Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zum Begriff des Denk-Erlebens bei Rudolf Steiner

(Stand 12.07.01)

Denk-Erleben als terminologisches Problem. Zur Kritik von Johanna Wyss-Isler.

Nach dem Studium der so engagiert zu meiner Arbeit  28 vorgetragenen Stellungnahme von Frau Wyss-Isler drängt sich mir die Ansicht auf, daß in wesentlichen Sachpunkten die Differenzen geringer sind, als man zunächst meint und daß einige der bestehenden Differenzen die Folgen eines Verständnisproblems sind - sie sind Folgen des schwer zu fassenden Steinerschen Denkbegriffs.

Im Prinzip scheint Frau Wyss-Isler doch auch der Auffassung zu sein, daß es sich bei der Rosenkreuzmedidation der "Geheimwissenschaft i.U." um eine Übung des Denk -Erlebens handelt. So schreibt sie: "In jeder Konzentration auf eine Bildvorstellung baut man sich in der Vorstellung ein Sinnbild auf, versucht dann, in das Sinnbild sich zu versenken und erlebt nun, wie man dieses Sinnbild nur dann in seinem Vorstellen halten kann, wenn man es andauern hervorbringt. Und dazu braucht man das Denken." Weiter unten heißt es: "Die Leistung Steiners besteht gerade darin, vorgelebt und für jeden Menschen dargestellt zu haben, daß der heutige Mensch zum Wahrnehmen einer geistigen Welt und zur Geistesforschung dadurch kommen könne, daß er sein Denken zum Erleben der Denktätigkeit steigert und dieses weiter steigert in den Meditationsübungen, die im Kernbereich diese Denktätigkeit haben."

Genau dies habe ich in meiner Arbeit darzustellen versucht. Diese Auffassung, die also ganz offensichtlich Frau Wyss-Isler mit mir teilt, läßt sich durch Steiners Ausführungen gut belegen - einiges dazu habe ich in meinem Aufsatz schon angeführt und mich u.a. auf die Passage des "Skizzenhaften Ausblickes" gestützt, die ich für grundsätzlich halte.

Durchaus unklar in den Darlegungen meiner Kritikerin ist mir ihr widersprüchliches Fazit betreffend den methodischen Status der Rosenkreuzmeditation. Auf der einen Seite betont sie den Erlebnis- und Denkcharakter dieser Übung - auf der anderen Seite schreibt sie: "In dieser Beschreibung ist aber nicht von der Versenkung in einen Gedanken die Rede. ... Nicht ein Gedanke wird mit Hilfe von Gedanken aufgebaut, sondern eine sinnbildliche Vorstellung. ... Diese Übung ist gerade nicht ein Beispiel für eine <Gedankenmeditation>...".

Was ist sie dann? - Ist denn die sinnbildliche Vorstellung nichts Gedankliches? - Aber gewiß ist sie das. Sie ist etwas Gedankliches, durch Denken Gezeugtes, nur in ein anschauliches Gewand gekleidet. Und wird dann nicht demgemäß Gedankliches erlebt und bei seinem Hevorbringen die Denktätigkeit? Gerade ihr Verständnis des Denkens und des Denk-Erlebens dürfte sich doch einer solchen Auffassung am allerwenigsten verschließen.

Da haben wir ein Verständnisproblem in der Folge spezifischer Schwierigkeiten mit dem Steinerschen Denkbegriff. Und dieses Verständnisproblem führt bei Frau Wyss-Isler dazu, den zitierten Passus des "Skizzenhaften Ausblicks" nicht als das erkennen zu können, was er ist, als Beschreibung einer Symbolmeditation. Weil sie den gedanklichen Charakter der Sinnbilder nicht sieht, kann sie auch die dortige Beschreibung nicht als die einer Symbolmeditation akzeptieren, denn im "Skizzenhaften Ausblick" ist von Gedanken die Rede und Sinnbilder gehören für sie nicht dazu. Entsprechend kann sie auch den gedanklichen Charakter der Rosenkreuzmeditation in der "Geheimwissenschaft i. U." nicht anerkennen. Mit anderen Worten: die hier vorliegenden Kalamitäten mit dem Steinerschen Denkbegriff führen dazu, die sachliche Parallelität von "Skizzenhaftem Ausblick" und Methodenkapitel der "Geheimwissenschaft i. U." zu übersehen und damit einen entscheidenden Aspekt der Systematik des Steinerschen Werkes. Letzten Endes geht hierdurch auch der Blick verloren für ein fundamentales methodisches Prinzip der Anthroposophie.

