Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zum Begriff des Gegebenen bei Rudolf Steiner

(Stand 12.07.01)

Kapitel 6

Die reine Erfahrung in den Grundlinien ...

Der Begriff der "reinen Erfahrung", den wir bislang bei Johannes Volkelt kennengelernt haben, spielt auch in Steiners Erkenntnistheorie eine grundlegende Rolle. Steiner verwendet diesen Ausdruck ausschließlich in den "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung" , aber dort im selben Sinne wie die Termini "unmittelbar Gegebenes" oder "Gegebenes", die wir vor allem in "Wahrheit und Wissenschaft" antreffen. All diese Ausdrücke bezeichnen die "erste Form des Auftretens der Außen- und Innenwelt". 61 Während bei Volkelt das positivistische Erkenntnisprinzip der "reinen Erfahrung" als eigenständiges, vorlogisches und denkunabhängiges Erkenntnis- und Gewißheitsprinzip das fundamentale Prinzip der Philosophie überhaupt ist, hat es bei Steiner zwar auch eine sehr basale Bedeutung, aber doch nicht die eines alleinigen erkenntnistheoretischen Fundamentalprinzips wie bei jenem. Bei Volkelt liegt der Primat auf dem zeitlich vorangehenden, während Steiner dieses Verhältnis umkehrt. Die "reine Erfahrung" hat bei Steiner, so könnte man sagen, zwar zeitliche, aber keine erkenntnistheoretische Priorität. In der "Philosophie der Freiheit" finden wir diesen Standpunkt gegenüber bewußtseinsphilosophischen Einwänden sehr klar ausgesprochen und können ihn wegen seiner prinzipiellen Geltung ebenso auf den Erfahrungsbegriff beziehen: "Ehe anderes begriffen werden kann, muß es das Denken werden. Wer es leugnet, der übersieht, daß er als Mensch nicht ein Anfangsglied der Schöpfung, sondern deren Endglied ist. Man kann deswegen behufs Erklärung der Welt durch Begriffe nicht von den zeitlich ersten Elementen des Daseins ausgehen, sondern von dem, was uns als das Nächste, als das Intimste gegeben ist."62 Steiner stützt sich explizit auf Volkelts Vorarbeiten, aber er übernimmt diese nicht ohne sie zu verändern und den eigenen Vorstellungen zu adaptieren - Volkelts erkenntnistheoretische Ansicht ist, wie er sagt, von der seinen "grundverschieden" ebenso wie dessen epistemologische Absichten nicht die seinen seien.63

Als weitere Steinersche Besonderheit verbindet sich in den "Grundlinien ..." der Grundsatz der Denkfreiheit der "reinen Erfahrung", den wir schon bei Volkelt kennenlernten, mit einem zweiten mindestens gleichrangigen, eher aber übergeordneten Prinzip, das wir bei diesem nicht finden. Es ist das Prinzip der "Selbst-Entäußerung", das sich vielleicht mit »Selbst-Losigkeit« oder »Enthaltung von subjektiver Einflußnahme auf den Erfahrungsinhalt« - kurz als "Objektivitätsprinzip" - umschreiben ließe. In der Betonung der "Selbstentäußerung" - des Nicht-Ich - stellt sich Steiner in einen besonders schroffen Gegensatz zu Volkelt, der die ausschließlich subjektive Seite der "reinen Erfahrung" betont. Für Volkelt ist das unmittelbare Erleben der subjektiven Bewußtseinsvorkommnisse (Vorstellungen), zu denen er das gesamte psychische Geschehen rechnet, das Fundamentalprinzip der Philosophie schlechthin.64 Das heißt seine Philosophie gründet in einem extremen Subjektivismus. Bei Steiner ist es geradewegs umgekehrt. Er wirft das Subjekt genau dort hinaus, wo Volkelt es hereinholt und gründet, wie wir noch sehen werden seine Philosophie auf einem extremen Objektivismus.

