Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Lutz Baar, Michael Muschalle

Kritischer Briefwechsel zum Beobachten und Erleben des Denkens

Über diesen Briefwechsel (20.05.08)

Inhalt:

1. Lutz Baar an Michael Muschalle (13.11.02)

2. Michael Muschalle an Lutz Baar (20.11.02)

3. Lutz Baar an Michael Muschalle (26.11.02)

4. Michael Muschalle an Lutz Baar (27.11.02)

5. Lutz Baar an Michael Muschalle (27.11.02)

6. Michael Muschalle an Lutz Baar (02.12.02)

7. Lutz Baar an Michael Muschalle (11.12.02)

8. Michael Muschalle an Lutz Baar (11.12.02)

9. Lutz Baar an Michael Muschalle (11.12.02)


1. Lutz Baar an Michael Muschalle (13.11.02) zurück

Thema: zum Erleben des Denkens

Lieber Herr Muschalle!

Ich bin Ihnen dankbar für Ihre gründliche Arbeit und dass Sie diese frei im Internet zur Verfügung stellen. Meiner Meinung nach ist Ihnen jedoch ein fundamentaler Überlesungsfehler unterlaufen, der Ihrer gesamtem Aussage eine Schlagseite versetzt.

Sie schreiben:

„Tatsächlich gibt es bei Steiner, abgesehen von sprachlicher Pointierung und einigen detaillierteren Hinweisen auf das Erleben des Denk-Prozesses in den späteren Neuzusätzen, keine unterschiedliche Bewertung in Bezug auf das Beobachten des Denkens. "Erlebnisse" des Denkens, von denen dort die Rede ist, sind auch "Erfahrungen" des Denkens. Der Ausdruck des "Erlebens" ist allerdings gesättigter und nachdrücklicher als der allgemeiner gehaltene Begriff des "Erfahrens". Auf der anderen Seite hat Steiner im dritten Kapitel auch nicht behauptet, daß das gegenwärtige Denken nicht zu erfahren sei. Und an der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens ändert sich auch durch die späteren Zusätze nichts. Diese Unbeobachtbarkeit gilt immer - daran hat Steiner nichts revidiert. Zum Erkennen des Denkens ist allerdings ein vertieftes Erleben allein ebensowenig ausreichend wie sein bloß anfängliches Erfahren. Zum Erkennen des Denkens gehört, daß es unter Begriffe gebracht werde. Und das geht einzig auf dem Wege einer denkenden Betrachtung von Denk-Erfahrungen - das ist: Beobachtung des Denkens.“ [Anmerkung MM: Lutz Baar zitiert ein Kapitel über Georg Kühlewind aus einer meiner Internetarbeiten. Siehe: http://www.studienzuranthroposophie.de/12AporieKap6.4.html]

Also, ein vertieftes Erleben des Denkens ist nicht ausreichend, zum Erkennen gehört, dass es unter Begriffe gebracht wird.

Nun hat aber Steiner deutlich gesagt, dass bezüglich des Denkens der Mensch sehr wohl auf dem Standpunkt des naiven Realisten verbleiben kann. Ja, das ist ja gerade der Unterschied des Denkens zu allen anderen Dingen, dass Begriff und „Erleben“ eine Einheit bilden, die ich nicht auf zwei getrennten Wegen zusammenfügen muss, sondern die in der Intuition als Einheit auftreten. Der intuitiv gefasste Gedanke ist selbstbeweisend. Der Begriff der Beobachtung muss also erweitert werden, von dem normalen Gegenüberstehen, zum Beobachten mittels „Einswerden“ mit dem beobachteten Objekt, jedenfalls für einen kleinen (ausserzeitlichen?) Augenblick.

Die entsprechenden Steinerzitate dazu brauch ich Ihnen wohl nicht angeben, da Sie diese wohl besser als ich selbst kennen.

Mit freundlichen Grüssen,

Lutz Baar

2. Michael Muschalle an Lutz Baar (20.11.2002) zurück

Lieber Herr Baar,

herzlichen Dank für Ihren Brief vom 13. 11.02. Sie schrieben:

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s.o.

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Zunächst möchte ich bemerken, daß ich Ihnen für Ihre kritischen Bemerkungen sehr dankbar bin - das ist nicht als Höflichkeitsfloskel gemeint, sondern sachlich. Den von Ihnen formulierten Aspekt finde ich hochinteressant und behandlungsbedürftig.

Falls Sie sich darüber wundern, warum ich mir Ihre Frage nicht schon selbst vorgelegt habe, so ist dazu zu sagen: Rein pragmatisch und zeitökonomisch war es mir bislang nicht möglich ihr die nötige Aufmerksamkeit zu widmen. Man kann wohl viele Fragen haben, aber man kann sie nicht alle gleichzeitig beantworten. Oft muß man auf die passende Gelegenheit warten sich ihnen zuzuwenden. Das macht das Vorläufige und grundsätzlich Kritikable einer philosophischen Untersuchung - auch der "Philosophie der Freiheit" selbst - aus. Wollte man alle Fragen beantworten, die im Zusammenhang mit der Beobachtung des Denkens zu stellen sind, dann reichte die individuelle Lebensspanne bei weitem nicht aus. Und viele dieser Fragen werden wohl überhaupt erst in der näheren und weiteren Zukunft gestellt werden. Deswegen ist das beste, was einem Autor und der fraglichen Sache selbst widerfahren kann, daß andere an ihn kritische Fragen richten, die er sich selbst aus welchen Gründen auch immer nicht gestellt hat, oder die er nicht hat behandeln können. Das ist das Prinzip einer wissenschaftlichen Gemeinschaft oder scientific community: 12 Augenpaare sehen in der Regel mehr als nur eines allein.

Zu den sachlichen Punkten:

a) Beobachtung des Denkens und naiver Realismus       Zurück zu Anm. 2

Was Ihnen problematisch erscheint, ist - um es etwas zu komprimieren - daß das Denken nach meiner Lesart auch unter Begriffe zu bringen ist wenn man es erkennen will. Und das scheint sich mit der Auffassung Steiners zu beißen, wonach man gegenüber dem Denken auf dem Standpunkt des naiven Realisten verbleiben kann.

Lassen Sie mich das Verhältnis Beobachtung des Denkens und naiver Realismus an dieser Stelle nur kurz und prägnant beleuchten. Für eine differenziertere Betrachtung müßte man einen langen Aufsatz schreiben, da Steiners Ausführungen über den naiven Realismus in der Philosophie der Freiheit sehr umfangreich sind. Ich meine aber, das, was in Bezug auf dieses Verhältnis relevant ist, habe ich in meinen Internetarbeiten wenigstens implizit schon gesagt.

Also: Steiner betont in der Philosophie der Freiheit, daß man in bezug auf das Denken den Standpunkt des naiven Realisten einnehmen kann. Was aber heißt das aber für die wissenschaftliche Erkenntnis des Denkens? - Es heißt nichts anderes, als das Denken möglichst präzise zu beschreiben und unter deskriptive Begriffe zu bringen. Diesen Gesichtspunkt stellt Steiner schon in Wahrheit und Wissenschaft vor, wenn er dort sagt: "Das Denken selbst ist ein Tun, das einen eigenen Inhalt im Momente des Erkennens hervorbringt. Soweit also der erkannte Inhalt aus dem Denken allein fließt, bietet er für das Erkennen keine Schwierigkeit. Hier brauchen wir bloß zu beobachten; und wir haben das Wesen unmittelbar gegeben. Die Beschreibung des Denkens ist zugleich die Wissenschaft des Denkens." WuW, (GA-3), 1980, Kap V; S. 63. Die Wissenschaft des Denkens besteht hiernach in einer Beschreibung des Denkens.

Den selben Gesichtspunkt formuliert er explizit in der Philosophie der Freiheit, indem er dort über den naiven Realismus sagt: "Will der naive Realismus eine Wissenschaft begründen, so kann er eine solche nur in einer genauen Beschreibung des Wahrnehmungsinhaltes sehen. Die Begriffe sind ihm nur Mittel zum Zweck. Sie sind da, um ideelle Gegenbilder für die Wahrnehmungen zu schaffen." (GA-4); 1978, Kap VII, S. 119. Die beschreibenden Begriffe haben hier nur den Zweck, ein ideelles Gegenbild zu schaffen. Übertragen auf die Beobachtung des Denkens: Sie veranschaulichen oder verbildlichen das Denken mit beschreibenden Begriffen. Und in dieser Veranschaulichung erst werden Eigenschaften des Denkens bewußt, die vorher zwar erlebt wurden, die aber innerhalb dieses Erlebnisstromes als spezifische Eigenschaften oder Aspekte des Denkens nicht zugleich bewußt werden konnten.

In bezug auf die Methode einer Wissenschaft des Denkens sind diese beiden Passagen weitgehend deckungsgleich. Ich muß, um das Denken zu erkennen, meine Denk-Erlebnisse unter beschreibende Begriffe bringen. Und das ist ja eben das, was ich in meiner Arbeit versuchte deutlich zu machen. Dies widerspricht nicht der Auffassung Steiners, wonach man dem Denken gegenüber auf dem Standpunkt des naiven Realisten bleiben kann. Auch der naive Realist muß die Dinge unter Begriffe bringen wenn er sie erkennen will. Er hat zu den Dingen nur ein anderes Verhältnis als jene kritischen Positionen, die Steiner behandelt.

Solange Sie das Denken nur erleben, haben Sie es nicht erkannt. Sondern erst dann, wenn Sie es in beschreibende Begriffe gefaßt haben. Die charakteristischen Eigentümlichkeiten des Denkens bleiben Ihnen unbewußt, solange dies nicht geschieht. Dieses beschreibende Erfassen des Denkens ist natürlich wiederum eine erlebte Denk-Tätigkeit - gehört also dem Bereich des Denk-Erlebens an. So daß man sagen kann: Das erlebte Denken als solches ist noch kein erkanntes Denkens, aber jedes wirkliche Erkennen des Denkens auch ein erlebtes Denken. Das erlebte Denken ist so gesehen die Grundlage für das Erkennen des Denkens, denn würden Sie nichts erleben, dann müßten Sie ins Blaue hinein beobachten und metaphysische Spekulation betreiben.