Steiners Darstellungen lassen in den im Jb 93 vorgebrachten Zitaten ebenso wie in den folgenden kein Bedenken daran aufkommen, daß es sich bei der Rosenkreuzmeditation der "Geheimwissenschaft i.U." um eine Übung des Erlebens gedanklicher Inhalte handelt, d. h., das didaktische Ziele dieser Übung liegt in der Förderung und Erhöhung der Denkkräfte. Seine funktionale Kennzeichnung der Gedankenübungen machen dieses Verständnis der Meditationsübungen als spezifische Mittel zur Verstärkung und Differenzierung dieser Kräfte deutlich und stellen damit den systematischen Zusammenhang zur PdF her.

Steiner weist immer wieder darauf hin, die Seelenfähigkeiten, insbesondere die Denkkraft, mittels solcher Übungen zu ertüchtigen, so in Kristiania 1921: Die Anthroposophie versucht "Vorstellungen, Begriffe, kurz Gedankliches, willkürlich in den Mittelpunkt des menschlichen Bewußtseins zu rücken.", heißt es dort, "Sie versucht auf diese Weise eine erste höhere Erkenntnisfähigkeit auszubilden durch gewisse Übungen, die gerade vorgenommen werden mit der Denkkraft.... Es handelt sich darum, daß die Denkkraft des Menschen zu einer größeren Stärke, zu einer größeren Intensität entwickelt wird, als sie im gewöhnlichen Leben und in der gebräuchlichen Wissenschaft hat.... Er [Der Geistesforscher] stellt eine leicht überschaubare Vorstellung oder einen leicht überschaubaren Vorstellungskomplex mit voller Bewußtheit, mit vollem freien Willen in den Mittelpunkt des Bewußtseins und er verweilt mit dem Bewußtsein ... auf einer solchen überschaubaren Vorstellung."  29 Im weiteren Verlauf ist in diesem Zusammenhang mehrfach von "Gedankenübungen" die Rede.

Am selben Ort macht Steiner einen Tag später Ausführungen mit der besonderen Betonung dieser Übungen als "Denkübungen": "Das alte Denken, das man für das gewöhnliche Leben und für die gewöhnliche Wissenschaft braucht, das bleibt voll bestehen. Aber es tritt zu diesem Denken ein ganz neues Denken hinzu, wenn man in entsprechender Weise - Sie finden das in meinem Buche <Wie erlangt man...> oder in meiner <Geheimwissenschaft> beschrieben - solche Übungen, wie ich sie jetzt prinzipiell als Denkübungen charakterisiert habe, immer wieder und wieder systematisch vollführt..." 30

Ob der Inhalt dieser Denkübungen in Sinnbildern oder anderen gedanklichen Entitäten besteht ist im Prinzip unerheblich - Unterschiede gibt es aber hinsichtlich der Wirksamkeit. Die Rosenkreuzmeditation aus der "Geheimwissenschaft i.U." stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Sie ist sogar ein besonders gutes Beispiel für ein außerordentlich hoch gesättigtes und verdichtetes gedankliches Gebilde, wenn man sich die Phasen ihres Aufbaus vergegenwärtigt. Hinter ihrer Bildhaftigkeit verbirgt sich ein beträchtliches Ausmaß an Abstraktion.