Gerade am Volkeltschen Subjektivismus entzündet sich die schärfste Kritik Steiners: "Was trägt ein Baum, ein Tisch an sich, was mich dazu veranlassen könnte, ihn als bloßes Vorstellungsgebilde anzusehen?" fragt Steiner an Volkelt gerichtet. "Zum mindesten darf das also nicht wie eine selbstverständliche Wahrheit hingestellt werden. Indem Volkelt das letztere tut, verwickelt er sich in einen Widerspruch mit seinen eigenen Grundprinzipien. Nach unserer Überzeugung mußte er der von ihm erkannten Wahrheit, daß die Erfahrung nichts enthalte als ein zusammenhangloses Chaos von Bildern ohne jegliche gedankliche Bestimmung, untreu werden, um die subjektive Natur derselben Erfahrung behaupten zu können. Er hätte sonst einsehen müssen, daß das Subjekt des Erkennens, der Betrachter, ebenso beziehungslos innerhalb der Erfahrungswelt dasteht wie ein beliebiger anderer Gegenstand derselben. Legt man aber der wahrgenommenen Welt das Prädikat subjektiv bei, so ist das ebenso eine gedankliche Bestimmung, wie wenn man den fallenden Stein für die Ursache des Eindruckes im Boden ansieht. Volkelt selbst will doch aber keinerlei Zusammenhang der Erfahrungsdinge gelten lassen. Da liegt der Widerspruch seiner Anschauung, da wurde er seinem Prinzipe, das er von der reinen Erfahrung ausspricht, untreu. Er schließt sich dadurch in seine Individualität ein und ist nicht mehr imstande, aus derselben herauszukommen. Ja, er gibt das rücksichtslos zu. Es bleibt für ihn alles zweifelhaft, was über die abgerissenen Bilder der Wahrnehmungen hinaus liegt. Zwar bemüht sich, nach seiner Ansicht, unser Denken, von dieser Vorstellungswelt aus auf eine objektive Wirklichkeit zu schließen; allein alles Hinausgehen über dieselbe kann uns nicht zu wirklich gewissen Wahrheiten führen. Alles Wissen, das wir durch das Denken gewinnen, ist nach Volkelt vor dem Zweifel nicht geschützt. Es kommt in keiner Weise an Gewißheit der unmittelbaren Erfahrung gleich. Diese allein liefert ein nicht zu bezweifelndes Wissen."65

In dieser Kritik muß man Steiner zum großen Teil zustimmen, denn in der Tat macht Volkelt im Subjektivitätsprinzip eine wesentliche Voraussetzung, ohne das Recht dazu gründlich genug zu hinterfragen. Er nimmt diese Kennzeichnung bereits in den einleitenden Sätzen seiner Kant-Schrift vor, auf einer systematischen Stufe seiner Erkenntnistheorie also, die weit unterhalb einer grundlegenden Erörterung des Rationalitätsprinzips liegt. In seinem Werk von 1886, "Erfahrung und Denken" ist das im Prinzip nicht anders. Auf der Ebene der "reinen Erfahrung" ergibt sich aber nicht der geringste Anhalt für das Recht auf eine solche Voraussetzung, da dort alle gegebenen Erfahrungsinhalte denselben Berechtigungsstatus einnehmen müssen bzw. noch ganz neutral zu beurteilen sind. Steiners Einschätzung stimmt: Volkelt verwickelt sich hier in einen Widerspruch mit seinem eigenen Grundprinzip.

Auf ein ganz anderes Problem richtet sich Steiners Vorwurf der beschränkten Erkenntnisgewißheit, die wir unserem Denken nach Volkelt zuschreiben müssen. Auf die Abhängigkeit des Volkeltschen Rationalitätsprinzips vom Irrationalen habe ich schon hingewiesen, so daß hier Steiners kritischer Kommentar noch zu ergänzen wäre. Man kann sich mit Fug und Recht auf den Standpunkt stellen, daß die von Volkelt betonte unmittelbare Selbstgewißheit des Bewußtseins gar keine unmittelbare ist, sondern nur eine mittelbare - eine durch das Denken vermittelte. Sie ist das Resultat von Urteilen betreffend den Gewißheitsgrad von Bewußtseinsvorkommnissen, was ja auch dem faktischen Vorgehen Volkelts entspricht. Die angeführte Behauptung von der unmittelbaren Selbstgewißheit steht zwar am Beginn seiner Ausführungen, aber sie ist bei Lichte besehen die Bilanz von Vergleichen, also von Denkoperationen. Indem Volkelt die verschiedensten Gewißheitstypen miteinander vergleicht, gelangt er zu dem Schluß, dem Vorstellungsbesitz gebühre in der Rangfolge der Gewißheiten die oberste Stelle. Das Denken kommt zu dem Fazit, das Haben von Vorstellungen sei der einzige tatsächlich unbezweifelbare Sachverhalt. Wir können daran die Frage richten: "Wie sicher wissen wir das?" und wir enden in einem skeptizistischen Dilemma, das sich aus einem unbegrenzten Vertrauen in die Kraft des Denkens speist, denn jedes Urteil über die Bezweifelbarkeit von Denkresultaten ist ja Ergebnis des Denkens. Und so könnten wir auch an Volkelts Einschränkung der Denkgewißheit zunächst das Etikett haften, dies sei ein bezweifelbares Ergebnis denkender Betätigung.