Ich will Ihnen das anhand Ihrer eigenen brieflichen Darstellung demonstrieren. Sie sagen dort, der "intuitiv gefasste Gedanke sei selbstbeweisend". Die Richtigkeit oder Gültigkeit Ihrer Aussage will ich hier einmal außer Acht lassen, sondern Sie nur fragen, wie Sie denn methodisch zu dieser Einsicht gekommen sind? Und um eine Einsicht scheint es sich doch unzweifelhaft zu handeln. Wenn es sich aber um eine solche handelt und nicht nur um eine Formulierung, die Sie übernommen haben ohne sie zu verstehen, dann können Sie sie doch nur gewonnen haben, indem Sie über Ihre Denkerfahrungen und speziell über die erlebten Eigenschaften von Begriffen nachdachten. Vielleicht haben Sie diesen methodischen Weg ja nur vergessen. Daß intuitiv gefaßte Gedanken selbstbeweisend sind - was immer Sie darunter verstehen mögen - war Ihnen doch nicht apriori bewußt, sondern Sie mußten es sich erst klar machen. Ähnliches ließe sich von den logischen Gesetzen des Denkens sagen. Wir richten uns zwar nach ihnen im konkreten Denken, aber wir haben sie als solche noch nicht erkannt, so daß wir sie explizit benennen könnten. Sonst wäre jeder, der richtig denken kann, auch ein Logiker, was doch offensichtlich nicht der Fall ist. (Ausführlicheres zu diesem Gesichtspunkt finden Sie im Kapitel 9. 1 "Über das Zusammenfallen von Wahrnehmung und Begriff und intuitives Denken". Im Internet erreichbar unter der Adresse http://www.studienzuranthroposophie.de/23aAporieKap9.1.html )

In Kapitel V, S. 103 der Philosophie der Freiheit schreibt Steiner: "Man entgeht der Verwirrung, in die man durch die kritische Besonnenheit in bezug auf diesen Standpunkt gerät, nur, wenn man bemerkt, daß es innerhalb dessen, was man innen in sich und außen in der Welt wahrnehmend erleben kann, etwas gibt, das dem Verhängnis gar nicht verfallen kann, daß sich zwischen Vorgang und betrachtenden Menschen die Vorstellung einschiebt. Und dieses ist das Denken. Dem Denken gegenüber kann der Mensch auf dem naiven Wirklichkeitsstandpunkt verbleiben."

Die Vorstellung schiebt sich hier ein, weil der Kritiker des naiven Realismus zu der Überzeugung kommt, daß der naive Wirklichkeitsstandpunkt aufgegeben werden muß. Er weiß, daß die Dinge eben nicht in der Weise wirklich sind wie sie wahrgenommen werden, sondern daß er im Erkennen zu dem Wahrgenommenen etwas hinzufügt, beziehungsweise daß das außen Wirkende durch seine Organisation Modifikationen erfahren hat. Das führt ihn zu der Auffassung daß er überhaupt nur Vorstellungen von den Dingen hat - nämlich seine mittelbaren Seelen- und Erkenntniserlebnisse, die sich aus der Wechselwirkung eines unbekannten "X" mit seiner Organisation ergeben. Er setzt zwischen die wirkliche Welt und sich die Vorstellung und kommt zu einem unerkennbaren Ding an sich. Das Wirkende existiert als An-Sich der Dinge in der wirklichen Welt, und was von dieser Welt der Dinge An-sich in unser Bewußtsein fällt sind nur Wirkungen, die in unseren Vorstellungen aufleben, die uns aber nicht viel Verbindliches sondern nur höchst Mittelbares und Fragliches über das eigentlich Wesen des Wirkenden sagen können. Deswegen bleibt die wirkliche Welt seinem Erkennen je nach Standpunkt teils relativ, und teils vollkommen unzugänglich.

Damit allerdings geht er nach Steiner zu weit. Denn was der Kritiker des naiven Realismus zumeist übersieht, ist, daß diese Haltung dem Denken gegenüber nicht eingenommen werden kann, weil er beim Denken Wirkendes und Bewirktes unmittelbar vor sich hat. Weil und indem er beides erlebt und sich untrennbar mit beidem verbunden weiß. Deswegen kann er das Wirkende nicht mehr in ein unerkennbares An-Sich der Welt verlagern und über seine Organisation auf sich wirken lassen. Und deswegen auch können sich nicht die gekennzeichneten Vorstellungen zwischen Wirkendes und ihn schieben, weil im erlebten Denken das wirkende Wesen unmittelbar erlebt wird und nicht nur mittelbar darauf geschlossen werden braucht.

Oder wie es Steiner in der Schrift "Goethes Weltanschauung (GA-6), Taschenbuchausgabe Dornach 1979, S. 86) formuliert: "Die eigene Natur der Ideenwelt kann also der Mensch nur erkennen, wenn er seine Tätigkeit anschaut. Bei jeder anderen Anschauung durchdringt er nur die wirkende Idee; das Ding, in dem gewirkt wird, bleibt als Wahrnehmung außerhalb seines Geistes. In der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes ganz in seinem Innern enthalten. Er hat den ganzen Prozeß restlos in seinem Innern gegenwärtig. Die Anschauung erscheint nicht mehr von der Idee hervorgebracht; denn die Anschauung ist jetzt selbst Idee. Diese Anschauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit. Bei der Beobachtung des Denkens durchschaut der Mensch das Weltgeschehen. Er hat hier nicht nach einer Idee dieses Geschehens zu forschen, denn dieses Geschehen ist die Idee selbst."

Zusammenfassend: Der naive Realist sagt: Was ich wahrnehme ist das Wirkende und ist wirklich. Diese Auffassung gilt, so Steiner, eigentlich nur für das Denken, weil wir nur hier das Wirkende und Bewirkte restlos in unserem Innern in einem Prozeß gegenwärtig haben. Das steht nicht im Widerspruch zur Ansicht, daß das Denken auch auf beschreibende Begriffe gebracht werden muß. Denn bei der Beschreibung oder Erkenntnis des Denkens hat der Denker ja ebenso den ganzen Prozeß in sich gegenwärtig wie bei seinem einfachen Erleben, und er erlebt ihn im Prinzip nicht anders als vorher. Er weiß nur hinterher mehr darüber als vorher. Weil die Beobachtung zeitversetzt stattfindet ist es etwas schwierig ein erlebtes Denken zu beschreiben - aber es ist durchaus praktikabel. Nicht zuletzt dienen Steiners Angaben zum Schulungsweg auch dazu, diesen Schwierigkeiten durch eine Vielzahl praktischer Übungen zu begegnen.

b) Begriffe als intuitive Erlebnisinhalte und unser Wissen um Begriffe und Intuitionen

Wenn Sie jetzt schreiben: "Ja, das ist ja gerade der Unterschied des Denkens zu allen anderen Dingen, dass Begriff und "Erleben" eine Einheit bilden, die ich nicht auf zwei getrennten Wegen zusammenfügen muss, sondern die in der Intuition als Einheit auftreten", so ist hier zu unterscheiden zwischen dem erlebten Begriff als Intuition und unserem Wissen über ihn und die Intuition. Als Inhalt meines Bewußtseins ist der Begriff natürlich auch ein erlebter Bewußtseinsinhalt, und insofern bilden Begriff und Erleben eine Einheit wie Sie sagen. Begriff und Anschauung decken sich wie Steiner sagt. Und zwar unabhängig davon ob ich weiß was Begriffe und Intuitionen sind oder nicht.(Siehe auch dazu das oben angeführte Kapitel meiner Internetarbeit "Über das Zusammenfallen von Wahrnehmung und Begriff und intuitives Denken". Im Internet erreichbar unter der Adresse http://www.studienzuranthroposophie.de/23aAporieKap9.1.html). Diese Erlebniseinheit findet sich in jedem Denker, auch wenn der noch nie sein Denken beobachtet hat. Aber dieser weiß auch nichts darüber, solange er sein Denken nicht beobachtet. Weder von Begriffen und ihren Eigenschaften, noch von der besagten Erlebniseinheit. Um es etwas anders zu formulieren: Der naive Denker - wenn wir ihn einmal so nennen wollen - kennt nur den Inhalt seiner Begriffe, womöglich ist er sogar Experte für bestimmte Begriffe, aber er weiß nicht was Begriffe sind. Er kennt vielleicht den Inhalt seines Denkens sehr genau, und vermag es auch brillant auszuüben, und weiß dennoch nicht was Denken ist.

Diese beiden Gesichtspunkte werden auch von anthroposophischen Autoren gern durcheinander gebracht: Daß das Kennen von begrifflichen Inhalten etwas anderes ist als eine Erkenntnis dessen was Begriffe sind. Und das faktische Denken etwas anderes als eine Erkenntnis des Denkens. Man muß also unterscheiden zwischen den erkannten Inhalten von Begriffen und den Erkenntnissen über Begriffe und ihre Eigenarten. Desgleichen zwischen erlebten Intuitionen und unserem Wissen darüber. Und ebenso zwischen dem Vermögen zu Denken und einer Erkenntnis des Denkens. Aber auch Erkenntnisse über Begriffe und Intuitionen und Denken treten in der von Ihnen genannten Erlebniseinheit auf. Der beschreibende Begriff, den ich über die Eigenschaften von Begriffen fasse, wird ebenso erlebt wie jene Begriffe deren Inhalte ich erfasse.

c) Gegenüberstehen und Vereinigung

Sie sagen zum Schluß: "Der Begriff der Beobachtung muss also erweitert werden, von dem normalen Gegenüberstehen, zum Beobachten mittels "Einswerden" mit dem beobachteten Objekt, jedenfalls für einen kleinen (ausserzeitlichen?) Augenblick." Gegen diese Forderung ist nichts einzuwenden. Es ist nur zu bedenken, daß nicht jedes gegenüberstehende Objekt zu einer Einswerdung durch seine Beobachtung führen kann, sonst müßte ich mich bei meiner Selbstbeobachtung auch mit mir selbst vereinigen. Es gibt Dinge, die stehen mir von vornherein gegenüber wie Bäume und Sträucher. Und es gibt Dinge, die muß ich mir erst aktiv gegenüberstellen, da sie bereits ein Teil meiner selbst sind - etwa meine eigene Denktätigkeit. Gegenüberstellen heißt da zunächst nur, daß ich mich etwas von einer Sache distanziere um sie näher in Augenschein zu nehmen. Beobachtung heißt ja zunächst "Gewahrwerdung". Begriffe und Ideen, die ich beobachte, werden im Zuge ihrer Gewahrwerdung zu einem Teil meiner selbst oder meiner Begriffswelt. Wenn ich mich selbst beobachte wird mir einiges über mich klar, was ich vorher nicht wußte. Mit der Vereinigung wird es da schon schwieriger.

