Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung

(Stand 12.07.01)

Kaitel 5

Das Spaltungsargument in der Diskussion zwischen Karl Bühler und Wilhelm Wundt.

Ich bin der festen Überzeugung, daß wir mit der Steinerschen Aporie nur zurechtkommen, wenn wir zuallererst dieses Spaltungsargument berücksichtigen und uns fragen, was der eigentliche Anlaß für die von Steiner behauptete Persönlichkeitsspaltung sein könnte. Ich werde dazu einen Blick in die Denkpsychologie der Steinerzeit werfen, wo wir das von Steiner angeführte Argument in einem klassischen Gelehrtenstreit über die Frage der Denk-Beobachtung wiederfinden. Mit seiner Hilfe wird es uns vielleicht gelingen den argumentativen Gehalt der Steinerschen Begründung sichtbar zu machen, ein theoriekonformes Verständnis von Denk-Beobachtung zu gewinnen und die Aporie aufzulösen. Danach sollten wir uns erneut die Frage vorlegen, wie es um die empirische Basis der Steinerschen Philosophie bestellt ist. Wir werden aber zunächst darauf kommen, daß wir einen klaren Schnitt machen müssen zwischen "Denk-Erfahrung" und "Denk-Beobachtung", weil Rudolf Steiner selbst aus schwerwiegenden Gründen so verfahren ist. Rudolf Steiner hat ganz offenkundig eine methodologisch und sachlich fundierte begriffliche Abgrenzung getroffen zwischen "Erfahrung" und "Beobachtung" des Denkens.

Eine methodische Unterscheidung zwischen "Wahrnehmung" beziehungsweise, "Erfahrung" oder "Erleben" auf der einen Seite und "Beobachtung" auf der anderen, mag uns als heutigen Zeitgenossen zunächst ein wenig befremdlich erscheinen, aber sie war dessenungeachtet zu Steiners Zeit in der Psychologie gebräuchlich und so wäre eine naheliegende Erklärung für die schwer zugängliche Aussage in der "Philosophie der Freiheit", daß Rudolf Steiner sich damit aus in der Sache liegenden Gründen an eine in der Psychologie seiner Zeit verbreitete Regelung gehalten hat. Er bewegte sich damit innerhalb eines etablierten Sprachgebrauchs, der gegenüber Phänomenen der Selbstbeobachtung im allgemeinen verbreitet war, und sich speziell hinsichtlich der Beobachtung des Denkens auf triftige Gründe stützen konnte. Diese sprachliche Regelung geht maßgeblich zurück auf zwei der bedeutendsten Vertreter der Psychologie, die Steiner beide wohlvertraut waren, nämlich Franz Brentano und Wilhelm Wundt. 23 Dieser Sprachgebrauch unterschied schon in allgemein psychologischer Hinsicht methodologisch ausdrücklich zwischen der "Wahrnehmung" von inneren Phänomenen und ihrer "Beobachtung". Gefühlsphänomene etwa waren danach aktuell wohl wahrnehmbar aber nicht beobachtbar. Die schlagendste Rechtfertigung aber, auf der diese Regelung basierte, betraf die Beobachtung des Denkens und hier machte sie sich Steiner auch zu eigen. Schließlich war auch Steiners Vorgehen, innere Phänomene aus der Erinnerung zu beobachten, ein diskutiertes und gebräuchliches Verfahren, auf das sich neben anderen insbesondere Franz Brentano und Johannes Volkelt beriefen. Und Karl Bühler rekurriert explizit, wie noch zu zeigen ist, speziell hinsichtlich der Beobachtung des Denkens auf die Beobachtung aus der Erinnerung. 24