Aber gleichwohl würde ich Volkelts Begrenzung der Denkgewißheit behutsam beurteilen. Hier wäre ich etwas zurückhaltender, denn im Hinblick auf die Übertragbarkeit der vom Denken gefundenen Begriffe auf das übrige "Gegebene" scheinen mir Volkelts einschränkende Überlegungen sehr plausibel. Diese Einschränkung hat auch gar nichts mit der Volkeltschen Bevorzugung der unmittelbaren Vorstellungsgewißheit zu tun. Richtig ist, daß Volkelt die Vorstellungsgewißheit in ihrem systematischen Rang höher bewertet als die aus der Denknotwendigkeit resultierende Gewißheit, indem er sie zum obersten Prinzip der Erkenntnistheorie macht und darin liegt tatsächlich eine Schwierigkeit. Aber richtig ist auch Volkelts Beobachtung, daß wir die Kausalitäts- und Kontinuitätslücken in und zwischen den Gegebenheiten der "reinen Erfahrung" in der Regel nicht durch Erfahrung füllen sondern durch Theorien und Hypothesen und daß deren jeweilige Gültigkeit einen fraglichen Status hat. Volkelt ist darin zuzustimmen, daß das von ihm beschriebene Prinzip der Denknotwendigkeit keine absolute Gewähr dafür bietet, daß das solchermaßen notwendig Gedachte auch immer dem jeweiligen Gegenstand adäquat ist. Es gibt keine völlige Gewißheit darüber, daß der Mond, den wir heute sehen, derselbe Mond ist, den wir gestern sahen, weil wir nicht wissen, was in der Zwischenzeit dort vorgegangen ist. Vielleicht fehlt uns nur die Phantasie, geeignete Umstände vorzustellen, bei denen wir mit unserem Begriff falsch liegen. Es kann ein gewisses intellektuelles Vergnügen bereiten, aber es ist nicht unbedingt sinnvoll, die Identität dieser rhythmisch aufeinanderfolgenden Wahrnehmungsgegebenheiten jedesmal aufs neue anzuzweifeln - aber ein solcher Zweifel ist im Prinzip berechtigt und von daher verbietet sich die generelle Geltung eines Induktionsprinzips in empirischen Wissenschaften. Wir können über einen ausgefeilten Begriff der kausalen Beziehung von A und B verfügen. Ob diese Beziehung mit unbedingter Notwendigkeit auch morgen noch gilt, könnten wir erst mit letzter Gewißheit sagen, wenn es uns gelungen ist sicherzustellen, daß wir tatsächlich alle wesentlichen Randbedingungen bei der Aufstellung unseres Gesetzes berücksichtigt haben. Dazu aber müßte uns die Totalität der Wirklichkeit bei der Aufstellung des Gesetzes schon bekannt sein. Sachlich muß man Volkelts Folgerung gar nicht mit der spezifischen Systematik seines Ansatzes in Verbindung bringen, denn dasselbe Problem stellt sich auch bei Steiners Erkenntnistheorie. Es ist eine Sache, über eine sichere Basis der Erkenntnistheorie zu verfügen und es ist eine andere Sache, die Anwendung der gedanklichen Formen auf das empirisch "Gegebene" im Einzelfall zu legitimieren. Eine sichere epistemische Basis schützt uns keineswegs vor Fehlschlägen in der Anwendung unserer Begriffe.

Summa summarum gilt es eines besonders zu betonen: bei aller Namensgleichheit und manchen Übereinstimmungen im Detail ist Steiners Begriff der "reinen Erfahrung" durch seine grundlegend andere erkenntnistheoretische Orientierung, mit dem Volkeltschen kaum vergleichbar. Steiners und Volkelts Entwurf kreuzen sich gewissermaßen im Aspekt der "Denkfreiheit" der "reinen Erfahrung" und genau an diesem Kreuzungs- oder Berührungspunkt tauchen bei Steiner interessanterweise Probleme auf, die sich vielleicht auf die Assimilation Volkeltscher Gedanken zurückführen lassen.