Der Ausdruck "Außerzeitlicher? Augenblick", den Sie hier mit einem Fragezeichen versehen, ist wirklich eine interessante Angelegenheit. Eigentlich bedeutet "außerzeitlicher Augenblick" ja einen Widerspruch in sich, denn der Augenblick ist immer zeitlich, sonst wäre er kein Augenblick. Vielleicht aber zielen Sie mit dem "Außerzeitlich" auf etwas anderes - nämlich eine Inhaltsfülle des begrifflichen Erlebens, die in zeitlichen Kategorien und rein quantitativ und qualitativ schwer zu fassen ist. Die Frage ist dann: Welche Inhaltsfülle macht meinen erlebten Bewußtseinszustand aus? Wieviel an Inhalt ist gleichzeitig in meinem Bewußtsein präsent? Und in welchen bewußtseinsphänomenologischen Kategorien läßt sich das ausdrücken? Diese Frage stellt sich übrigens nicht nur für psychologisch besonders spektakuläre Intuitionen, sondern auch für die Allereinfachsten, die wir bei jedem begrifflichen Denken haben. (Einiges dazu in meiner Arbeit; Wie denkt man einen Denkakt? Teil IV, im Internet erreichbar unter der Adresse http://www.studienzuranthroposophie.de/Akt4.html )

Vielleicht bin ich hiermit Ihren Frage etwas näher gekommen. Wie ich gesehen habe, ist Ihr Brief an mich auch in Ihrem Forum lebendiges Denken öffentlich gemacht. Ich kann Sie darin nur unterstützen, denn die behandelten Fragen sind eigentlich viel zu wichtig und zu schade um nur zwischen zweien diskutiert zu werden. Wenn Sie mögen können Sie meine Antwort dazustellen. Die Entscheidung darüber überlasse ich aber Ihnen.

Ich danke Ihnen noch einmal herzlichst,

Ihr Michael Muschalle

3. Lutz Baar an Michael Muschalle (26.11.02) zurück

Thema: Zweiter Brief

Datum: 26.11.02 12:44:13 (MEZ) Mitteleuropäische Zeit

Lieber Herr Muschalle!

Bitte fassen Sie diesen Brief nicht als ein Nörgeln an Ihrer Arbeit auf, sondern als eine Art Zwiegespräch mit mir selbst anhand Ihres Textes. Entschuldigen Sie bitte alles unwissenschaftliche Vorgehen meinerseits und biegen Sie es für sich selbst gerade. Stellen Sie sich vor, Sie hätten diesen Brief als Skizze bekommen, mit dem Auftrag „was draus zu machen“ – auch wenn das Thema hier Ihren eigenen Text betrifft.

Lassen Sie mich erst meinen generellen Standpunkt zu Steiners Philosophie der Freiheit klarmachen. Das Werk ist in zweiter Auflage mit Zusätzen erschienen und dann nie wieder revidiert worden. Ähnlich wie bei einem Bildkunstwerk, wo der Künstler seine erste Version bearbeitet und die neue Version dann als sein fertiges Werk ansieht. Viel wird daher davon abhängen, welches Gewicht man diesen Zusätzen beimisst und wie man sie liest. Es kann ja nie die Rede davon sei, dies und das hat Steiner geschrieben, sondern nur von so habe ich es verstanden. Und Zudem kommt dann noch der Blick auf die Intentionen des gesamten Wirkens des Verfassers. Damit meine ich nicht spätere inhaltliche Aussagen, sondern die Art wie er versucht die Leserschaft „mit auf die Reise zu nehmen“. Er spricht ja auch von seiner PhdFr als einem „Übungsbuch“.

Die Philosophie der Freiheit schließt ab mit dem berühmten Motto: „Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können, sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“ In der ersten Auflage hieß es statt „erlebend“ „als Herr“. Von der Herrschaft zum Erleben. Ist aber ein erlebendes Idee-gegenüberstellen überhaupt noch ein Gegenüber-Stellen im Sinne einer Beobachtungssituation?

Im Zusammenhang mit Witzenmann schreiben Sie: „Wenn ich Steiners Angaben wirklich konsequent und stringent auf den Denkakt anwenden und diesen erkennen will, dann jedoch darf ich nicht den Denkakt denken, sondern ich muß vordringlich versuchen die Aktivität des Denkens selbst in den Fokus meiner Aufmerksamkeit zu bekommen und zu erleben. Über diese Erfahrungen muß dann weiter reflektiert werden, aber das ist doch entschieden etwas anderes als den Denkakt nur zu denken.“

Die Frage entsteht, wie eine wissenschaftliche Untersuchung über die Beobachtung des Denkens, wie man diese vorlegt, mit Steiners Aussage korrespondiert: „Die Schwierigkeit, das Denken in seinem Wesen beobachtend zu erfassen, liegt darin, dass dieses der betrachtenden Seele nur allzu leicht schon entschlüpft ist, wenn diese es in die Richtung ihrer Aufmerksamkeit bringen will. Dann bleibt ihr nur das tote Abstrakte, die Leichname des lebendigen Denkens.“ (Kapitel 8, Zusatz) Das ist nicht verkleinernd gemeint, sondern sachlich. Steiners Rezept lautet: Intuitives Erleben im Denken (weiter unten im selben Zusatz; – hier taucht übrigens das Wort „Wirklichkeit“ mehrfach auf, was Ihre Position des „darüber muss dann weiter reflektiert werden“ schwächen könnte). Nun kann es ja durchaus sein, dass eine Untersuchung in einem solchen intuitiven Erleben des Denkens urständet, die Frage ist, in welchem Maß ich bei dem Prozess gegenwärtig „dabei“ war. Intuition heißt inneres Da(bei)-Sein. War ich als Zeuge bewusst anwesend oder zeuge ich von Intuitionen, wie sie uns im Bewusstsein geformt auftreten?

Da sind wir jetzt bei der „Schlagseite“, die ich meine bei Ihrer Gesamtaussage zu finden. Das hat zuerst mit den oben erwähnten Intentionen zu tun. Lassen Sie mich zwei Intentionsreihen bezüglich des intuitiven Denkens nebeneinander aufstellen.

Zuerst wie ich Ihre lese:

Können, Erfahrung und Erleben (als gesättigtes Erfahren), Beobachtung, Erkennen (als gewonnener „fester Punkt“). Ziel: Das Denken als Wissenschaft zu greifen. Das Ergreifen und das zu Ergreifende befinden sich im gleichen Element. Das gibt Erkenntnis, lässt mich als den Ergreifenden aber unverändert.

Eine andere mögliche Intentionsreihe wäre:

Können, Erfahrung, Beobachtung, Erkennen (als fester Punkt), Erleben. Ziel: Das Denken als geistiges zu erleben. Erkenntnis als ein gegenwärtiges Geisterleben ändert mein Bewusstsein.

Also, wir KÖNNEN das intuitive Denken ausüben, da wir diese Fähigkeit schon haben. Wir können ERFAHRUNGEN dabei machen, die wir hinterher BEOBACHTEN können. Dadurch ERKENNEN wir dieses Denken, wie wir auch z B eine Pflanze erkennen. Wenn wir dieses Erkennen vergleichen mit Goethes Beschreibung seines Erkennens der (Ur)pflanze, merken wir, dass da ein qualitativer Unterschied beschrieben wird. Können wir denn ein lebendes Samenkorn von einem geschickt gemachten künstlichen durch Beobachtung unterscheiden? Wenn wir dieses tatsächlich ausführen würden, wäre dann nicht die Bezeichnung ERLEBEN (des Lebendigen) erst voll adäquat? In ähnlicher Weise reserviert Steiner das Erleben des Denkens für einen weiterentwickelten Bewusstseinszustand: „ Gerade von diesem Reichtum, von dieser inneren Fülle des Erlebens rührt es her, dass sein Gegenbild in der gewöhnlichen Seeleneinstellung tot, abstrakt aussieht.“ (PhdFr, Kapitel 8, Zusatz).

Sie werden mir vielleicht erwidern, daß „…der beschreibende Begriff, der mir bei der Beobachtung des Denkens aufgeht, gleichzusetzen ist mit der Wahrnehmung des Denkens. Das Denken kann also nur durch Begriffe wahrgenommen, "angeschaut" oder gesehen werden. Was vor dieser eigentlichen Wahrnehmung des Denkens durch Begriffe liegt, ist seine begriffslose "reine Erfahrung". (Muschalle)

Ist aber das Anschauen durch Begriffe übergeordnet dem bewussten Erleben eines rein geistigen Inhaltes? „Intuition ist das im rein Geistigen verlaufende bewusste Erleben eines rein geistigen Inhaltes.“ (PhdFr, Kapitel 9). Nun gut, das durch gegenwärtiges Erleben gewonnene kann sich dann auch zu einem Gegebenen metamorphosieren – aber ist die Methode der gegenüberstellenden Beobachtung noch zuständig?

Wenn Sie mich jetzt fragen: Na lieber Herr Baar, schildern Sie doch einmal was beim Erleben der Denktätigkeit, nicht eines einzelnen Begriffes, sondern eben der Tätigkeit erlebt werden kann, um den Unterschied zu charakterisieren, der Sie das Erleben an die äußerste Stelle Ihrer Intentionsreihe platzieren lässt!“ Das kann ich nicht, mir fehlt die eigene Anschauung. Aber eine abstrakte Vorstellung davon kann sich aus folgendem Zitat ergeben:

„…dass nur in der Betätigung des Denkens das „Ich“ bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß.“ (PhdFr, Kapitel 3, Zusatz). Das Erleben der Denktätigkeit ist gleichzeitig das Erleben des „Ich“. Wie das Denken aus dem toten, abstrakten, so wird auch das abstrakte, weil nur vorgestellte „Ich“ gleichzeitig (weil ein Wesen) gegenwärtig erweckt und erlebt.