Bezeichnenderweise gab es kurz nach der Jahrhundertwende eine klassisch gewordene Kontroverse zwischen Wilhelm Wundt und Karl Bühler über die Frage der methodisch korrekten Beobachtung des Denkens, die ich hier kurz schildern will, weil sie uns auch Steiners Argumentation erhellen kann. Man könnte kaum einen besseren Anlaß wählen, um sich dem methodischen Verständnis von Denk-Beobachtung zu nähern und die sachlichen Argumente gegen die Möglichkeit einer zum beobachteten Denkakt simultanen Denk-Beobachtung darzulegen, als eben diese psychologische Schlüsseldebatte, in der die bedeutendsten Größen der Psychologie in der Frage der Denk-Beobachtung aneinandergerieten: auf der einen Seite der seinerzeit schon fast zum lebenden Denkmal wissenschaftlicher Psychologie gewordene Wilhelm Wundt und auf der anderen Seite Karl Bühler und mit ihm das Würzburger Institut Oswald Külpes, gegen deren Methodenverständnis sich die Wundtschen Anwürfe richteten. Von dieser sogenannten "Würzburger Schule" sind um die Jahrhundertwende mit die ersten systematischen psychologischen Untersuchungen von Denkphänomenen vorgenommen worden und eines zeichnete zudem die von Karl Bühler durchgeführten Versuche unzweifelhaft aus: hier wurde tatsächlich ernsthaft (über philosophische Fragen und tiefgründige Aphorismen) gedacht und keine automatisierten Denkvorgänge der Beobachtung unterzogen. Und die beigezogenen Versuchspersonen waren nicht nur ausgezeichnete Denker sondern ebenso erfahrene psychologische Beobachter, nämlich wissenschaftliche Institutsmitarbeiter (als eine der Versuchspersonen fungierte Oswald Külpe selbst, der Leiter des Instituts, und neben ihm der Privatdozent E. Dürr) - also das genaue Gegenteil einer statistischen Zufallsauswahl. Sie waren sowohl in der Philosophie wie in der damaligen psychologischen Theorie und Praxis gleichermaßen erfahren und keinesfalls psychologische oder philosophische Laien, ein Umstand, auf den Bühler in seinem Untersuchungsbericht eigens hinweist, weil das nach seiner Ansicht eine beondere Bedeutung für die Dignität der einzelnen Denk-Erlebnisse und Beobachtungen hatte. Auf die experimentellen Denkerlebnisse ausschließlich dieser beiden Versuchspersonen (Külpe und Dürr) stützt sich Karl Bühler in seiner Untersuchung, was einem statistisch orientierten Psychologen wohl das schiere Entsetzen in die Augen treiben würde.

Im Anschluß an die Veröffentlichung der Würzburger Untersuchungsergebnisse entbrannte eine heftige Psychologenfehde zwischen Wilhelm Wundt und Karl Bühler, die sich in verschiedenen publizistischen Beiträgen niederschlug. Dieser Streit war eine reine Methodendiskussion, in der es ausschließlich darum ging, wie man denn das Denken vernünftigerweise beobachten könne. Trotz aller Unstimmigkeiten über die methodischen Details der Bühlerschen Untersuchung bestand doch die einhellige Meinung der beiden Kontrahenten darin, daß von einer Beobachtung des aktuellen Denkens unter gar keinen Umständen die Rede sein könne. Der Grund, den sie dafür angaben, war eben jener, den Steiner im dritten Kapitel der "Philosophie der Freiheit" nennt, aber dort nicht näher ausführt, so, als ob er sich von selbst verstehe.

Halten wir also zunächst fest: als ersten Grund für die Nichtbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens gibt Steiner die dann notwendige Persönlichkeitsspaltung an und genau dasselbe Argument richtet Wilhelm Wundt gegen die Bühlerschen Denkversuche, von denen er annahm es sei dort darum gegangen, das aktuelle Denken zu beobachten. So wirft Wundt in seiner Polemik gegen Bühler infolge dieser Vermutung die Frage auf: "... kann es psychische Vorgänge, z. B. logische Denkakte geben, zu deren Erzeugung die äußerste Spannung unserer Aufmerksamkeit erfordert wird, und die wir gleichzeitig unter Aufbietung einer eben solchen Spannung der Aufmerksamkeit beobachten? ... Eine Verdoppelung der Persönlichkeit gibt es bekanntlich gelegentlich im Traum und in der Geistesstörung, in Zuständen, bei denen gerade die Funktionen der Aufmerksamkeit völlig darniederliegen. Eine Verdoppelung der Aufmerksamkeit in jenem Sinne, in welchem der Sprachgebrauch nicht bloß eine intensive Steigerung, sondern eine doppelte Richtung derselben bezeichnet, eine solche Verdoppelung gibt es weder im Traum noch im wachen Bewußtsein, und in diesem umso weniger, je gespannter die Aufmerksamkeit den psychischen Vorgängen, die wir beobachten sollen, zugewandt ist." 25

