Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Anthroposophie und wissenschaftliche Selbstbeobachtung

(Stand 12.07.01)

Kapitel 2

Kritik an der Nachahmung der naturwissenschaftlichen Methode bei Volkelt und Köhler

Es lohnt sich, vor diesem Hintergrund einen paradigmatischen Vorschlag zu betrachten, den Johannes Volkelt zur Beobachtungsproblematik beibringt. Volkelt war vor allen Dingen über die Neigung vieler Zeitgenossen befremdet, die naturwissenschaftliche Methode "in Bausch und Bogen...auf die Gebiete des geistigen Lebens zu übertragen",17 anstatt spezifische, dem psychologischen Gegenstand adaptierte Vorgehensweisen zu entwickeln. Zwar bestreitet Volkelt nicht die von Wundt und Brentano hervorgehobenen fundamentalen Schwierigkeiten der inneren Selbstbeobachtung; er hält sie aber auf eine Weise für lösbar, die etwas qualitativ Neues bietet: Wenn wir Gefahr laufen, mit unserer Beobachtungsabsicht die anvisierten seelischen Erscheinungen zu verstellen, so Volkelt, dann müssen wir den Beobachter in den Stand setzen, die beobachtungs- und erkenntnishemmende Wirkung der Beobachtungsabsicht zu neutralisieren.

Er schlägt dazu ein Verfahren vor, das er die "unwillkürliche Selbstbeobachtung" nennt. Erreicht wird dies durch ein systematisches Training folgender Art: "Zunächst muß der Vorsatz, genaue Selbstbeobachtungen anzustellen, mit dem Nebengedanken gefaßt werden, daß dies so oft als möglich zur Ausübung kommen solle. Geschieht das Fassen dieses Vorsatzes je nach Bedürfnis von Zeit zu Zeit, und gesellt sich eine oftmalige Wiederholung von vorsätzlich ausgeübten Selbstbeobachtungen hinzu ...so wird unser Bewußtseinsleben sich derart verschärfen, daß die von dem Anstoß gebenden Vorsatze ein für allemal ins Auge gefaßten seelischen Vorgänge, ...,unwillkürlich von Fall zu Fall von soviel Aufmerksamkeit begleitet werden, daß wir sie nicht bloß einfach haben, sondern auch von ihnen genau wissen. Die Selbstbeobachtung läuft hier also darauf hinaus, daß wir, indem dieses oder jenes in unserem Bewußtsein vorgeht, zugleich unwillkürlich mit unsrer unterscheiden und fixieren wollenden Aufmerksamkeit sozusagen darüber schweben und so mit dem Haben der Bewußtseinsvorgänge zugleich ein bestimmtes Auffassen derselben vor sich geht."18

Das Neue und Paradigmatische am Volkeltschen Vorschlag ist die gegenüber Wundt veränderte Zielrichtung - nicht Verzicht auf Beobachtung sondern qualitative Steigerung der Beobachterfähigkeiten. Da der Psychologe um die Auswirkung einer im Vordergrund stehenden Beobachtungsabsicht weiß, geht er daran, diese Auswirkung durch eine systematisch eingeübte dispositionelle Veränderung des Beobachters zu paralysieren. Dieser muß sich sein Instrumentarium, die eigenen Seelenfähigkeiten, überhaupt erst zubereiten, um beobachten zu können.

Die Gefahr einer übereilten methodologischen Anlehnung an die Naturwissenschaften war in der Psychologie groß. Auf diesen Tatbestand macht Wolfgang Köhler 1933 aufmerksam, zu einer Zeit, als die "Psychologie der Selbstbeobachtung" ihren Zenit schon überschritten hatte. Gegen die rigideste Form von Naturwissenschaftsorientierung, den amerikanischen Behaviourismus gewendet, greift Köhler die Beziehung der Psychologie zum übermächtigen Vorbild kritisch auf. "Wenn wir die Naturwissenschaften nachahmen wollen", schreibt er, "dann dürfen wir uns nicht ihre gegenwärtige hochentwickelte Spätform zum Muster nehmen; statt dessen können wir versuchen, ihr historisch bekanntes Jugendverhalten nachzuahmen, zu dessen Zeit ihr Entwicklungsniveau ungefähr dem der Psychologie in der Gegenwart entsprechen mochte. Andernfalls würden wir uns wirklich wie Kinder benehmen, welche die imponierende Art von Erwachsenen zu kopieren suchen, ohne deren Kern zu verstehen...".19

Ein solches "Jugendverhalten nachahmen" heißt für Köhler: zunächst einmal qualitative Untersuchungen vornehmen um festzustellen, was an psychologischen Erscheinungen überhaupt vorhanden ist. Und weiter: Methodologien entwickeln, die ihrem Gegenstand und der Fragestellung adaptiert sind, denn: "In der Regel ist eine Methode nicht an sich gut oder schlecht. Sie ist gut, wenn sie sich den wesentlichen Zügen unserer Probleme anpaßt; und sie ist schlecht, wenn sie auf diese Eigenbeschaffenheit des Gegenstandes keine Rücksicht nimmt oder sonst die Forschung in die Irre führt. Was also in einer Wissenschaft und für manche Probleme als ausgezeichnetes Verfahren gelten darf, kann in einer anderen Wissenschaft und für andere Probleme vollkommen nutzlos oder geradezu ein Hindernis werden."20

Man braucht nicht einmal wie Köhler auf so spektakuläre Erscheinungen wie den Behaviourismus zurückgreifen, der alles Seelische auf eine black box reduzierte hatte, die man auf das theoretische Gerüst von stimulus und response spannte. Auch die Wundtschen Ansichten lebten zum großen Teil vom Geiste der Meßbarkeit,21 und die restriktive Fassung des psychologischen Beobachtungsbegriffs durch Wundt und Brentano zeigt eine unübersehbare Affinität zu naturwissenschaftlichen Verfahren. Da eine ausdifferenzierte psychologische Methode nicht vorhanden war, lehnte man sich zunächst an das an, was dort vorrätig war. Für Wilhelm Wundt galt dies in besonderer Weise.

Für Johannes Volkelt konnte es dem gegenüber nicht darum gehen, einen der Naturwissenschaft entlehnten Beobachtungsbegriff mit all seinen wissenschaftspraktischen Implikationen unbesehen auf die Selbstbeobachtung zu übertragen, sondern ein solcher Begriff mußte ihm für die psychologische Methodologie überhaupt erst eruiert werden. Die Psychologie der Selbstbeobachtung bis zu den 30er Jahren hat in gewissem Sinne den Volkeltsche Ansatz, Veränderung des Beobachters, durch ihre Praxis bestätigt. Es zeigte sich, daß bei den meisten Fragestellungen aus den verschiedensten Gründen heraus eine spezielle Schulung oder Vorbereitung des Beobachters unverzichtbar ist.

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