Im vorigen Brief erwähnte ich den naiv-realistischen Aspekt im Bezug zum Denken. Wie sollte sich ein ernsthafter naiver Realist (ich gebe zu, das ist ein unglücklicher Ausdruck) sich des Denkens mit Sicherheit vergewissern. Zunächst zitiere ich Ihre Ratschläge:

„Wenn also ein Leser für sich das Stadium des intuitiven Denkens mit Sicherheit erreichen will, dann könnte er das exemplarisch zum Beispiel auf drei Wegen tun, die eng miteinander verwandt sind: Erstens könnte er sich einer ungewohnten Wahrnehmung aussetzen, etwa einer solchen, die er in einer Kükelhausausstellung machen kann, und sich fragen, was das jeweils ist, dem er sich da wahrnehmend aussetzt. Zweitens könnte er sich in irgend ein philosophisches Problem vertiefen und versuchen es zu lösen - beispielsweise in das Problem, was Kraft, Kausalität oder Güte ihrem Wesen nach sind und zu einem Begriff dieser Entitäten vorzustoßen. Drittens könnte er sich einmal mit der Frage befassen, wonach er sich beim Denken richtet und über die entsprechenden Erfahrungen seines Denkens nachdenken. Damit bekommt er nicht nur einen Einblick in die Natur des intuitiven Denkens, - letzteres ist auch der entscheidende Schritt zur Einsicht in die Freiheit des intuitiven Denkens.“

Die Wege eins und zwei ergeben wohl keine neue Sicherheit, da wir das geschilderte intuitive Denken in diesem Sinne schon können und praktisieren - ohne gewusst zu haben, das es so genannt wird. Der dritte Weg verspricht einen Einblick. Machen wir uns als „ernste, naive Realisten“ auf den Weg. Wonach ich mich beim Denken richte ist kann ich noch nicht fragen, ich mache erst folgende Beobachtung: Beim Denken über etwas tauchen verschiedene Gedanken auf. (Auftauchen, erscheinen, entstehen ist synonym gemeint). Ist das Aufgetauchte real und wirklich oder nur „ausgedacht“? Wo kommt es her? Wie geschieht Auftauchen? Um Sicherheit zu haben will ich das alles nicht bedenken, sondern eben wahrnehmen. Eine eventuelle Wissenschaft darüber aufzubauen soll warten bis genauere, sichere, tiefere Wahrnehmungen von mir gemacht werden. Von mir? Ja, nur dann ist Sicherheit. Es wird sich also darum handeln mich selbst als Wahrnehmenden zu entwickeln um qualitative Erfahrungen zu haben. Dann erst will ich das in beschreibende Begriffe bringen. Die Qualität meiner Wissenschaft hängt also von meiner Entwickelung als Wahrnehmender ab. Das meinte ich mit dem Aspekt des naiven Realisten im Bezug zum Denken. Er müsste eigentlich zum Ziele haben, das intuitive Denken gegenwärtig zu erleben.

Das im Gegensatz zu Ihrer Beschreibung, die eine Gegenwärtigkeit nicht anstrebt:

„Intuition ist nicht nur die Form, in der Begriffe und Ideen im allgemeinen wahrgenommen werden, sondern auch diejenige, in der das beobachtende Denken das Denken sieht. Da beobachtendes und beobachtetes Denken zwar zeitverschieden aber wesensgleich sind, ist es folglich diejenige Form, in der das Denken sich selber sieht.“

Mit freundlichen Grüssen,

Lutz Baar

4. Michael Muschalle an Lutz Baar (27.11.02) zurück

Lieber Herr Baar,

danke für Ihr Schreiben vom 26.11.02.

Ich möchte mich erst einmal nur zu einem einzelnen Aspekt meines letzten Briefes äußern.

Sie sagen am Schluß Ihrer Ausführungen: "Es wird sich also darum handeln mich selbst als Wahrnehmenden zu entwickeln um qualitative Erfahrungen zu haben. Dann erst will ich das in beschreibende Begriffe bringen. Die Qualität meiner Wissenschaft hängt also von meiner Entwickelung als Wahrnehmender ab. Das meinte ich mit dem Aspekt des naiven Realisten im Bezug zum Denken. Er müsste eigentlich zum Ziele haben, das intuitive Denken gegenwärtig zu erleben.

Das im Gegensatz zu Ihrer Beschreibung, die eine Gegenwärtigkeit nicht anstrebt:

"Intuition ist nicht nur die Form, in der Begriffe und Ideen im allgemeinen wahrgenommen werden, sondern auch diejenige, in der das beobachtende Denken das Denken sieht. Da beobachtendes und beobachtetes Denken zwar zeitverschieden aber wesensgleich sind, ist es folglich diejenige Form, in der das Denken sich selber sieht."

Es geht mir um die Wendung: "Das im Gegensatz zu Ihrer Beschreibung, die eine Gegenwärtigkeit nicht anstrebt. Vielleicht sehen Sie sich meinen Brief noch einmal an. Ich glaube nicht, daß sich aus dem dort Gesagten so etwas ableiten ließe. Auch nicht aus dem von Ihnen zitierten Text.

Herzlichst, Ihr

Michael Muschalle.

5. Lutz Baar an Michael Muschalle (27.11.02) zurück

Thema: Re: Erleben des Denkens

Datum: 27.11.02 12:00:48 (MEZ) Mitteleuropäische Zeit

Das werde ich machen, ich will Sie natürlich so verstehen, wie Sie es auch meinen. Ihre Bewertung von Kühlewinds Beitrag hat mich Ihre Einstellung zum Gegenwartsaspekt so zu verstehen lassen.

[Anmerkung MM: Bei der Bewertung Kühlewinds geht es um das Kapitel 6.4 meiner Internetarbeit "Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung" , die sich mit Kühlewind Schrift "Bewußtseinsstufen" befaßt.

Siehe http://www.studienzuranthroposophie.de/12AporieKap6.4.html]

6. Michael Muschalle an Lutz Baar (02.12.02) zurück

Lieber Herr Baar,

herzlichen Dank für Ihr Schreiben vom 26.11.02.

Ich möchte hier nur auf einen Teil Ihrer Fragen und Gesichtspunkte aus Ihrem 2. Brief eingehen und werde mich auf das beschränken, was mir besonders dringlich erscheint. Das Offengelassene können wir vielleicht später noch nachholen. Vorrangig aber scheint mir die Frage nach dem Verhältnis von Erleben und Erkennen des Denkens zu sein. Dazu werde ich noch einmal an das Thema "naiver Realismus des Denkens" aus dem ersten Brief anknüpfen.

Ich beginne mit Ihrer Bemerkung am Ende Ihres zweiten Briefes:

***"Das meinte ich mit dem Aspekt des naiven Realisten im Bezug zum Denken. Er müsste eigentlich zum Ziele haben, das intuitive Denken gegenwärtig zu erleben.

Das im Gegensatz zu Ihrer Beschreibung, die eine Gegenwärtigkeit nicht anstrebt:

"Intuition ist nicht nur die Form, in der Begriffe und Ideen im allgemeinen wahrgenommen werden, sondern auch diejenige, in der das beobachtende Denken das Denken sieht. Da beobachtendes und beobachtetes Denken zwar zeitverschieden aber wesensgleich sind, ist es folglich diejenige Form, in der das Denken sich selber sieht."***

Die Angelegenheit sollte eigentlich durch meine kurze Zwischennotiz vom 27.11.02 an Sie im Grundsatz geklärt sein. Die Beschreibung (als beobachtendes Erfassen) des Denkens kann nicht gleichzeitig mit dem beobachteten Denkvorgang stattfinden. Daraus aber abzuleiten, daß Gegenwärtigkeit des Denkerlebens bei mir erst gar nicht angestrebt werde (dahingehend verstehe ich Sie), scheint mir doch reichlich gewaltsam - ich wüßte auch nicht wie man gerade anhand meiner diesbezüglichen Arbeiten darauf kommen sollte. Vor allem nicht angesichts dessen was ich an Witzenmann bemängele. Mir dünkt das wie ein Kampf mit Windmühlenflügeln. Deswegen noch einmal zum naiven Realismus und der Aufgabe der beschreibenden Begriffe, die von einer naiv realistischen Wissenschaft zu bilden sind.

Gegenüber dem Denken kann man nach Steiner auf dem Standpunkt des naiven Realismus bleiben, weil man beim Denken Wirkendes und Bewirktes unmittelbar in einem Prozeß gegenwärtig hat, was sonst nirgends der Fall ist. Eine Wissenschaft auf der Ebene des naiven Realismus besteht darin, daß sie die Erfahrungsinhalte beschreibt, verbildlicht, bzw. sich von den Erfahrungsinhalten ein ideelles Gegenbild macht. Und das gilt eben auch von einer Wissenschaft des Denkens. Frage: Was sind für Bilder? - Nun, Sie können sich dazu an sämtliche sachhaltigen Aussagen Steiners über das Denken halten. Dann haben Sie einen exemplarischen Eindruck davon. Z. B. in der Philosophie der Freiheit, aber auch in allen anderen philosophischen Frühschriften.

Diese Beschreibungen des Denkens - ich nenne sie hier der Einfachheit halber einmal Anschauungsbegriffe - haben jetzt nicht etwa nur eine elitäre wissenschaftliche Funktion auf die man zwecks Wahrnehmung des Denkens im Prinzip auch verzichten könnte, deren Daseinsbestimmung aber überwiegend darin besteht in Büchern, Aufsätzen und Dokumenten zu schlummern. Sondern sie sind unmittelbar wahrnehmungswirksam, so daß man das Denken weder wahrnehmen noch wirklich erleben kann wenn man sie nicht hat. Und warum das so ist, darüber will ich in diesem Brief etwas sagen.