Frau Wyss-Isler attestiert mir "einen Angriff gegen den Wortlaut von Äußerungen Steiners", eine Aufforderung, Steiner nicht immer wörtlich oder ernst zu nehmen. Anlaß für diese Kritik ist die von mir erwähnte Schwierigkeit, den Terminus des "Denk-Erlebens" auf eine Meditationsvorstellung wie etwa das Rosenkreuz anzuwenden, weil im Kernbereich der Meditation ein eigentlicher Denkprozeß nicht durchgeführt wird.

Warum eine Gedankenübung dadurch "mystisch verschwommen" wird, nur weil es Konflikte mit der Terminologie gibt, ist mir nicht deutlich. Und ist es denn so abwegig, wenn man an dieser Stelle zunächst stutzig wird? Es gibt doch einen wesentlichen Unterschied in der Art des Denkens, die in den angeführten Kapiteln der PdF geübt wird und in den eigentlichen Gedankenübungen: Das von Frau Wyss-Isler angeführte dritte Kapitel der PdF macht auf das Denken aufmerksam, läßt den Leser den "Ausnahmezustand" bei sich entdecken und erleben; er wird gewahr, wie er durch sein Denken aktiven Anteil hat am Wirklichkeitsaufbau. Das ganze steht in einem philosophischen Begründungszusammenhang, dem selbstredend nur zu folgen ist, wenn man die praktischen Schritte auch vollzieht. Aber käme man von der PdF denn ganz ohne weiteres auf ein methodisches Verfahren, wie es der "Skizzenhafte Ausblick" und ausführlicher die "Geheimwissenschaft im Umriß" schildern, wenn einem diese nicht schon bekannt wären?

In eine gewisse Irritation gerät man nicht zuletzt infolge des Umstandes, daß Steiner die Meditation auch mit Worten kennzeichnet, die ein Denken durchaus nicht unmittelbar nahelegen. So heißt es an einer Stelle: "Es kommt auf das Ruhen auf einem solchen Vorstellungskomplex an. Bei diesem Ruhen verstärken sich die geistig-seelischen Kräfte, wie sich die Muskelkräfte beim Verrichten einer Arbeit verstärken. " 31

Hier weiter nachzufragen ist nicht nur legitim sondern sachlich notwendig. Auf die Problematik des Steinerschen Denkbegriffes hat übrigens schon Bernhard Kallert hingewiesen, dem man gewiß keine Gegnerschaft zur Anthroposophie unterstellen wird. 32 Und der konventionellen Wissenschaft bereitet es viel Kopfzerbrechen, dem Denken "auf die Spur" 33 zu kommen. "Es gibt wohl kaum eine andere einzelwissenschaftliche Frage, auf die man so viele verschiedene Antworten erhalten kann als auf die: was ist Denken? Denken ist Verknüpfung, Denken ist Zerlegung. Denken ist Urteilen. Denken heißt Apperzipieren. Das Wesen des Denkens liegt in der Abstraktion. Denken ist Beziehen. Denken ist Aktivität, ist ein Willensvorgang..." 34 skizziert Karl Bühler 1907 diese Frage und seither sind unzählige Bände und Aufsätze zu diesem Forschungsthema veröffentlicht. Mit dem Denken verbinden wir doch in erster Linie Aspekte wie Problemlösung, Logik, Erkenntnis, Synthese und Analyse, Begriffsverknüpfung und was dergleichen Dinge mehr sind und natürlich auch innere Aktivität und Produktivität. Das konzentrierte Ruhen auf einer Vorstellung rückt einzig diesen inneren Aktivitäts- und Produktivitätsaspekt in den Vordergrund. Im Grenzfalle ließe sich diese Denkaktivität auch dadurch realisieren, indem man sich nichts vorstellt, sein Bewußtsein willentlich vollkommen leer hält. Das alles soll und muß nicht Steiners Begriff des Denkens diskreditieren, es möge nur verdeutlichen, warum sich hier gewisse Verständnisschwierigkeiten einstellen können.