Rudolf Steiner beginnt seine erkenntnistheoretische Untersuchung in den "Grundlinien ..." mit einer Analyse des Erfahrungsbegriffes. "Was ist Erfahrung?" lesen wir dort, "Jedermann ist sich dessen bewußt, daß sein Denken im Konflikte mit der Wirklichkeit angefacht wird. Die Gegenstände im Raume und in der Zeit treten an uns heran; wir nehmen eine vielfach gegliederte, höchst mannigfaltige Außenwelt wahr und durchleben eine mehr oder minder reichlich entwickelte Innenwelt. Die erste Gestalt, in der uns das alles gegenübertritt, steht fertig vor uns. Wir haben an ihrem Zustandekommen keinen Anteil. Wie aus einem uns unbekannten Jenseits entspringend, bietet sich zunächst die Wirklichkeit unserer sinnlichen und geistigen Auffassung dar. Zunächst können wir nur unseren Blick über die uns gegenübertretende Mannigfaltigkeit schweifen lassen. Diese unsere erste Tätigkeit ist die sinnliche Auffassung der Wirklichkeit. Was sich dieser darbietet, müssen wir festhalten. Denn nur das können wir reine Erfahrung nennen."66 Steiner legt die Betonung auf die Tatsache, daß es einen Teilbereich des Wirklichen gibt, der ohne unser Zutun fertig vor uns steht, an dessen Zustandekommen wir keinen Anteil haben. Dieser ersten Gestalt der Wirklichkeit, die uns durch die Sinne gegeben ist, stehen wir ganz und gar rezeptiv gegenüber. Gleich zu Beginn der Untersuchung erhält die Funktion oder die Leistung des menschlichen Selbst bei dieser Gegenüberstellung einen derart hohen Stellenwert in der erkenntnistheoretischen Systematik, daß Steiner sie als definitorisches Kriterium für den Begriff der "reinen Erfahrung" heranzieht: "Reine Erfahrung ist die Form der Wirklichkeit, in der diese uns erscheint, wenn wir ihr mit vollständiger Entäußerung unseres Selbstes entgegentreten."67 stellt er fest. "Entäußerung" heißt so viel wie Preisgabe, Hergabe, Entsagung, oder Verzicht, und "Entäußerung des Selbstes" in diesem Zusammenhang bedeutet danach eine Selbst-lose Rezeption von Wahrnehmungseindrücken, eine Rezeption, die von den Anteilen des menschlichen Selbst, von der individuellen menschlichen Persönlichkeit in keiner Weise berührt oder beeinflußt ist. Was Steiner hier meint, ließe sich vielleicht vorläufig folgenderweise umschreiben: Der Mensch ist gänzlich den Eindrücken seiner Sinne hingegeben, ohne ihnen etwas Subjektives entgegenzustellen oder beizumischen. "Nicht ich, sondern die Sache!" könnte das Motto dieser Erfahrung lauten. Nichts aus dem Repertoire der psychologischen und wissenschaftlichen Erwartungen, Wünsche und Dispositionen ist von Einfluß auf den Inhalt dessen, was da in einer allerersten Form dargeboten wird. Es wird inhaltlich nichts Spezielles vermutet, erspekuliert, gedacht oder gewollt. Wer sich der "reinen Erfahrung" als Untersucher aussetzt, sagt Bernhard Kallert, "schwebt in der Absolutheit der Möglichkeit". Er hat sich in einen zugleich negativen - weil er alles Vorherwissen ausschließt, und positiven, weil er die Möglichkeit des ungestörten Sich-Heranarbeitens bietet - Zustand versetzt. "Wo das Denken in der absoluten Möglichkeit schwebt, wird erst auch Erfahrung in ihrer Reinheit möglich."68