Ich möchte das, lieber Herr Baar, an einer Beobachtung von Ihnen selbst festmachen. Sie schreiben in Ihrem 2. Brief: ***"Wenn Sie mich jetzt fragen: Na lieber Herr Baar, schildern Sie doch einmal was beim Erleben der Denktätigkeit, nicht eines einzelnen Begriffes, sondern eben der Tätigkeit erlebt werden kann, um den Unterschied zu charakterisieren, der Sie das Erleben an die äußerste Stelle Ihrer Intentionsreihe platzieren lässt!" Das kann ich nicht, mir fehlt die eigene Anschauung." ***

Was Sie hier darstellen ist eine Beobachtung, die Sie anhand Ihrer Erfahrungen des Denkens gemacht haben. Und sie ist von beeindruckender Aufrichtigkeit. Aber mehr noch: Sie ist vor allem phänomenologisch und erkenntnistheoretisch bedeutsam. Denn was Sie da schildern ist charakteristisch für die "reine Erfahrung" des Denkens. Es ist vergleichbar mit der Lage, in der sich ein Blindgeborener befindet, der erfolgreich operiert wurde, und dem erst kürzlich die Augenverbände abgenommen wurden: Er steht angesichts dessen, was ihm jetzt visuell begegnet, ziemlich dumm und hilflos da. (Das ist nicht wertend, sondern psychologisch charakterisierend gemeint. Der Betreffende kann nämlich bei all dem ein sehr fähiger Kopf sein.) Sie können das gut nachlesen in einem bemerkenswerten Artikel, der kürzlich im Spiegel erschien (Vergl.: Der sehende Blinde, in, Der Spiegel, Nr. 47, 18.11.2002 S. 190 ff). 1

Der Augenoperierte hat - auf seine visuelle Wahrnehmung bezogen - nur "reine Erfahrungen", denen er völlig orientierungslos ausgeliefert ist. Er kann nichts, aber auch gar nichts von dem erkennen, was er jetzt sieht. Er weiß nicht was rund und eckig ist oder gerade und krumm. Nicht was hell und dunkel. Nicht was nah und fern, was rot und gelb und was geformt und ungeformt ist. Sieht seine eigene Frau nicht, mit der er 20 Jahre verheiratet war, und wenn sie einen Meter vor ihm stünde. Nur ein Kaleidoskop von unbestimmten Farbflecken. Der Augenoperierte sieht - und sieht doch nichts. Weil das, was er sieht, kein "Was" ist, sondern nur ein "Das". Um in Ihrer Ausdrucksweise zu bleiben: Er hat visuelle Erfahrungen, aber ihm fehlt die Anschauung. Viele operierte Blingeborene bleiben mehr oder weniger in diesem Stadium hängen, weil sie sich in der visuellen Welt nie mehr zurechtfinden. Das bringt der Titel des Artikels: "Der sehende Blinde" sehr spannungsreich zum Ausdruck: Sie sehen und bleiben trotzdem blind.

Gegenüber dem Denken sind die meisten Zeitgenossen, soweit sie nicht einschlägig philosophisch oder psychologisch vorgebildet sind, tatsächlich in der Lage eines kleinen Kindes, das zum ersten Mal in die Welt schaut, oder eines Blindgeborenen, dem die Augen geöffnet werden und der sehend wird. Das Prinzip dieses Augenöffnens und Sehend-Werdens schildert Steiner in groben Zügen im dritten und nachfolgenden Kapiteln der Philosophie der Freiheit. Aber auch in seinen übrigen erkenntnistheoretischen Schriften.

Sie müßten jetzt, um der "reinen Erfahrung" des Denkens idealtypisch nahezukomen, in Ihrer eigenen Illustration auch noch von Ihrem Vorwissen bezüglich dessen was Begriffe und Denken sind abstrahieren. Denn in der Regel hat der naive Mensch auch davon kaum eine eine Vorstellung. Er hat zwar Begriffe und kann denken, aber er weiß von beidem nicht was es ist. Was würde der Ihnen wohl antworten wenn Sie ihn fragen: "Wonach richtest du dich wenn du denkst?" Und in dieser Welt der reinen Erfahrung des Denkens wollen Sie sich jetzt orientieren. Wie machen Sie das?

Der Blindgeborene fängt an die neue Welt zu ordnen und nach Bezugspunkten zu suchen. Dazu muß er bemerken, vergleichen, unterscheiden und verbinden. Das heißt er muß vor allem zusätzlich zum reinen Sehen nachdenken, visuell ordnende Begriffe bilden und diese auf das Gesehene anwenden. Zum Beispiel: Was ist ähnlich? - Was ist gleich? - Was ist beständig? - Was ist flüchtig? - Was gehört zusammen und bildet eine Einheit? - Und was ist disparat und ein anderes Ding? - Was ist nur ein Sammelsurium? - In welchem Verhältnis steht das Gesehene zueinander? - Was kehrt immer wieder und was ist nur einmal oder selten da? - Was ist immer gemeinsam mit anderem da? - Was nur gelegentlich? - Wie verändert sich etwas wenn es sich bewegt, sich dreht, sich entfernt oder näher kommt? - Was ist Nähe oder Weite? - Wie schnell kommt etwas auf mich zu oder entfernt sich? - Wie weit ist es jeweils entfernt? - Wie schnell kann sich etwas verändern? - In welchem Verhältnis steht das Tempo seiner Veränderung zu Nähe oder Ferne von mir? - Wie viele Arten von Rundheit gibt es? - Wie viele von Eckigkeit, Krummheit oder Geradheit? - Was ist lang und kurz? - Was ein gerades Langes oder ein krummes Langes? - Ist das Lange nur ein nahes Kurzes, oder ist es ein weit entfertes besonders langes Langes? - Ist das Kleine vor mir ein weit entferntes Großes oder oder ein ganz nahes und sehr kleines Kleines? - Wann wird das Kleine groß und das Große klein? - Warum wird das Große immer kleiner? Entfernt es sich? Oder schrumpft es? - Wie verändert sich das Runde bei Drehung und wie das Eckige? - Wann wird das Gerade krumm und das Krumme gerade? - Was ist grün, was ist rot und was gelb? - Wieviele Arten von Grünheit gibt es? - Wann ist das Rote nicht mehr rot sondern violett, orange oder eher gelb? - Wann ist das Grüne schön? - Wann das Gelbe eklig? Und so weiter und so fort.

Diese Beispiele sind nicht willkürlich konstruiert, sondern so und noch weit vielfältiger läuft das tatsächlich ab. Der Blindgeborene muß seine visuelle Welt kategorial oder begrifflich ordnen, um sich darin zurechtzufinden. Dazu muß er beschreibende oder Anschauungsbegriffe bilden. Zum Beispiel den, daß ein Dreieck unendlich viele Variationen in der Anschauung annehmen kann und trotzdem ein Dreieck bleibt. Das ist übrigens etwas anderes als der mathematische Begriff des Dreiecks, der auch ohne Anschauung gebildet werden kann. Ein seit Geburt blinder Mathematiker könnte atemberaubende Dreiecksberechnungen vorlegen und doch - sehend geworden - in der anschaulichen Welt einen Ball für ein Dreieck halten.

Dieses Ordnen der visuellen Erscheinungen geschieht normalerweise in der frühen und frühesten Kindheit, deswegen wissen wir zumeist nichts mehr davon und wundern uns vielleicht warum das dem operierten Erwachsenen so schwer fällt. Er holt faktisch die Stufe der Kindheitsentwicklung hier als Erwachsener nach. Erst wenn er das erfolgreich absolviert hat, hat er nicht mehr nur visuelle Erfahrungen, sondern auch Anschauungen. Und die Begriffe mit denen er anschaut, sind im wesentlichen rein deskriptiver oder beschreibender Natur, die das ausdrücken oder zusammenfassen, was man sehen kann, als was man es sehen kann und wie man es sehen kann.

Auf der Ebene der reinen Erfahrung des Denkens findet ein ganz analoger Ordnungsvorgang statt. Auch hier werden Bezugspunkte gesucht, Vergleiche angestellt und Verbindungen geschaffen. Und das geschieht ebenfalls - wie bei der visuellen Wahrnehmung - durch beschreibende Begriffe. Ich muß mich zum Beispiel fragen: Was ist Denken und was gehört nicht dazu? Warum gehört es nicht dazu? Was ist charakteristisch für das Denken und was nicht? - Gibt es in der Erfahrung des Denkens so etwas wie Ähnlichkeit, Verwandtschaft oder Fremdheit? - Einsames und Gemeinschaftliches, Vielheit und Einheit? - Verbundenes und Getrenntes? - Geformtes und Ungeformtes? - Gibt es Bleibendes und Flüchtiges oder Vergehendes? - Aktives und Passives? - Teilbares und Unteilbares? - Elemetares und Zusammengesetztes? - Zeitliches und Nichtzeitliches? - Schnelles und Langsames? - Gibt es Großes oder Kleines, Nahes und Fernes, Zentrales oder Peripheres, Notwendiges, Wesentliches und Unwesentliches? - Gesetzmäßiges und Chaotisches? - Gibt es Stabiles oder Instabiles? - Gibt es Sprödes, Elegantes, Flüssiges oder Zähes? - Gibt es Warmes und Kaltes, Hartes oder Weiches? - Schärfe oder Stumpfheit? - Existiert vielleicht Empfindliches oder Robustes? - Existiert Gestaltetes und Ungestaltetes, Gegliedertes und Ungegliedertes? - Gibt es Gestaltbares oder Zerstörbares? - Gestaltendes und Zerstörendes, Aufbauendes und Abbauendes? - Reifes oder Unreifes? - Gibt es da so etwas wie Helles, Dunkles oder Trübes? - Wie stellt man Helligkeit beim Denken fest und wie Trübheit? - Wie erlebt man das? - Ist der Begriff der Glattheit glatt und der der Rauheit rauh? - Gibt es Aktives und Passives, Ruhendes und Bewegtes? - Harmonisches und Disharmonisches oder Kontroverses? - So etwas wie Spannung oder Ruhe?