Daß der Steinersche Begriff des Denkens allemal Fragen offen läßt oder zumindest einer genaueren Sondierung und Darlegung bedürftig ist, spricht nicht zwangsläufig gegen die Anthroposophie und ihre Methodologie. Und nicht jeder, der solche Fragen stellt, tut dies, um die Anthroposophie zu untergraben oder weil er nur Texte liest, aber die praktischen Schritte nicht vollzieht. Man kann sehr wohl den Steinerschen Übungsweg gehen und gerade deswegen solche Fragen stellen, weil bei einer introspektiven Wissenschaft die Dinge gar nicht klar genug sein können.

Was nun die Methodenkritik von Frau Wyss-Isler angeht, so ist ihre Stellungnahme der beste Beleg für die Dringlichkeit einer gründlichen philologischen Aufarbeitung des Steinerschen Werkes: Was uns von ihm heute an methodischen Angaben zugänglich ist, das ist in Sprache gefaßt und die ist nicht selten vieldeutig, der Auslegung bedürftig auch dann, wenn es sich um Werkstattberichte oder Verfahrensbeschreibungen handelt.

Ich habe mich in meinem Aufsatz auf eine Passage des "Skizzenhaften Ausblicks" gestützt, aber wie gesagt, nicht einzig auf diese. Weil sich daran offenbar so leicht ein Mißverständnis einstellen kann, sei sie hier noch einmal angeführt. Steiner schreibt dort: "Wenn der Mensch denkt, so ist sein Bewußtsein auf die Gedanken gerichtet. Er will durch die Gedanken etwas vorstellen; er will im gewöhnlichen Sinne richtig denken. Man kann aber auch auf anderes seine Aufmerksamkeit richten. Man kann die Tätigkeit des Denkens als solche in das Geistesauge fassen. Man kann zum Beispiel einen Gedanken in den Mittelpunkt des Bewußtseins rücken, der sich auf nichts Äußeres bezieht, der wie ein Sinnbild gedacht ist, bei dem man ganz unberücksichtigt läßt, daß er etwas Äußeres abbildet. Man kann nun in dem Festhalten eines solchen Gedankens verharren. Man kann sich ganz einleben in das innere Tun der Seele, während man so verharrt. Es kommt hierbei nicht darauf an, in Gedanken zu leben, sondern darauf, die Denktätigkeit zu erleben." 35

Frau Wyss-Isler meint nun, daß Steiner hier nicht von einer sinnbildlichen oder Symbolvorstellung in der direkten Wortbedeutung spricht, also etwa vom Sinnbild eines Kentauren oder des Rosenkreuzes, sondern daß durch das Einleben in die Denktätigkeit der Gedankeninhalt zum Sinnbild der gedanklichen Aktivität wird, wörtlich: "Je mehr ich das dort Geforderte tue und nicht den Gedanken erlebe, sondern die Denktätigkeit, desto mehr wird der Inhalt des Gedankens unwesentlich, das dem Wesentlichen Äußerliche... Dieser Inhalt wird also wie ein Sinnbild des Gedankens. [Sollte sicherlich heißen: der gedankenerzeugenden Tätigkeit] Der Gedankeninhalt löst sich ab von dem, in dem man jetzt ist, dem Denken (dem Hervorbringen des Gedankens), und wird zu etwas, was nur wie ein Sinnbild ist dessen, woraus er hervorgegangen ist. ... Der Gedanke ist dann <wie ein Sinnbild gedacht>, ..., wobei in der Formulierung das Wörtchen <wie> entscheidend ist. Der Gedanke wird wie ein Sinnbild gedacht, ist aber nicht ein Sinnbild, nicht eine sinnbildliche Vorstellung, wie die in der <Geheimwissenschaft> beschriebene."

