Struktur oder Gesetzlichkeit, die vollkommen unabhängig ist von der Persönlichkeit des jeweiligen Denkers, so wie auch die Gesetze der Zahlen von der Person des Mathematikers unberührt sind. Steiner hat also dem eigenen Selbstverständnis gemäß die Philosophie der Freiheit konzipiert, indem er die Idee der Freiheit beobachtet hat in vergleichbarer Weise, wie ein Mathematiker eine mathematische Idee beobachtet. Das heißt, es gibt dort eine logische Strenge der Begriffe, die sich nicht unterscheidet von der Striktheit, mit der mathematische Begriffe zueinander in Beziehung stehen. In GA-1, 1973, S. 83 nennt Steiner einen Begriff, der "einen aus ihm und nur aus ihm fließenden Gehalt hat", einen intuitiven Begriff und bezieht sich dabei speziell auf die Organik und den Begriff des "Organismus". Da diese Kennzeichnung, einen aus ihr und nur aus ihr fließenden Gehalt zu haben, nicht minder für die Idee der Freiheit gilt, kann man sie sinnvollerweise als eine intuitive Idee bezeichnen. Siehe dazu auch GA-2, 1979, S. 109 ff.

Da in der Gegenwartsphilosophie sicherlich eher die Bereitschaft vorhanden ist, die Subjektunabhängigkeit mathematischer Gebilde zu akzeptieren als die von ethischen Ideen, wäre es vielleicht einmal einen Versuch Wert, Steiners quasi mathematisierendes Vorgehen bei der Beobachtung der Freiheitsidee näher aufzuzeigen. Mir scheint das aussichtsreicher zu sein, als nach sprachkabbalistischer Manier alle möglichen Rhythmen in seinem Werk zu untersuchen. Eines läßt sich hier auf jeden Fall dazu feststellen: Die Idee der Freiheit impliziert notwendigerweise die Beobachtung und das Verständnis des Denkens und des Erkennens. Ohne ein Verständnis von Denken und Erkennen bleibt auch die Idee der Freiheit unzugänglich.

107c Im angeführten Zitat setzt Steiner Intuition und Beobachtung als die zwei "Quellen unserer Erkenntnis" einander gegenüber. Es geht bei beiden um Gewahrwerdung. Der Gedankeninhalt tritt in der Form der Intuition auf. Der (sinnliche) Wahrnehmungsinhalt in der Form der Beobachtung. Das Problem an dieser Formulierung und entsprechend an Witzenmanns Lesart liegt darin, Beobachtung und Intuition in diesem Sinne gegenstandspezifisch zu unterscheiden. Berücksichtigt man nämlich die Philosophie der Freiheit insgesamt, so wird diese Unterscheidung in sich widersprüchlich, da die Beobachtung nach Steiner auch der Gewahrwerdung ideeller Gegenstände dient. Sie deckt also das schon mit ab, was gemäß obiger Auffassung der Intuition vorbehalten bleibt. Steiner schreibt auf S. 39: "Alles was in den Kreis unserer Erlebnisse eintritt, werden wir durch die Beobachtung erst gewahr. Der Inhalt von Empfindungen, Wahrnehmungen, Anschauungen, die Gefühle, Willensakte, Traum- und Phantasiegebilde, Vorstellungen, Begriffe und Ideen, sämtliche Illusionen und Halluzinationen werden uns durch die Beobachtung gegeben." Hiernach ist die Intuition eindeutig nur als eine spezielle Variante der Beobachtung aufzufassen, nämlich einer Beobachtung, die nach innen hin, auf geistige Gegenstände gerichtet ist.

Steiner verwendet, wie ersichtlich ist, den Beobachtungsbegriff mit unterschiedicher Weite. Einmal bedeutet er Gewahrwerdung überhaupt, und einmal Gewahrwerdung nur sinnlicher, nicht-ideeller Gegenstände. Einmal ist er Oberbegriff und einmal Teilbegriff. Logisch ist das nicht akzeptabel, denn die methodische Kategorie Beobachtung kann nicht zugleich methodische Subkategorie ihrer selbst sein. So wenig wie ein Haus als Ganzes Teileinheit seiner selbst sein kann. In diesem wenig stringenten Sprachgebrauch liegt für mich auch der Anlaß für zahlreiche Rezeptionsprobleme - vielleicht für die meisten der hier schwerpunktmäßig behandelten. Auch die häufigen, über Jahrzehnte sich erstreckenden Bemühungen Herbert Witzenmanns, einen eigenständigen und stringenteren Beobachtungsbegriff zu eruieren, dürften in diesem inkonsistenten Steinerschen Beobachtungsbegriff aller Wahrscheinlichkeit nach ihren Nährboden haben. Allerdings hat Witzenmann, soweit ich sehen kann, nie ausdrücklich im Steiner-kritischen Sinne diese Sachlage thematisiert. Schließlich ist auch die obige strittige Aussage Günter Röscherts, "das Denken sei intim bekannt ohne Beobachtung, nämlich durch Intuition", wahrscheinlich partiell eine Folge der Steinerschen Sprache, denn beide sind in diesem Punkt nicht sinnvoll. Streng genommen besagen sie, das Denken werde nicht durch Beobachtung, sondern durch spezielle Beobachtung bekannt.