Einige dieser beschreibenden Begriffe mögen dem Gegenstand inadaequat sein, viele andere sind brauchbar. Etliche schon seit langem Bestand der philosophischen Beschreibung des Denkens wie Notwendigkeit, Gesetzmäßigkeit, Wesentlichkeit, Irrelevanz, Trennen und Verbinden usf. Andere noch nicht und wieder andere werden wohl erst in Zukunft hinzukommen. Welche davon gut und richtig sind ergibt sich überhaupt erst aus der Erfahrung im Umgang mit ihnen und dem Denken. Zum Beispiel ob es im Denkerleben so etwas wie Wärme oder Kälte gibt bzw. Ruhe oder Spannung. Alles aber sind beschreibende Begriffe, in denen man Erfahrungen des Denkens im Prinzip ordnen könnte. Gesichtspunkte, mit deren Hilfe man die Erfahrungen des Denkens befragen kann, um sie überhaupt durchsichtig zu machen. Das heißt: Um das Denken erkennen zu können. Sonst habe ich eben auch hier - wie beim Blindgeborenen - nur Erfahrungen des Denkens, aber keine Anschauung. Auch beim Denken geht es einmal um sein "Das". Aber ebenso um sein "Was".

Steiner hatte es da in vieler Beziehung leichter als die philosophischen Laien unter seinen Lesern. Nicht nur weil er vielleicht besondere Fähigkeiten hatte, sondern vor allem weil er bei Abfassung seiner Philosophie der Freiheit auf den Schultern ein mehrtausendjährigen philosophischen Tradition stand, die im Laufe ihrer Geschichte natürlich schon zahlreiche ordnende und beschreibende Begriffe bezüglich des Denkens bzw der Bewußtseinsphänomene ausgebildet hatte, an die er anknüpft. Etwa: Vorstellung, Begriff, Denktätigkeit, Gedankeninhalt, Denkprozeß usw. Das alles sind ja schon beschreibende Begriffe, mit denen die Erfahrungen des Denkens - und allgemeiner: die Bewußtseinsphänomene - geordnet werden. Ohne ihre Hilfe und die der philosophischen Tradition hätte auch ein Steiner kaum einen Begriff des Denkens und noch viel weniger eine Methode seiner Beobachtung entwickeln können, wenn er quasi beim Stand Null hätte anfangen müssen. Denn wenn ich das Denken beobachten will, dann muß ich ja erst einmal wissen was Denken überhaupt ist und wie ich es sinnvollerweise von anderen Bewußtseinsphänomenen abgrenze, die kein Denken sind. Und dazu wiederum muß ich die erfahrenen Phänomene unter bestimmte ordnende Begriffe bringen. Muß erleben, bemerken, ordnen, sichten, vergleichen und klassifizieren - und vor allem: sehr sehr viele Fragen stellen. Mit diesem Problem kämpft jeder Laie, der sich in den Gegenstand Denken empirisch einarbeitet, aber bis heute auch noch Philosophie und Psychologie. Ich darf nur daran erinnern, daß viele Philosophen auch heute noch Denken mit Sprechen verwechseln und Begriffe mit Worten oder sprachlichen Gebilden. Und so mancher hält einen simplen Assoziationsprozess bereits für Denken.

Wenn mir Anschauungsbegriffe für das Denken oder das Bewußtsein schon zur Verfügung stehen, dann muß ich nicht mehr beim Nullpunkt anfangen, sondern kann mich an dem orientieren was schon an Beschreibungen durch die wissenschaftliche Tradition da ist. Diese Begriffe haben dann eine blicklenkende Funktion; wirken wie Landkarten des Bewußtseins und lassen mich etwas erkennen oder wiedererkennen, was andere schon vor mir gesehen und geordnet haben. Ohne Steiners Beschreibungen des intuitiven Denkens käme kein Anthroposoph auf die Idee bei sich selbst nach so etwas Ausschau zu halten. Und ähnlich wie Landkarten zu der Landschaft stehen, die sie repräsentieren, sind tradierte beschreibende Begriffe für das Bewußtsein oder das Denken natürlich unlebendig, schematisch und karg im Verhältnis zu dem, was sie ins Bild bringen sollen. - Eigentlich nur Landkarten im Holzschnittformat. 2

Bezüglich der Beschreibung und Klassifizierung des Denkens ist die Menschheit noch nicht über das Stadium eines Kleinkindes hinausgekommen, das seine ersten Erfahrungen in der visuellen Welt macht und noch immer Bälle mit Blumentöpfen verwechselt und nach dem Mond greift. Das liegt wesentlich mit daran, daß sich das Denken nicht derart handgreiflich erfassen läßt wie Bänke und Bäume, sondern eine ätherisch-flüchtige Angelegenheit ist, über die man sich nicht ganz leicht verständigen kann.

Wenn Sie jetzt, lieber Herr Baar, so verfahren wie von Ihnen weiter beschrieben: *** "Eine eventuelle Wissenschaft darüber aufzubauen soll warten bis genauere, sichere, tiefere Wahrnehmungen von mir gemacht werden. Von mir? Ja, nur dann ist Sicherheit. Es wird sich also darum handeln mich selbst als Wahrnehmenden zu entwickeln um qualitative Erfahrungen zu haben. Dann erst will ich das in beschreibende Begriffe bringen. Die Qualität meiner Wissenschaft hängt also von meiner Entwickelung als Wahrnehmender ab. Das meinte ich mit dem Aspekt des naiven Realisten im Bezug zum Denken. Er müsste eigentlich zum Ziele haben, das intuitive Denken gegenwärtig zu erleben." *** So gleicht das etwa dem operierten Blinden, der sich zwecks weiterer Perfektionierung der biologischen Grundlagen seines Sehens zusätzlicher Operationen unterzieht und Vitaminpräparate schluckt bis er die Sehschärfe eines Adlers hat, aber sich mit den visuellen Erfahrungen bis dahin nicht auseinandersetzen mag. - Er wird auch mit Adleraugen nichts sehen, weil das, was er sieht, von dem abhängt, was er über das Gesehene schon weiß. Wer nicht den Anschauungsbegriff des Ballartigen hat sieht keine Bälle und wem der des Baumartigen fehlt steht Bäumen so gut wie blind gegenüber - und wenn er noch so scharfe Augen hätte und sich obendrein mit einem Teleskop bewaffnen würde: er sieht nur Farbflecken oder farbige Flächen. Wer aber Bäume nicht sieht, kann auch Baumartiges nicht wirklich erleben. In gleicher Weise gilt: Wer nichts von Denkakten weiß sieht (mit dem inneren Blick) weder Denkakte noch ihre Eigentümlichkeiten, und wer nichts von Begriffen weiß sieht auch keine Begriffe. Letztlich aber erlebt er sie dann auch nicht, weil sie, unbekannt wie sie ihm sind, aus seinem Erlebnishorizont herausfallen - er mag sein Denken im übrigen so viel erleben wie er will, oder das, was er dafür hält.

Natürlich ist es vollkommen richtig sein Sehvermögen zu schärfen. Was Sie also mit der Entwicklung des Wahrnehmungsvermögens beabsichtigen ist für sich genommen nicht zu beanstanden. Nur übersehen Sie dabei, daß Ihre beschreibenden Begriffe auch zum Wahrnehmungsvermögen gehören und ausgebildet und ausdifferenziert werden müssen. Und daß, was Sie zunächst ausschließlich entwickeln möchten, nur ein halbes Wahrnehmungsvermögen ist - wie die Augen beim operierten Blindgeborenen. Sie sehen dann vielleicht, aber Sie haben keine Anschauung. Denn für ein "Das" ist das Erlebnisvermögen, für ein "Was" aber das Begriffsvermögen zuständig. Sie stehen dann vor Ihren Denkerlebnissen wie der scharfäugige Kunstbanause vor der Madonna mit dem Kinde: Er sieht nur die allergröbsten Banalitäten - aber die sehr genau. Eine eventuelle Wissenschaft darüber wird er niemals aufbauen, weil er gar keine relevanten Wahrnehmungen macht. Die Qualität ihrer Wissenschaft hängt also gewiß von Ihrer Entwickelung als Wahrnehmender ab. Aber die wiederum hängt von den Anschauungsbegriffen ab, die Sie zur Verfügung haben.

Das ist jetzt ein wenig karikierend gezeichnet und ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel. Tatsächlich verfahren Sie ja auch gar nicht in der extrem einseitigen Weise wie man es Ihrer eben zitierten Darstellung ablesen könnte. Denn was ich Ihren Ausführungen in den Sätzen davor entnehme geht ja faktisch in die Richtung Anschauungsbegriffe zu bilden und bedient sich auch schon solcher Begriffe. Vielleicht ist Ihnen das aber nicht recht klar. Sie sagen: *** "Machen wir uns als "ernste, naive Realisten" auf den Weg. Wonach ich mich beim Denken richte ist kann ich noch nicht fragen, ich mache erst folgende Beobachtung: Beim Denken über etwas tauchen verschiedene Gedanken auf. (Auftauchen, erscheinen, entstehen ist synonym gemeint). Ist das Aufgetauchte real und wirklich oder nur "ausgedacht"? Wo kommt es her? Wie geschieht Auftauchen? Um Sicherheit zu haben will ich das alles nicht bedenken, sondern eben wahrnehmen."***

Sie machen hier schon eine Reihe von Beschreibungen. Zum Beispiel wenn Sie von "Gedanken", "Auftauchen", "Entstehen", "Herkunft"; "Form des Auftauchens", "Realität des Aufgetauchten" sprechen. In Ihren Beschreibungen sind weiter enthalten Begriffe (nicht Worte) wie "Verschiedenheit", "Veränderung", "Ursache"; "Prozeß"; zeitliche Bestimmungen und so weiter. Sie haben demnach beim Denken etwas bemerkt und fangen an das Bemerkte zu ordnen, auf Begriffe zu bringen und weitere Fragen daran zu richten. Das sind alles schon sehr wichtige Fragen, wie sie dem Prinzip nach auch ein Blindgeborener stellen würde, wenn er seine neue visuelle Welt und ihre Phänomene übersichtlich machen will. Und jede ernstzunehmende Wissenschaft des Denkens würde im Prinzip eben so vorgehen. Nur sind ihr Fragehorizont und die Fragestellung etwas versierter und vielfältiger als die des Laien. Aber im Grundsatz tut sie nichts anderes als jeder vernünftige Laie auch täte, wenn er die Welt - ob die äußere oder die innere - gedanklich ordnen will.