Steiners Kennzeichnung sagt uns auch eindeutig, daß jede Form der Wirklichkeitswahrnehmung, die unter Preisgabe des Selbstes stattfindet, den Status einer "reinen Erfahrung" hat. Der Nachweis einer subjektiven Beimengung zum Wahrnehmungsinhalt wäre demnach das experimentum crucis, um eine "reine Erfahrung" von jeder anderen zu scheiden. Wir brauchen uns bei einer gegebenen Erfahrung lediglich zu fragen: fügt zum Inhalt dieser Erfahrung das Selbst etwas hinzu, vermengt es diesen Inhalt mit etwas, was aus der Persönlichkeit und nicht aus der Sache selbst stammt? und wir haben ein präzises Kennzeichen. Die nähere Natur dieses "Selbstes" bleibt, abgesehen von seinem produktiven Vermögen und den Folgen seiner (Nicht)Einflußnahme, noch unerörtert. Steiner verwendet zwar auf S. 52 der "Grundlinien ..." "Selbst" und "individuelle Persönlichkeit" synonym, so daß wir wohl von einer Gleichsetzung dieser Begriffe ausgehen können, aber damit wissen wir noch nicht viel mehr. Erst in den Kapiteln 12 und 13 setzt er sich ausführlicher mit dem Begriff der Persönlichkeit auseinander. Es ist auch zu Beginn der Schrift noch gar nichts darüber ausgesagt, in welchem Verhältnis das Selbst etwa zum Denken steht, so daß die oben gegebene Umschreibung der "reinen Erfahrung" tatsächlich nicht mehr als vorläufig ist, denn sie enthält bereits Annahmen über die Beziehung von Denken und Selbst, die wir der Steinerschen Schrift streng genommen nicht entnehmen können.

Zu dieser einleitenden Definition des Begriffs der "reinen Erfahrung" gesellt sich wenig später eine zweite Begriffsbestimmung, in der die Denkfreiheit (zusätzlich) zum Kriterium der "reinen Erfahrung" erhoben wird. "Wir wollen den Fehler vermeiden, dem unmittelbar Gegebenen, der ersten Form des Auftretens der Außen- und Innenwelt, von vornherein eine Eigenschaft beizulegen und so auf Grund einer Voraussetzung unsere Ausführungen zur Geltung zu bringen." begründet Steiner dieses Vorgehen. "Ja, wir bestimmen die Erfahrung geradezu als dasjenige, an dem unser Denken gar keinen Anteil hat. Von einem gedanklichen Irrtum kann also am Anfange unserer Ausführungen nicht die Rede sein."69 Die überwiegenden Charakterisierungen der "reinen Erfahrung", die in diesem Zusammenhang angeführt werden, haben zum Ziel, die Leistung des Denkens gegenüber der bloßen Erfahrung zu illustrieren. Was Steiner dort schreibt deckt sich über weite Strecken mit dem, was wir bei Volkelt gelesen haben. Die "reine Erfahrung" ist ein "bloßes Nebeneinander im Raume und Nacheinander in der Zeit; ein Aggregat aus lauter zusammenhanglosen Einzelheiten. Keiner der Gegenstände, die da kommen und gehen, hat mit dem anderen etwas zu tun."70 Diskontinuität, Regellosigkeit, fehlender Zusammenhang und Begriffslosigkeit sind die Eigenschaften der "reinen Erfahrung". Die Welt ist da eine Mannigfaltigkeit von ganz gleichwertigen Dingen. Kein Ding, kein Ereignis darf den Anspruch erheben, eine größere Rolle in dem Getriebe der Welt zu spielen als ein anderes Glied der Erfahrungswelt. So wird etwa das lange wörtliche Zitat aus der Volkeltschen Kant-Schrift angeführt mit dem Vermerk, Volkelt sei es "vorzüglich gelungen, das in scharfen Umrissen zu zeichnen, was wir reine Erfahrung zu nennen berechtigt sind"71, und was dort gezeigt wird, ist nach Steiners Worten "diejenige Form der Wirklichkeit, an der das Denken gar keinen Anteil hat."72. Wir finden weiter Kennzeichnungen wie diese, daß die "reine Erfahrung" jene Form der Wirklichkeit sei, "die jedes Begriffes bar ist"73. "Wir müßten uns unseres Denkens vollkommen entäußern, wollten wir an der reinen Erfahrung festhalten."74 Steiners Bemühen ist ganz überwiegend darauf gerichtet, die zusammenhangstiftende Leistung des Denkens sichtbar zu machen. "Reine Erfahrung" ist also gleichermaßen ein Resultat von Selbst-Losigkeit und Denk-Verzicht. Interessanterweise kommt Steiner auf den Aspekt der Selbst-Losigkeit nur noch ein einziges mal zu sprechen bei der Erörterung der Erfahrung des Denkens, bei einem überaus entscheidenden, aber auch sehr speziellen Fall von "reiner Erfahrung".