Frau Wyss-Islers Erwartung, der Sinn der Steinerschen Textstelle werde sich ihr aus der Anwendung ergeben, kann uns hier nicht voranbringen, sondern führt in die Irre, weil damit eine Verfahrensanleitung mit der Beschreibung innerer Erlebnisse verwechselt wird. Es geht doch zunächst darum, den Sinn der Verfahrensanleitung zu verstehen, bevor man sie anwendet. Speziell ist abzuklären, ob Steiner im "Skizzenhaften Ausblick" von Sinnbildern spricht oder nicht.

Es wäre doch zu fragen, ob Steiner, wenn er diese von ihr vertretene Bedeutung meinte, sie nicht näher erläutert hätte, zumal in einem gedanklichen Kontext, der sich mit philosophischen Problemen auseinandersetzt und demgemäß um begriffliche Klarheit bemüht ist, denn naheliegend ist sie keineswegs sondern gar sehr erläuterungsbedürftig. Aus dem Kontext des "Skizzenhaften Ausblicks" ergibt sich die Lesart von Frau Wyss-Isler jedenfalls nicht und sie bringt außer ihrem persönlichen Anwendungserlebnis auch keinen weiteren Beleg.

Wenn nun Steiner selbst diesem "Skizzenhaften Ausblick" eine solche Schlüsselstellung für das Verständnis des systematischen Zusammenhanges seiner Erkenntnistheorie mit der späteren Anthroposophie beimißt, wie in der von mir zitierten Textpassage, wenn dieser "Ausblick" nach Steiners Worten zeigt, "daß ein völlig organisches Fortschreiten gedacht werden muß von den erkenntnistheoretischen Grundanschauungen meiner Schrift <Wahrheit und Wissenschaft> und meiner <Philosophie der Freiheit> zu dem Inhalte der 'Geisteswissenschaft'..., wie ich sie später ausgebaut habe..." 36 , was liegt dann näher, als an eine Identität des Gemeinten zu denken, wenn hier wie dort im selben Sachzusammenhang von Sinnbildern die Rede ist, z. T. bis in die Wortwahl hinein gleichlautend. Und der Sachzusammenhang ist tatsächlich derselbe - in der "Geheimwissenschaft" allerdings breiter entfaltet als im "Skizzenhaften Ausblick". Der "Skizzenhafte Ausblick" stellt an der strittigen Textstelle und weiter unten das Prinzipielle der Methode dar, das Methodenkapitel der "Geheimwissenschaft" erläutert die Methode im Detail. Diese Parallelität wird aber von Frau Wyss-Isler aus den oben schon genannten Gründen nicht gesehen - ihre restriktive Vorstellung vom Charakter des Gedanklichen verhindert dies.

Es besteht also gar kein Anlaß zum Zweifel, daß im "Skizzenhaften Ausblick" von einer sinnbildlichen Vorstellung die Rede ist, wie sie die "Geheimwissenschaft" in der Form des Rosenkreuzes beschreibt. Steiner meint wirklich Sinnbilder, und es gibt gute Gründe für die Wahl von Sinnbildern - diese werden in der "Geheimwissenschaft i. U." deutlich ausgesprochen.