Die Impraktikabilität einer Beobachtung des aktuellen Denkens galt zu Steiners Zeit so sehr als gesicherte Tatsache der Psychologie, daß Karl Bühler ausgesprochen empört auf Wundts Unterstellung reagiert, die Bühlerschen Versuchspersonen hätten eben solches tun sollen. 26 So erwidert er Wundt, dieser meine wohl allen Ernstes, "die Versuchsperson in unseren Versuchen hätte gleichzeitig eine Denkarbeit vollziehen und sich dabei beobachten sollen." Davon aber könne gar keine Rede sein, so Bühler. Vielmehr sei Wundts Auffassung hinsichtlich der Verdoppelung der Aufmerksamkeit nur zuzustimmen und es freue ihn, Bühler, aufrichtig, "daß es Wundt gerade von meinen Versuchen für besonders unmöglich hält, daß der Erlebende außer der Denkarbeit, die ihm zugemutet wird, nebenher noch etwas anderes, sei es Selbstbeobachtung oder sonst etwas, treibt." 27 Bühlers Versuchspersonen haben also aus dem Blickwinkel des attackierten Versuchsleiters während des Denkens nichts beobachtet sondern lediglich etwas erlebt. Entsprechend lautete Bühlers Fragestellung bei seinen Versuchsreihen auch nicht: "Was beobachten wir, wenn wir denken?", sondern: "Was erleben wir, wenn wir denken?".28 Das ist nebenbei gesagt eine Frage, die Anthroposophen brennend interessieren müßte, zumal wenn sie unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten gestellt wird und wenn überdies an ihrer Untersuchung jener Psychologe unmittelbar und richtungsweisend beteiligt ist, dem Steiner als einzigem Vertreter seines Fachs zutraute, mit ihm in einen ernsthaften wissenschaftlichen Dialog hinsichtlich seiner übersinnlichen Erfahrungen einzutreten, nämlich Oswald Külpe. 29

Bühlers Entrüstung anläßlich der Wundtschen Vorhaltungen erklärt sich maßgeblich aus einem schwerwiegenden Grunde: Wundt hatte ihm mit der Unterstellung, das aktuelle Denken beobachten zu wollen, so ziemlich den übelsten Vorwurf gemacht, der seinerzeit einem experimentellen Psychologen gegenüber möglich war: völlige Ahnungslosigkeit und Dilettantismus. Die gesamte Methodendiskussion der vergangenen dreißig oder vierzig Jahre wäre an einem solchen Psychologen spurlos vorübergegangen.

Die Betroffenheit Bühlers anläßlich der Wundtschen Unterstellung macht deutlich, daß es in seiner Zunft als kardinale methodische Verirrung galt, von einer Beobachtung des aktuellen Denkens zu sprechen, respektive solches gar zu unternehmen. Das sollte aber längst nicht besagen, daß damit das aktuelle Denken auch als Erfahrungsgegenstand grundsätzlich unzugänglich und etwa nur schlußfolgernd greifbar sei. So lesen wir bei Bühler weiter: "Ist es denn Wundt nie in den Sinn gekommen, sich zu überlegen, ob man nicht über seine Erlebnisse auch Aussagen machen könne, ohne sein Ich zu verdoppeln? Es gibt doch im Menschen auch etwas, was man Gedächtnis nennt, auch ein unmittelbares Gedächtnis. Hat er denn nie gehört, daß man erst etwas erleben und dann in rückschauender Betrachtung über das Erlebte Aussagen machen kann? ... Mag alles übrige noch so strittig und einer weiteren Klärung bedürftig sein, das eine, meine ich, kann für jeden, der einmal einen solchen Versuch mitgemacht hat, nicht zweifelhaft sein, nämlich daß die Beobachtung erst einsetzt, wenn das zu Beschreibende als Erlebnis bereits abgeschlossen ist."30 Die Beobachtung hat für Bühler etwas mit Beschreibung zu tun und diese Beschreibung sowie die zugehörige Beobachtung kann erst einsetzen, wenn das zu beschreibende Erlebnis des Denkens bereits abgeschlossen ist.

Ende Kapitel 5                   


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