Die Tatsache, daß Steiner den Beginn der erkenntnistheoretischen Untersuchung praktisch mit einer Definition einleitet, aber diese dann weitgehend auf sich beruhen läßt und nicht weiter expliziert, ist schon sehr außergewöhnlich. Alle unmittelbar auf diese Begriffsbestimmung folgenden Ausführungen gehen im wesentlichen der Frage nach, wie Erfahrung und Denken zueinander stehen und nicht Erfahrung und Selbst oder Denken und Selbst. Auffallend ist dieses Vorgehen, weil im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Abhandlung bei Einführung einer Definition damit zu rechnen ist, daß sich der Autor ausführlicher mit den Gründen auseinandersetzt, die für diese Definition und keine andere sprechen, und es ist zu erwarten, daß er darüber hinaus Anstalten macht, seine Begrifflichkeit zu erläutern und zu präzisieren. Der Begriff des "Selbst" ist ja alles andere als eindeutig und klar bestimmt. Ist hier das normale Alltags-Ich gemeint oder ein anderes? Sind "Ich" und "Selbst" respektive "individuelle Persönlichkeit" einerlei oder verschiedene Dinge? Wir erfahren zunächst nichts darüber. Auch der Ausdruck "Entäußerung des Selbstes" bedürfte ohne Frage ebenso einer Klärung. Bedeutet "Entäußerung des Selbstes" soviel wie passive Hingabe oder passives Aufnehmen? Können wir uns auch unseres Selbstes entäußern, ohne in Passivität zu verfallen - ja ist die "Entäußerung des Selbstes" nicht viel mehr eine durch und durch willensaktive Leistung des Selbstes, ein hochangespanntes Schweigen-Lassen aller inneren Bedürfnisse? Zumindest wenn wir auf den späteren Fall der Denkerfahrung vorausblicken ist die gemeinte Selbstentäußerung im höchsten Maße eine Leistung des im Denken sich betätigenden Ich - in dem Maße, wie die Denkkräfte das Erscheinen der Gedanken bewirken muß sich das Ich zurücknehmen, um die Gedanken und nicht sich selbst aussprechen zu lassen - das eine ist ohne das andere nicht zu haben.

Erst im 8. Kapitel wird das Selbst neuerlich thematisiert und seine Bedeutung im Erkenntniszusammenhang anhand der Beobachtung des Denkens näher charakterisiert: "Tritt nun das Denken wirklich in einer Weise an uns heran, wird es unserer Individualität so bewußt, daß wir mit vollem Rechte die oben hervorgehobenen Merkmale für dasselbe in Anspruch nehmen dürfen?", fragt Rudolf Steiner. "Jedermann, der seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt richtet, wird finden, daß ein wesentlicher Unterschied zwischen der Art besteht, wie eine äußere Erscheinung der sinnenfälligen Wirklichkeit, ja selbst wie ein anderer Vorgang unseres Geisteslebens bewußt wird, und jener, wie wir unser eigenes Denken gewahr werden. Im ersten Falle sind wir uns bestimmt bewußt, daß wir einem fertigen Dinge gegenübertreten; fertig nämlich insoweit, als es Erscheinung geworden ist, ohne daß wir auf dieses Werden einen bestimmenden Einfluß ausgeübt haben. Anders ist das beim Denken. Das erscheint nur für den ersten Augenblick der übrigen Erfahrung gleich. Wenn wir irgendeinen Gedanken fassen, so wissen wir, bei aller Unmittelbarkeit, mit der er in unser Bewußtsein eintritt, daß wir mit seiner Entstehungsweise innig verknüpft sind. Wenn ich irgendeinen Einfall habe, der mir ganz plötzlich gekommen ist und dessen Auftreten daher in gewisser Hinsicht ganz dem eines äußeren Ereignisses gleichkommt, das mir Augen und Ohren erst vermitteln müssen: so weiß ich doch immerhin, daß das Feld, auf dem dieser Gedanke zur Erscheinung kommt, mein Bewußtsein ist; ich weiß, daß meine Tätigkeit erst in Anspruch genommen werden muß, um den Einfall zur Tatsache werden zu lassen. Bei jedem äußeren Objekt bin ich gewiß, daß es meinen Sinnen zunächst nur seine Außenseite zuwendet; beim Gedanken weiß ich genau, daß das, was er mir zuwendet, zugleich sein Alles ist, daß er als in sich vollendete Ganzheit in mein Bewußtsein eintritt. Die äußeren Triebkräfte, die wir bei einem Sinnenobjekte stets voraussetzen müssen, sind beim Gedanken nicht vorhanden. Sie sind es ja, denen wir es zuschreiben müssen, daß uns die Sinneserscheinung als etwas Fertiges entgegentritt; ihnen müssen wir das Werden derselben zurechnen. Beim Gedanken bin ich mir klar, daß jenes Werden ohne meine Tätigkeit nicht möglich ist. Ich muß den Gedanken durcharbeiten, muß seinen Inhalt nachschaffen, muß ihn innerlich durchleben bis in seine kleinsten Teile, wenn er überhaupt irgendwelche Bedeutung für mich haben soll."75