Es heißt in der "Geheimwissenschaft i. U.": "Die hier zunächst in Betracht kommende Schulung gibt unter den ersten Mitteln solche, welche sich noch als Verrichtungen des gewöhnlichen Tagesbewußtseins kennzeichnen lassen. ... Es handelt sich darum, daß sich die Seele ganz bestimmten Vorstellungen hingibt. Diese Vorstellungen sind solche, welche durch ihr Wesen eine weckende Kraft auf gewisse verborgene Fähigkeiten der menschlichen Seele ausüben. Sie unterscheiden sich von solchen Vorstellungen des wachen Tageslebens, welche die Kraft haben, ein äußeres Ding abzubilden. Je wahrer sie dies tun, desto wahrer sind sie. Und es gehört zu ihrem Wesen, in diesem Sinne wahr zu sein. Eine solche Aufgabe haben die Vorstellungen nicht, welchen sich die Seele zum Ziele der Geistesschulung hingeben soll. Sie sind so gestaltet, daß sie nicht ein Äußeres abbilden, sondern in sich selbst die Eigenheit haben, auf die Seele weckend zu wirken. Die besten Vorstellungen hierzu sind sinnbildliche oder symbolische. Doch können auch andere Vorstellungen verwendet werden. Denn es kommt eben gar nicht darauf an, was die Vorstellungen enthalten, sondern lediglich darauf, daß die Seele alle ihre Kräfte darauf richtet, nichts anderes im Bewußtsein zu haben als die betreffende Vorstellung. ... Sinnbildliche Vorstellungen sind deshalb besser als solche, welche äußere Gegenstände oder Vorgänge abbilden, weil die letzteren den Anhaltspunkt in der Außenwelt haben und dadurch die Seele weniger sich auf sich allein zu stützen hat als bei sinnbildlichen, die aus der eigenen Seelenenergie heraus gebildet werden. Nicht was vorgestellt wird, ist wesentlich, sondern darauf kommt es an, daß das Vorgestellte durch die Art des Vorstellens das Seelische von jeder Anlehnung an ein Physisches loslöst." 37

Sinnbildliche Vorstellungen erleichtern der Seele die Loslösung vom Physischen, weil sie sich auf nichts Äußeres beziehen, wie es im "Skizzenhaften Ausblick" heißt, weil sie "aus der eigenen Seelenenergie heraus gebildet werden". Durch die Verwendung von Vorstellungen, die sich "auf nichts Äußeres beziehen", muß sich die Seele mehr "auf sich allein stützen", muß sie mehr innere Energie aufwenden und gewinnt in höherem Maße die erforderlichen Kräfte. Deswegen werden sie von Steiner so sehr bevorzugt. Deswegen auch finden wir sie in Steiners grundlegendem Vortrag auf dem Philosophiekongreß von Bologna so ausdrücklich und ausschließlich bei der Darstellung der Methode erläutert. 38

Nehmen wir also Steiner beim Wort: was der "Skizzenhafte Ausblick" meint, ist eine Symbolmeditation, da sie aber nicht die einzig mögliche Form der Gedankenübung ist, werden eben auch naturwissenschaftliche Vorstellungen angeführt und die "Geheimwissenschaft i. U." spricht ja auch von anderen möglichen Vorstellungsmeditationen ebenso wie die von mir im Jb 93 zitierten Textstellen. Sachlogisch stehen all diese Übungen an derselben Stelle der methodischen Systematik. Es geht bei der Gedanken- und Vorstellungsmeditation um das Erleben der Denktätigkeit, um die Verstärkung und Differenzierung der Denkkraft als Voraussetzung für das weitere Eindringen in die geistige Welt. So verstanden schließt sich der methodische Teil der Anthroposophie, wie er etwa in der "Geheimwissenschaft i. U." dargestellt ist, ganz nahtlos an den erkenntnistheoretischen Teil des Steinerschen Werkes an. Steiners Bewertung des "Skizzenhaften Ausblicks" läßt daran keinen Zweifel.

Zu diesem Thema wäre manches anzuführen, was den Gedankengang vielleicht noch deutlicher gemacht hätte - dies kann wegen der Begrenzung auf wenige Seiten hier nicht geschehen. Klar geworden scheint mir aber zu sein, daß die Rezeption des Steinerschen Werkes den Leser (und Anwender) vor erhebliche Verständnishürden stellt, bei Fragen der Systematik, bei der verwendeten Terminologie und selbst bei den basalen Schritten der Methode.

Es ist daher notwendig, daß wir uns aus von den rein persönlichen Plausibilitäten und Überzeugungen langsam lösen und zu einer wissenschaftlichen Erkenntnispraxis mit höherem Grad an Allgemeinverbindlichkeit kommen. Und diese Erkenntnispraxis schließt die philologische Erarbeitung des Steinerschen Werkes nicht etwa aus, sondern enthält sie als integralen Bestandteil, damit wir wissen, was wir tun und wo wir stehen.

Ende                            


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