Hätten Sie nicht den Begriff des Gedankenhaften, Gedankenhaftes wäre wohl da - aber nicht für Sie als Erlebenden. Und hätten Sie nicht den der Ursache, Ursachlichkeit wäre wohl da - aber nicht für Sie. Ebenso ist es mit "Auftauchen", "Herkunft", "Entstehen" und so weiter. All das wäre vorhanden, aber es würde nicht wahrgenommen. Man muß natürlich jetzt noch weiter fragen. Zum Beispiel: Ist das Aufgetauchte anschaulich oder unanschaulich? Wenn es anschaulich ist, in welche Form kleidet es sich? Wenn es unanschaulich ist, wie kann ich es dann überhaupt bemerken? Was ist mein Anteil an diesem Auftauchen? Woran stelle ich das fest? Wie stellt sich dieser Anteil erlebnismäßig dar? Habe ich Einfluß auf das Wie und Was des Auftauchens? Wie bemerke und erlebe ich das? Welchen Zugriff habe ich auf das Aufgetauchte? Wie komme ich von einem Aufgetauchten zum nächsten. Nach welchem Prinzip geschieht das? Ist es meinem Willen unterworfen oder nicht? Wenn ja, wie weit? Wenn nein, warum nicht? All diese Fragen stehen wieder im Zusammenhang mit neuen Erlebnissen, auf die ich zum Teil erst achten kann, wenn ich die entspechenden Fragen gestellt habe, sonst treten sie nicht in meinen inneren Wahrnehmungshorizont ein. Das ist sehr wichtig für die weitere Beobachtung des Denkens, denn man kann weitere "qualitative Erfahrungen" erst dann machen, wenn man Fragen an etwas stellt, was man schon kennt oder kennengelernt hat. So wie der operierte Blindgeborene auf der visuellen Ebene noch keine Fragen an und Äste, Rinde und Baumkronen stellen kann, wenn er noch nicht einmal weiß was Bäume in der anschaulichen Welt sind.

Man kann wie Sie sehen, und wie Sie es auch selbst vorführen, schon an ganz wenige und zunächst recht unscheinbare Erlebnisse eine große Zahl von Fragen stellen. Die Gegenstände, an die Sie Fragen stellen, sind erlebte Phänomene - es sind zunächst innere Wahrnehmungen. Diese sind ein "Das" der inneren Wahrnehmung. Und indem Sie an diese Wahrnehmungen Fragen richten und nach Antworten suchen, bilden Sie Begriffe aus und fragen nach ihrem "Was". Diese Begriffe sind zunächst natürlich nicht vollständig sondern noch sehr mangelhaft - irgendwie vollständig können sie auf dieser Stufe auch noch gar nicht sein. Aber indem Sie sie ausbilden kommen Sie zu neuen Fragen und: - zu neuen Wahrnehmungen, auf die Sie vorher nicht geachtet haben. Und zu neuen Antworten, die weitere Fragen und weitere Wahrnehmungen nach sich ziehen..

Was da geschieht ist im Prinzip derselbe Vorgang wie beim Blindgeborenen kurz nach Abnahme seiner Augenverbände, nur sind die Wahrnehmungsphänomene anders geartet. Und - was hier stattfindet ist ein Erkenntnisvorgang, in dem Sie Wahrnehmungen mit Begriffen zu durchtränken versuchen. Und jetzt denken Sie an Steiners Bemerkung im Kapitel "Die Konsequenzen des Monismus", 2. Zusatz 1918, S. 255 der Philosophie der Freiheit über das rein geistig erlebbare intuiti-ve Denken, "durch das eine jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt wird." - Sie sind schon mitten drin im intuitiven Denkerleben, indem Sie um Erkenntnis Ihrer Denkerlebnisse ringen. Indem Sie Fragen an die erlebten Denkerfahrungen richten und danach trachten diese inneren Wahrnehmungen zu erkennen, sie zu ordnen, sich eine Übersicht darüber zu verschaffen, ihr Woher und Warum, ihr Wie und Was zu klären, sie mit Begriffen zu durchtränken, stehen Sie im Erleben des intuitiven Denkens mitten drin. Und in dem Maße wie sich Ihre Einsicht über diesen intuitiven Denkvorgang erweitert kommen Sie zu einer immer gesättigteren Begrifflichkeit dieses Denkens - zu seiner immer vollständigeren Anschauung. So wie der Blindgeborene zu einer immer vollständigeren Anschauung der visuellen Welt kommt.

Das Denken erklärt sich selbst, indem es, sich erlebend, selbst beschreibt. Vielleicht denken Sie jetzt einmal an Steiners Zusatz von 1918 eingangs des Kapitels IX, "Die Idee der Freiheit", S. 145: "Wer das Denken beobachtet, lebt wäh-rend der Beobachtung unmittelbar in einem geistigen, sich selbst tragenden Wesensweben darinnen. Ja, man kann sagen, wer die Wesenheit des Geistigen in der Gestalt, in der sie sich dem Menschen zunächst darbietet, erfassen will, kann dies in dem auf sich selbst beruhenden Denken." Das Sich-Selbst-Tragen des Wesenswebens kommt aus dem Beobachten, nicht nur aus dem Erleben. Aber der Beobachter lebt während des Beobachtens in diesem Weben.

Darum noch einmal zum Schlußsatz Ihres eben zitierten Gedankenganges: "Um Sicherheit zu haben will ich das alles nicht bedenken, sondern eben wahrnehmen." Es müßte eigentlich klar sein, daß die von Ihnen gesuchte Sicherheit nicht allein nur aus dem Wahrnehmen der Innenerlebnisse fließen kann. Wie auch die neue Gabe des Sehens allein dem operierten Blindgeborenen nicht zur Sicherheit in der visuellen Welt verhilft. Im Gegenteil - bezogen auf die Gesamtwirklichkeit wird er zunächst unsicherer, weil ihn das blinde Sehen irritiert. Sicherheit kann auch nicht allein aus einem bloß abstrakten Denken über Wahrnehmungsphänomene kommen, die nur gedacht, aber nicht erlebt werden. Das bloße Sehen allein trägt nicht und das bloß abstrakte Denken allein trägt auch nicht. Sondern Sicherheit kann sich nur im Zusammenfluß beider ergeben, auch für die innere Welt. Im Wechselspiel von Wahrnehmen und Begreifen, die zueinander stehen wie Einatmen und Ausatmen, Systole und Diastole.

Die Sicherheit, die Sie beim Denken fürs erste haben können ist die, daß Sie im Denken etwas bewirken. Und daß Sie Wirkendes und das Bewirkte unmittelbar vor sich haben indem Sie es ausüben. Das erleben Sie unmittelbar und gegenwärtig - aber Sie erkennen es erst wenn Sie über das Erlebte nachdenken, Fragen daran richten und das Ganze auf einen Begriff bringen. Sie verbinden dann das Erlebte mit den Begriffen von Ursache und Wirkung oder Folge. Und darauf, daß man Denkerfahrungen nach den Gesichtspunkten von Wirkendem und Bewirktem ordnen kann, muß man überhaupt erst einmal kommen. Das wird uns nicht in den Schoß gelegt.

Um es noch einmal zusammenzufassen: Wer keine Anschauungsbegriffe für das Denken hat sieht nicht das Denken, sondern lediglich Phänomene, die auf seiner Bewußtseinsbühne auf- und abtauchen wie die Farbflecken vor dem operierten Blindgeborenen. Die Beschreibungen des Denkens haben keine elitäre wissenschaftliche Funktion auf die man zwecks Wahrnehmung des Denkens auch verzichten könnte, sondern sie sind unmittelbar wahrnehmungswirksam, indem sie den Blick auf Eigentümlichkeiten des Denkens lenken, die sich in der Erfahrung finden, die man aber erst zu sehen lernen muß, wie das Kind lernen muß Bäume zu sehen und nicht nur grüne Farbflächen. Sie charakterisieren gegenüber dem Denken sein "Was". Und erst wenn ich in der Lage bin meine reinen Denkerfahrung in derartige Begriffe zu fassen, bin ich imstande das Denken - sein "Was" - auch anzuschauen. Erst dann ist es beobachtet oder wahrgenommen. Darauf ist zu achten wenn man sich (Kap IV, S. 62) Steiners Klärung des Begriffs "Wahrnehmung" vor Augen hält: "... die Art, wie wir durch Beobachtung Kenntnis von unserem Denken erhalten, ist eine solche, daß wir auch das Denken in seinem ersten Auftreten für unser Bewußtsein Wahrnehmung nennen können." Solange man das Denken nicht in derartige Anschauungsbegriffe gebracht hat, ist es für das erkennende Bewußtsein quasi noch gar nicht vorhanden. So wie der Ball für den operierten Blindgeborenen nicht als Ball vorhanden ist sondern als Farbfleck, den er wohl sieht, aber nicht wirklich anschauen kann.

.Herzlichst, Ihr

Michael Muschalle

7. Lutz Baar an Michael Muschalle (11.12.02) zurück

Thema: Dritter Brief

Datum: 11.12.02 17:35:24 (MEZ) Mitteleuropäische Zeit

Lieber Herr Muschalle,

vielen Dank für Ihren ausführlichen Brief vom 2 Dezember 2002!