Vielleicht wäre es zweckmäßig, um derartige Konflikte zu vermeiden, den von Steiner selbst auch verwendeten neutraleren Ausdruck der Gewahrwerdung als Oberbegriff einzusetzen. Damit ließe sich die Unterscheidung Intuition - Beobachtung stringenter beibehalten. Ideelle Gegenstände, zu denen Begriffe und Ideen, aber auch das Denken insgesamt in all seinen Details gehört, werden wir dann durch Intuition gewahr. Sinnliche Gegenstände durch Beobachtung. Übrigens hat Rudolf Steiner in seiner Schrift Von Seelenrätseln (GA-21, Dornach 1976, S.61) das Problem anderweitig etwas abgemildert, indem er auf den Begriff der Offenbarung als Oberbegriff zurückgreift. So schreibt er dort (S. 61), die etwas strittige Textstelle aus der Philosophie der Freiheit erläuternd: "Mir gilt eben Intuition nicht «bloß» als die «Form, in der ein Gedankeninhalt zunächst hervortritt», sondern als die Offenbarung eines Geistig-Wirklichen, wie die Wahrnehmung als diejenige des Stofflich Wirklichen."

107d Daß dieser von mir vorgestellte Gedankengang nicht ganz unproblematisch ist, dürfte dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein. Die Problematik liegt darin, die Erkenntnis des Denkens einmal als Intuition und einmal als Imagination zu bezeichnen. Für den Ausdruck der Intuition spricht, daß hier eine ideelle Gesetzmäßigkeit bewußt wird. Genauer: Die Offenbarung eines Geistig-Wirklichen stattfindet, um an Steiners Charakterisierung aus der Schrift Von Seelenrätseln anzuknüpfen. Für den Ausdruck der Imagination spricht, daß diese Gesetzmäßigkeit nur in einer repräsentativen Form - eben verbildlicht - bewußt wird. Diese Verbildlichung bezieht sich auf eine geistige Tatsache (das Denken), die als Tatsache bereits vorüber ist, wenn sie erkannt wird, da sich die Beobachtung nur dem vergangenen Denken widmen kann. Die Veranschaulichung ist demnach ein ideelles Bild, das sich das Denken von sich selbst macht. Als Bild verweist es auf ein geistig Wesenhaftes (das sich vollziehende Denken). Solche Bilder, die auf ein geistig Wesenhaftes verweisen, nennt Steiner Imaginationen. Ich lasse die Frage nach der Unterscheidung Imagination-Intuition hier offen. Sie wird sich wohl erst genauer klären lassen, wenn Steiners Begriff der Imagination näher untersucht ist.

108 Michael Muschalle, Weltwechsel oder Wechsel der Theorien. = Jahrbuch für anthroposophische Kritik 1997, S. 190 ff, insbs. S. 223 ff.

109 GA-4, 1978, S. 44.

110 GA-2, 1979, S. 43 f.

111 GA-2, 1979, S. 45.

112 Bernhard Kallert, Die Erkenntnistheorie Rudolf Steiner, Stuttgart, 2 1971, S. 76.

113 Herbert Witzenmann, Skizzenhafte Bemerkungen zu einigen Grundproblemen des Erkennens, in Verstandesblindheit und Ideenschau, Dornach 1985, S. 9 f.

114 GA-2, 1979, S. 119.

115 Siehe hierzu etwa Herbert Witzenmann, Die Voraussetzungslosigkeit der Anthroposophie, 2 Stuttgart 1986, S. 44 ff; S. 96 ff und an anderen Stellen ebendort.

Siehe auch: Herbert Witzenmann, Skizzenhafte Bemerkungen zu einigen Grundproblemen des Erkennens, in Verstandesblindheit und Ideenschau, Dornach 1985, S. 9 f.

