Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


Ende   zurück   vorwärts     Inhalt   Anmerkung       Gesamtinhalt   Home

Michael Muschalle

Zum Begriff des Gegebenen bei Rudolf Steiner

(Stand 12.07.01)

Kapitel 8

Schlußbemerkung

Wir haben uns oben eine Strecke weit mit dem Problem des "Gegebenen" auseinandergesetzt und festgestellt, daß dieser Begriff bei Steiner hinsichtlich der Frage der "Denkfreiheit" etwas schillernd ist. An mancher Stelle könnte man ernstlich aber etwas voreilig auf den Gedanken verfallen, Steiner habe beim Tatsachenbegriff des Positivismus Anleihen aufgenommen, wie Johannes von Malottki dies für Volkelt behauptet. Ich halte das überwiegend für ein schriftstellerisches Problem - eine Folge der essayistischen Kürze der Steinerschen Erkenntnistheorie. Was dort bedauerlicherweise fehlt ist eine eingehende und detailreiche Diskussion konkurrierender Ansichten, wie es für eine systematische Philosophie wünschenswert wäre. Steiners objektiver Idealismus braucht in sachlicher Hinsicht keine Anleihen beim positivistischen Wirklichkeitsbegriff zu machen und er kann auch gar keine entsprechenden Anleihen machen, dergestalt, daß er ein genetisch Denkfreies postuliert, er muß allerdings die Genese seiner relativ stabilen Welt im Rekurs auf das Denken erklären, das heißt er muß zeigen können, wie im Verlauf der Ontogenese jene vergleichsweise stabilen Strukturen entstehen, die wir üblicherweise als Wahrnehmungswirklichkeit bezeichnen. (In diese Richtung zielt der oben erwähnte bewußtseinsphänomenologische Ansatz Herbert Witzenmanns.) Die Schwierigkeit, welcher sich der objektive Idealismus gegenübersieht, liegt darin, daß er ein genetisch denkfreies "Gegebenes" nirgendwo ausmachen kann. Von der gesamten Wahrnehmungswirklichkeit bleibt nichts zurück, wenn man alles daraus entfernt, was begrifflichen Charakter hat. Wenn man nun nicht wieder in einen offensichtlich unfruchtbaren Dualismus von Wahrnehmungsgegebenheit und Denken verfallen will, bleibt nur der Weg offen, die Genese dieser Wahrnehmungswirklichkeit einzig und allein im Rekurs auf das Denken zu erklären. Das heißt, aus den Grundannahmen des objektiven Idealismus folgt als Konsequenz die Entwicklung einer spezifischen Wahrnehmungs- und Sinneslehre, die Wahrnehmung und Denken auf eine gemeinsame Wurzel zurückführt.

Wenn ich ein genetisch denkfreies "Gegebenes" nirgendwo ausmachen kann, dann besteht weiter die Schwierigkeit, ein Abgleiten in den Solipsismus oder Illusionismus zu vermeiden. Denn wenn letztlich die sogenannte Wahrnehmungswirklichkeit gedanklichen Ursprungs ist, dann kann ich, etwas verkürzt gesprochen, meine Begriffe nicht mit begriffsunabhängigen Tatsachen vergleichen, sondern wieder nur mit Begriffen - das heißt, die Kohärenz meiner Begriffe wird zum ausschließlichen Kriterium der Gültigkeit meiner Aussagen über die Wirklichkeit. Selbst wenn unsere Begriffe nicht das subjektive Erzeugnis unserer Persönlichkeit sind, heißt das noch nicht, daß sie ohne weiteres in der jeweiligen Form auch anwendbar sind. Die objektive Herkunft verbürgt nicht die Gültigkeit der Begriffe in dem ihnen zugedachten Wirklichkeitsausschnitt. Auf dieses Problem gibt Steiners Erkenntnistheorie in ihrem Kern - so meine ich - keine Antwort. Es mag sein, daß sich die Sachlage etwas anders darstellt, wenn man seinen Wissenschaftsbegriff genauer zu Rate zieht. Ich habe aber eher die Vermutung, daß eine Lösung dieser Frage im Rahmen der eigentlichen Erkenntnistheorie nicht greifbar ist, sondern erst auf dem Felde der Anthroposophie sichtbar wird und zwar im Rekurs auf Steiners Ich-Theorie, wie sie etwa am Ende des Autoreferats "Philosophie und Anthroposophie" in GA 35 (S. 98 ff) kurz angedeutet ist.

Gegenüber dem Positivismus gibt es in methodologischer Hinsicht keine zwingende Veranlassung, auf der absoluten Denkfreiheit des "Gegebenen" zu bestehen, denn auf diese methodologische Auseinandersetzung hat die Problemstellung, ob absolut denkfreie Wahrnehmungen möglich sind oder nicht, keine Auswirkung. Die Notwendigkeit einer Ergänzung des positivistischen Prinzips durch das rationalistische ist mit den Volkeltschen Untersuchungen hinreichend dargetan, selbst dann, wenn man seine Auffassung von den vorlogischen Bewußtseinsgegebenheiten nicht teilen mag. Man muß noch nicht einmal so weit gehen wie Steiner und zeigen, daß überhaupt nur in der Erfahrung des Denkens das Erfahrungsprinzip ungeschmälert anwendbar ist. Interessant ist die Bestätigung von absolut denkfreien Gegebenheiten allerdings dann, wenn ich im Sinne des Positivismus den Nachweis erbringen will, daß die Wirklichkeit aus denkunabhängigen Tatsachen besteht, das heißt aus Tatsachen, in die nichts Gedankliches hineingeschmolzen ist, aus Tatsachen, die nicht in ihrem Wesen aus Gedanken bestehen. Ein solches Unternehmen scheitert schon im Vorfeld seiner Bemühungen. Volkelt hat dies sehr plastisch auf der philosophischen Ebene gezeigt und Thomas Kuhn in neuerer Zeit auf der Ebene der empirischen Wissenschaften. Die denkfreien Tatsachen des radikalen Positivismus bestehen aus Nichts und die Tatsachen des objektiven Idealismus bestehen aus Gedanken.

Ende Kapitel 8           


Top   zurück   vorwärts     Inhalt   Anmerkung       Gesamtinhalt   Home