"Selbst" und "Denken" stehen in einer innigen erkenntnistheoretischen Beziehung zueinander. Das Werden des Gedankens ist ohne die Aktivität des "Selbst" nicht möglich, und ferner ist die Stätte oder das Wirklichkeitsfeld, an der oder auf dem sich der Gedanke zeigt, mein Bewußtsein. Diese meine Aktivität ist das Treibende hinter der Erscheinung des Gedankens, sie kausiert diese Erscheinung, und weil dies so ist, gibt es hinter dem Gedanken kein unbekanntes, erst zu ergründendes X, wie bei den übrigen Erscheinungen der Wirklichkeit. Hervorbringende Tätigkeit und der Inhalt dieser Tätigkeit sind die selbe Sache von zwei Seiten betrachtet. Es ist der Gedankengehalt der Welt, wie Steiner sagt. "das eine Mal erscheint er als Tätigkeit unseres Bewußtseins, das andere Mal als unmittelbare Erscheinung einer in sich vollendeten Gesetzmäßigkeit, ein in sich bestimmter ideeller Inhalt."76 Deswegen ist der Gedanke die einzige Gegebenheit überhaupt, die mir zugleich mit der Erscheinung ihr Wesen zeigt: Wahrnehmung und Begriff fallen, wie es in der "Philosophie der Freiheit" formuliert ist, zusammen. Ich muß, um dieses Wesen zur Erscheinung zu bringen, tätig sein, muß den Gedanken bis in seine kleinsten Verästelungen durcharbeiten und erleben. Es ist gerade diese Verbindung zwischen Denken und individueller Persönlichkeit, welche sicherstellt, daß der Gedanke dasjenige und zwar das einzige ist, was vollständig durchschaut werden kann.

In dieser Passage könnte man cum grano salis eine gewisse Parallelität zu Volkelts Prinzip der unmittelbaren Selbstgewißheit sehen, doch es gibt auch hier eine grundlegende Differenz in der epistemischen Bewertung des gemeinten Sachverhalts: Bei Volkelt ist das Wissen um die Denkbetätigung und die dabei obwaltenden Umstände tatsächlich ein unmittelbares, nicht vom Denken vermitteltes Wissen. Bei Steiner kann das nicht der Fall sein, weil, wie er Volkelt vorhält, die Vorgänge des eigenen Bewußtseins auf der Stufe der "reinen Erfahrung" denselben zusammenhanglosen Charakter haben müssen wie die übrigen Gegebenheiten. Volkelt "hätte ... einsehen müssen, daß das Subjekt des Erkennens, der Betrachter, ebenso beziehungslos innerhalb der Erfahrungswelt dasteht wie ein beliebiger anderer Gegenstand derselben." sagt er auf S. 38 der "Grundlinien ...". Ich kann demnach ohne Betätigung meines Denkens weder wissen, wo sich mein Denken abspielt noch welcher Zusammenhang zwischen meiner Tätigkeit und dem Erscheinen des Gedankens besteht. Das heißt, es kann nach Steiner eigentlich keine unvermittelte Selbstgewißheit des Bewußtseins geben sondern nur eine mittelbare, eine über das Denken vermittelte. Die Feststellung, dieser Denkakt wird von mir ausgeführt und das Feld, auf dem mein Denken sich vollzieht, ist mein Bewußtsein, kann nur das Ergebnis eines Denkurteils sein .