Auch in seiner "Strukturphänomenologie" wird dieser "rein wahrnehmliche" Charakter der "reinen Denk-Erfahrung" nicht gesehen. Auf S. 27 kommt Witzenmann auf den Begriff des "Gegenstandes" zu sprechen als eines Resultats der Vereinigung von Wahrnehmlichem und Begrifflichem. Das Denken fällt aus der dortigen Auflistung jener Entitäten heraus, die in diesem Sinne als "Gegenstand" bezeichnet werden können. "Gegenstände sind in diesem Sinne", schreibt Witzenmann dort, "nicht nur die gewöhnlich so genannten Bestandteile unseres täglichen Bedarfes: Tische, Stühle, sondern auch deren Teile, im weiteren Sinne aber auch alles, was unserer Beobachtung als ein Gestaltetes entgegentritt, wie Häuser, Felsen, Berge, Lebewesen und deren Teile. Ferner ist aber auch alles gegenständlich, was durch Vereinigung von Wahrnehmlichem und Begrifflichem beobachtbare Gestalt hat, wie z. B. Oberflächen oder Temperaturen, aber auch Empfindungen und Gefühle, insofern ihr Wahrnehmliches begrifflich bestimmt ist." Das Denken wird hier von Witzenmann nicht genannt, obwohl es für die Erkenntnistheorie der wichtigste "Gegenstand" überhaupt ist. Es entsteht als Wissensgegenstand oder als »Denk-Gegenstand« durch eine beschreibende Betrachtung der Erfahrung des Denkens - also seiner selbst. Ohne eine diesbezügliche und noch unbestimmte Wahrnehmung des Denkens und seine angemessene begriffliche Bestimmung hätten wir gar keinen Begriff vom Denken und noch viel weniger eine umfassendere Theorie davon. Witzenmann schreibt dann weiter, das "rein Wahrnehmliche und das rein Begriffliche" sei zwar auch beobachtbar. Aber auch hier wird der "rein wahrnehmliche" Charakter der unmittelbaren Denk-Erfahrung völlig übersehen, wie Witzenmanns Bemerkungen auf S. 66 f der "Strukturphänomenologie" eindeutig zeigen.

116 GA-2, 1979, S. 41.

117 GA-2, 1979, S. 45.

118 GA-4, 1978, S. 38.

119 GA-3, 1980, S. 52.

120 Siehe Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2Frankfurt 1976, S. 137 f.

121 Eduard von Hartmann, Das Grundproblem der Erkenntnistheorie, Leipzig 1889, S. 54 f.

122 Vergleiche Rudolf Arnheim, Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff, Verlag M. DuMont Schauberg 1972. Darin das Kapitel, Die Intelligenz des Sehens, S. 24 ff.

123 Vergleiche etwa Feyerabends Analyse der Auseinandersetzung um das teleskopische Sehen zu Galileis Zeiten. In: Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 2, Frankfurt 1983, S. 145 ff.

124 GA-4, 1978, S. 53.

125 GA-4, 1978, S. 50.

126 Wolfgang Stegmüller: Walther von der Vogelweides Lied von der Traumliebe und Quasar 3 C 273. Betrachtungen zum sogenannten Zirkel des Verstehens und zur sogenannten Theoriebeladenheit der Beobachtungen. In: Wolfgang Stegmüller, Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, Stuttgart 1979, S. 27-86; insbes. S. 54 ff; S. 77 f.

Es geht bei diesem Beispiel um Grundsätzliches und das wird wohl deutlich. Ob die kosmologische Entfernungsbestimmung immer noch in dem Maße von chinesischer Geschichtsschreibung abhängig ist, wie zu Stegmüllers Zeit, vermag ich nicht zu sagen. Denkbar wäre, daß inzwischen verbesserte Methoden der Entfernungsbestimmung vorliegen, so daß die Anlehnung nicht mehr besteht.

127 Wolfgang Stegmüller: Walther von der Vogelweides Lied von der Traumliebe und Quasar 3 C 273. Betrachtungen zum sogenannten Zirkel des Verstehens und zur sogenannten Theoriebeladenheit der Beobachtungen. In: Wolfgang Stegmüller, Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, Stuttgart 1979, S. 27.

128 Herbert Witzenmann, Skizzenhafte Bemerkungen zu einigen Problemen des Erkennens, in: Verstandesblindheit und Ideenschau, Dornach 1985, S. 11.

129 Das gilt in ganz augenfälliger Weise von jeder instrumentell gestützten Erfahrung. In jeder solchen Erfahrung steckt eine Theorie der Instrumentenfunktion und die enthält immer auch grundlegende physikalische Annahmen. Aber auch für die Sinneswahrnehmung selbst läßt sich sagen, daß sie theoretisch oder gedanklich befrachtet ist, weswegen z. B. Eduard von Hartmann die Möglichkeit einer gedanklich nicht vorstrukturierten "reinen Sinneserfahrung" grundsätzlich ausschließt. Vergl. Eduard von Hartmann, Das Grundproblem der Erkenntnistheorie, Leipzig 1889, S. 54 f

Vergleiche auch Rudolf Arnheim, Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff, Verlag M. DuMont Schauberg 1972. Darin das Kapitel, Die Intelligenz des Sehens, S. 24 ff.

130 Siehe Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2Frankfurt 1976, S. 65 .

131 GA-4, 1978, S. 43.

Ende Anmerkungen


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