Halten wir uns an den „Realisten“ auf der Suche der Realität des Denkens. Sie schreiben:

„Gegenüber dem Denken kann man nach Steiner auf dem Standpunkt des naiven Realismus bleiben, weil man beim Denken Wirkendes und Bewirktes unmittelbar in einem Prozeß gegenwärtig hat, was sonst nirgends der Fall ist. Eine Wissenschaft auf der Ebene des naiven Realismus besteht darin, daß sie die Erfahrungsinhalte beschreibt, verbildlicht, bzw. sich von den Erfahrungsinhalten ein ideelles Gegenbild macht. Und das gilt eben auch von einer Wissenschaft des Denkens. Frage: Was sind für Bilder? - Nun, Sie können sich dazu an sämtliche sachhaltigen Aussagen Steiners über das Denken halten. Dann haben Sie einen exemplarischen Eindruck davon. Z. B. in der Philosophie der Freiheit, aber auch in allen anderen philosophischen Frühschriften.“

Das Denken hat also nach Ihren eigenen Aussagen den Charakter des Bildhaften, d h es ist nicht real, sondern nur Bild. Meine Erfahrungsinhalte werden in beschreibenden Begriffen verbildlicht – ich suche ein ideelles Gegenbild. Gut. Wenn wir nun in dieser Beschreibung der gleichen Meinung sind, möchte ich jetzt meine Frage wiederholen, wie komme ich aus dem nur Bildhaften zum Erleben der Realität des Denkens?

Sie schreiben:

•Wenn Sie jetzt, lieber Herr Baar, so verfahren wie von Ihnen weiter beschrieben: *** "Eine eventuelle Wissenschaft darüber aufzubauen soll warten bis genauere, sichere, tiefere Wahrnehmungen von mir gemacht werden. Von mir? Ja, nur dann ist Sicherheit. Es wird sich also darum handeln mich selbst als Wahrnehmenden zu entwickeln um qualitative Erfahrungen zu haben. Dann erst will ich das in beschreibende Begriffe bringen. Die Qualität meiner Wissenschaft hängt also von meiner Entwickelung als Wahrnehmender ab. Das meinte ich mit dem Aspekt des naiven Realisten im Bezug zum Denken. Er müsste eigentlich zum Ziele haben, das intuitive Denken gegenwärtig zu erleben." ***

So gleicht das etwa dem operierten Blinden, der sich zwecks weiterer Perfektionierung der biologischen Grundlagen seines Sehens zusätzlicher Operationen unterzieht und Vitaminpräparate schluckt bis er die Sehschärfe eines Adlers hat, aber sich mit den visuellen Erfahrungen bis dahin nicht auseinandersetzen mag. - Er wird auch mit Adleraugen nichts sehen, weil das, was er sieht, von dem abhängt, was er über das Gesehene schon weiß. Wer nicht den Anschauungsbegriff des Ballartigen hat sieht keine Bälle und wem der des Baumartigen fehlt steht Bäumen so gut wie blind gegenüber - und wenn er noch so scharfe Augen hätte und sich obendrein mit einem Teleskop bewaffnen würde: er sieht nur Farbflecken oder farbige Flächen. Wer aber Bäume nicht sieht, kann auch Baumartiges nicht wirklich erleben. In gleicher Weise gilt: Wer nichts von Denkakten weiß sieht (mit dem inneren Blick) weder Denkakte noch ihre Eigentümlichkeiten, und wer nichts von Begriffen weiß sieht auch keine Begriffe. Letztlich aber erlebt er sie dann auch nicht, weil sie, unbekannt wie sie ihm sind, aus seinem Erlebnishorizont herausfallen - er mag sein Denken im übrigen so viel erleben wie er will, oder das, was er dafür hält.“

Die neuen Adleraugen kommen ja nur in Betracht, wenn ich eine Aufteilung dem Denken gegenüber in Wahrnehmungsteil und Begriffsteil vornehme. Als „ernsthafter naiver Realist“ gegenüber dem Denken erhoffe ich aber die ungeteilte Einheit der Teile erleben zu können. Welche neue Fähigkeit ist da vonnöten? Nun, Sie schreiben es ja selbst weiter unten in Ihrem Text:

„Das Denken erklärt sich selbst, indem es, sich erlebend, selbst beschreibt. Vielleicht denken Sie jetzt einmal an Steiners Zusatz von 1918 eingangs des Kapitels IX, "Die Idee der Freiheit", S. 145: "Wer das Denken beobachtet, lebt während der Beobachtung unmittelbar in einem geistigen, sich selbst tragenden Wesensweben darinnen. Ja, man kann sagen, wer die Wesenheit des Geistigen in der Gestalt, in der sie sich dem Menschen zunächst darbietet, erfassen will, kann dies in dem auf sich selbst beruhenden Denken." Das Sich-Selbst-Tragen des Wesenswebens kommt aus dem Beobachten, nicht nur aus dem Erleben. Aber der Beobachter lebt während des Beobachtens in diesem Weben.“

Da scheint es ja ein „Wesensweben“ zu geben, das über die Bildhaftigkeit hinausgeht zu einem Realen. Meiner Meinung nach hindert Sie der mitgebrachte Begriff der Denkbeobachtung von Kapitel 3 zu sehen, dass bei dieser Beobachtung das Erleben eingeschlossen ist.

Dazu möchte ich folgende Zitate bringen:

„Wir haben in dem Denken, durch dessen Eigentümlichkeiten wir durchgehen mit unserer modernen philosophischen und wissenschaftlichen Entwicklung, keine Realität, - wir haben bloßes Bild einer Realität.“

„Um der Entwicklung der Freiheit willen musste die moderne Menschheit sich zu diesem irrealen bildhaften Denken erheben. Aber man kann bei ihm nicht bleiben, wenn man ein Vollmensch ist, wenn man die Realität in allem menschlichen Wesen fühlt. Denn man muss den Widerspruch fühlen zwischen dem, was da drängt und lebt und webt in dem menschlichen Wesen, und dem, was vor dem Bewusstsein steht als bloßer Umkreis von irrealen Bildern. Wir haben es nicht bloß mit einem logisch formalen Problem zu tun, wir haben es mit einem realen Problem zu tun, - mit einem realen Problem, das sich dadurch ergeben hat, dass der Mensch allmählich sein Denken, sein Vorstellen herausgezogen hat aus der äußeren Wirklichkeit.“

„Wenn der Mensch mit seinem Denken aus dem Bildcharakter herausgeht und hineintritt in die eigene Realität, dann muss er allerdings durch die Übungen der Geisteswissenschaft die Möglichkeit in seine inneren Fähigkeiten aufnehmen, sich in diesem Selbsterleben der Begriffswelt umzutun, wie sonst im mathematischen Denken. Er muss die Fähigkeit erwerben, die Wirklichkeit in diesem Selbstleben selbständig zu erfassen.“

Diese Zitate können Sie, lieber Herr Muschalle, entweder als eine Bestätigung Ihrer Arbeit auffassen oder, wie von mir erhofft, als Anstoß für eine Erweiterung Ihrer Arbeit betrachten. In jedem Falle begrüße ich Ihre Arbeit und kann Ihnen versichern, dass sie mir, wie auch Ihre Briefe, weitergeholfen haben.

Mit freundlichen Grüssen,

Ihr Lutz Baar

Göteborg, 11 Dezember 2002

8. Michael Muschalle an Lutz Baar (11.12.02) zurück

Thema: Veröffentlichung des Briefwechsels

Datum: 11.12.02 19:00:26 (MEZ) Mitteleuropäische Zeit

Lieber Herr Baar,

danke für Ihre letzte Nachricht vom 11.12.02.

Ich würde gern den kurzen Briefwechsel zwischen uns beiden auf meiner Webseite einem größeren Publikum zugänglich machen. Ich glaube nämlich daß er von allgemeinem Interesse ist und die behandelten Fragen von vielen anderen auch gestellt werden.

Wären Sie damit einverstanden?

Herzlichst, Ihr

Michael Muschalle

9. Lutz Baar an Michael Muschalle (11.12.02) zurück

Thema: Re: Veröffentlichung des Briefwechsels

Datum: 11.12.02 22:33:10 (MEZ) Mitteleuropäische Zeit

Selbstverständlich! Ich mache das dann auch meinerseits.

Lutz Baar


Anmerkungen:

Die folgenden Anmerkungen waren im ursprünglichen Briefwechsel nicht enthalten. Ich füge sie hier ein, um dem Leser die Orientierung zu erleichtern und ihm den einen oder anderen Hinweis zum Verständnis verschiedener Textstellen bei Steiner zu geben.

1  Der im Spiegelartikel dargestellte Sachverhalt ist im Prinzip schon lange bekannt. Steiner selbst erwähnt in der Philosophie der Freiheit (GA-4, 1978) im Kapitel IV, S. 63, andeutungsweise den Fall eines operierten Blindgeborenen, der davon berichtete, wie er sich von seiner Tastwahrnehmung ein ganz anderes Bild von der Größe der Gegenstände gemacht habe.

2  Auf die abstrakte Kargheit dieser Beschreibungen oder "Gegenbilder" deutet Steiner in einem Zusatz von 1918 am Ende von Kapitel VIII auf S. 142 f der Philosophie der Freiheit hin, wenn er dort schreibt:

"Die Schwierigkeit, das Denken in seinem Wesen beobachtend zu erfassen, liegt darin, daß dieses Wesen der betrachtenden Seele nur allzu leicht schon entschlüpft ist, wenn diese es in die Richtung ihrer Aufmerksamkeit bringen will. Dann bleibt ihr nur das tote Abstrakte, die Leichname des lebendigen Denkens. Sieht man nur auf dieses Abstrakte, so wird man leicht ihm gegenüber sich gedrängt finden, in das «lebensvolle» Element der Gefühlsmystik, oder auch der Willensmetaphysik einzutreten. Man wird es absonderlich finden, wenn jemand in «bloßen Gedanken» das Wesen der Wirklichkeit ergreifen will. Aber wer sich dazu bringt, das Leben im Denken wahrhaft zu haben, der gelangt zur Einsicht, daß dem inneren Reichtum und der in sich ruhenden, aber zugleich in sich bewegten Erfahrung innerhalb dieses Lebens das Weben in bloßen Gefühlen oder das Anschauen des Willenselementes nicht einmal verglichen werden kann, geschweige denn, daß diese über jenes gesetzt werden dürften. Gerade von diesem Reichtum, von dieser inneren Fülle des Erlebens rührt es her, daß sein Gegenbild in der gewöhnlichen Seeleneinstellung tot, abstrakt aussieht."

Unter Gegenbildern des Denkens versteht Steiner Beschreibungen des Denkens. Siehe dazu auch Michael Muschalle an Lutz Baar (20.11.02)


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