Weil es mein Bewußtsein ist, und weil sein Werden ohne meine innere Arbeit nicht möglich ist, steht mir der Gedanke näher als alles andere auf der Welt. Die Art, wie mir das Denken entgegentritt, sagt Steiner, ist zunächst keine andere, als die der übrigen Welterscheinungen; es erscheint als Erfahrung in der Form der Gegenüberstellung.77 Die übrigen Erscheinungen sagen mir nichts über ihren Zusammenhang, wenn ich bei der bloßen Erfahrung stehen bleibe, und da ich überhaupt nur im Denken einen inneren Zusammenhang erfassen kann, "so muß die Gesetzmäßigkeit der übrigen Welt, die wir nicht an dieser selbst erfahren, auch schon im Denken eingeschlossen liegen."78

Zwar hat die Persönlichkeit durch ihr Kausieren der Gedankenerscheinung einen maximalen Anteil an dieser Erscheinung - sie steht ihr so nah wie nichts sonst auf der Welt, aber aus dem Kausalverhältnis und der Intimität muß gleichwohl nicht auf die Subjektivität des Denkinhaltes geschlossen werden. Das Hervorbringen der Erscheinung ist zwar ein subjektiver, weil vom Subjekt ausgehender Akt, das Wesen der Erscheinung, der Inhalt des Aktes ist es jedoch nicht. Das Wesentliche am Denkakt ist der Inhalt, nicht die Erscheinungsform. Der Einwand der Subjektivität des Gedankens "beruht auf einer Verwechslung des Schauplatzes unserer Gedanken mit jenem Elemente, von dem sie ihre inhaltlichen Bestimmungen, ihre innere Gesetzlichkeit erhalten." sagt Steiner. "Wir produzieren einen Gedankeninhalt durchaus nicht so, daß wir in dieser Produktion bestimmten, welche Verbindungen unsere Gedanken einzugehen haben. Wir geben nur die Gelegenheitsursache her, daß sich der Gedankeninhalt seiner eigenen Natur gemäß entfalten kann. Wir fassen den Gedanken a und den Gedanken b und geben denselben Gelegenheit, in eine gesetzmäßige Verbindung einzugehen, indem wir sie miteinander in Wechselwirkung bringen. Nicht unsere subjektive Organisation ist es, die diesen Zusammenhang von a und b in einer gewissen Weise bestimmt, sondern der Inhalt von a und b selbst ist das allein Bestimmende. Daß sich a zu b gerade in einer bestimmten Weise verhält und nicht anders, darauf haben wir nicht den mindesten Einfluß. Unser Geist vollzieht die Zusammensetzung der Gedankenmassen nur nach Maßgabe ihres Inhaltes."79

Die Erfahrung des Denkens ist damit überhaupt der Inbegriff der "reinen Erfahrung". Wenn das positivistische Erfahrungsprinzip in seiner radikalisierten Form fordert, die Gegenstände der Wirklichkeit in der ersten Form ihres Auftretens zu belassen, sie nicht zu verändern, dann kann überhaupt nur beim Denken "das Prinzip der Erfahrung in seiner extremsten Bedeutung angewendet werden."80 "Wir erfüllen also im Denken das Erfahrungsprinzip in seiner schroffsten Form"81 heißt es bei Steiner entsprechend. In der Denkerfahrung haben wir es, obwohl der Anteil des Selbstes bei der Erscheinung des Gedankens nicht mehr zu überbieten ist, und obwohl wir keinen zweiten Gegenstand finden, mit dem wir intimer vertraut sind und den wir klarer durchschauen, mit jener Form der Wirklichkeit zu tun, "in der diese uns erscheint, wenn wir ihr mit vollständiger Entäußerung unseres Selbstes gegenübertreten". Anders gewendet: die subjektivste Tätigkeit zeigt den objektivsten Inhalt. Die Erfahrung des Denkens erfüllt in idealtypischer Weise jene Bedingung, die Steiner zu Beginn seiner Untersuchung an die "reine Erfahrung" schlechthin stellt. Auf den Inhalt des Gedankens hat das Selbst nicht den geringsten Einfluß. Wenn überhaupt eine positivistische Erfahrungswissenschaft realisierbar sein sollte, so könnte man Steiners Überlegungen zusammenfassend wiedergeben, dann ist die Erfahrung des Denkens Positivismus in Reinkultur.

Ende Kapitel 6            


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