Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung

(Stand 12.07.01)

Kapitel 6.1

Lorenzo Ravagli

Infolgedessen ist auch der von Lorenzo Ravagli im Jahrbuch 97 vorgeschlagene Weg zur Auflösung der Steinerschen Beobachtungsaporie in meinen Augen nicht begehbar. Obwohl das Verhältnis des anthroposophischen Schulungsweges zur Steinerschen Philosophie durch Ravaglis Darstellungen in diesem Jahrbuch eine erfreuliche Aufhellung erfahren hat, zeigen doch seine Ausführungen über die Beobachtungsaporie und Steiners Begriff der Denk-Beobachtung, daß das Wesen dieser Beobachtung und damit auch das "Erfassen der Wesenheit des Geistigen" seinem philosophischen Verständnis nach wie vor verschlossen sind.

"Um den Denkwillen zu erleben ist nicht erforderlich, daß das Ich seinem eigenen Denkwillen äußerlich beobachtend gegenübertritt. Dies ist gemäß dem dritten Kapitel der »Philosophie der Freiheit« gar nicht möglich." schreibt Ravagli. 35 Dem ist selbstverständlich zuzustimmen. Daß es hier nicht um die Unterscheidung zwischen externer und interner, oder besser gesagt: mittelbarer und unmittelbarer Beobachtung geht, dürfte außerhalb jedes Zweifels stehen. Ich meine dieser Sachverhalt ist so klar und eindeutig von Steiner dargelegt, daß man sich darüber sicher kaum noch ernsthaft auseinanderzusetzen braucht. Ravagli schreibt weiter: "An die Stelle der externen Beobachtung tritt vielmehr die Selbsterinnerung der eigenen Denktätigkeit, durch die das Ich dieser seiner Tätigkeit unmittelbar gewahr wird. Diese Selbsterinnerung ist mit einer unmittelbaren und intimen Erkenntnis verbunden, die nicht auf dem äußerlichen Gegenüberstehen, sondern auf dem Eins-Sein mit einem Gesetz beruht, das vom Ich verwirklicht wird. Indem das Ich das Gesetz des Denkens verwirklicht, vereinigt es sich mit dem Gesetz und weiß zugleich, daß es das Tätige ist. Das Wissen ist ein unmittelbares, intuitives Wissen, also ein Erleben. Dieses unmittelbare Wissen begründet das auf Selbsterinnerung beruhende Bewußtsein der Denktätigkeit. Man kann dieses Selbstinnesein des Ich in der Denktätigkeit als eine Form der Beobachtung bezeichnen. Es ist - im Gegensatz zur externen Beobachtung, die auf dem Gegenüberstehen beruht - eine intuitive Beobachtung, die auf dem Eins-Sein beruht. Durch die Unterscheidung der äußeren Beobachtung vom unmittelbaren Innesein kann die Aporie der Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens aufgelöst werden, die sich aus der Lektüre des dritten Kapitels der »Philosophie der Freiheit« ergibt."

Man kann vielleicht aus dem einen oder anderen Gesichtspunkt heraus, wie Ravagli sagt, "dieses Selbstinnesein des Ich in der Denktätigkeit" als eine Form der Beobachtung bezeichnen", aber die entscheidende Frage ist doch, ob man damit auch den Beobachtungsbegriff getroffen hat, den Steiner in diesem Kontext auf das Denken anwendet. Und das, so meine ich, ist nicht der Fall. Dieses "Selbstinnesein des Ich in der Denktätigkeit" ist im Steinerschen Sinne keine Form der Beobachtung, wie Ravagli schreibt, sondern es ist das Kennzeichen der unmittelbaren Denk-Erfahrung oder seines Erlebens, die aber nicht gleichzusetzen ist mit der Beobachtung des Denkens.

Greifen wir als erstes den von Ravagli thematisierten Erinnerungsaspekt auf. Ravagli schreibt: "An die Stelle der externen Beobachtung tritt vielmehr die Selbsterinnerung der eigenen Denktätigkeit, durch die das Ich dieser seiner Tätigkeit unmittelbar gewahr wird." Was zunächst die Rolle der Erinnerung anbelangt, so ist zu sagen, daß das »Ich« seiner Tätigkeit nicht durch Selbsterinnerung "unmittelbar gewahr" wird, sondern es ist sich dieser Tätigkeit, während es sie ausübt, unmittelbar bewußt. Das unmittelbare Bewußtsein der Denktätigkeit "beruht" also nicht auf "Selbsterinnerung". Die Erinnerung ist für das unmittelbare Tätigkeitsbewußtsein bei Steiner ohne Belang - diese Funktion wird ihr nur in der Verständnisart Herbert Witzenmanns unberechtigterweise beigelegt (siehe unten), wobei ich damit nicht erklären will, daß Ravagli sich hier zwangsläufig auf die Lesart Witzenmanns bezieht. Das könnte sein, aber es muß nicht sein. Es führt aber Ravaglis Gedankengang, falls er so zu verstehen ist, zumindest auf dieselbe oder eine ähnliche erinnerungstheoretische Abhängigkeit der Steinerschen Erkenntnistheorie, die sie bei Witzenmann explizit angenommen hat.

Lorenzo Ravagli hat diesen Punkt in der Zwischenzeit klargestellt: Der Ausdruck "Erinnerung" ist im Kontext seiner Darstellung metaphorisch gemeint im Sinner einer Aufhebung der Selbstvergessenheit des Denkens vor der Herstellung des Ausnahmezustandes. Es bedeutet ihm nicht die Unerfahrbarkeit des aktuellen Denkens, sondern die Selbstvergessenheit des Denkens während seiner eigenen Tätigkeit. Diese Präzisierung Ravaglis scheint mir für das Verständnis seiner Ausführungen wichtig, deswegen führe ich sie hier eigens an. Denn wenn Steiner in "Wahrheit und Wissenschaft (GA-3, 1980, S. 59) sagt: "Wir müssen uns vollständig klar darüber sein, daß wir dieses Hervorbringen [von reinen Begriffen und Ideen, MM] in aller Unmittelbarkeit wieder gegeben haben müssen. Es dürfen nicht etwa Schlußfolgerungen nötig sein, um dasselbe zu erkennen.", dann sind damit auch erinnerungstheoretische Schlußfolgerungen unzulässig. Und wenn er im Zusatz von 1918 (GA-4, S. 54) ausführt: "...daß nur in der Betätigung des Denkens das «Ich» bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß", dann dürfte er sich auch hier kaum auf die Erinnerung stützen, sondern auf das unmittelbare Bewußtsein der aktuellen Denktätigkeit. Die Erinnerung ist lediglich von Relevanz für die Beobachtung des Denkens, obwohl Steiner auch dort nicht explizit von "Erinnerung" spricht sondern von den "Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozeß gemacht habe" (GA-4, S.43). Aber man kann hier sicherlich mit einigem Recht, ohne die Gefahr der Sinnentstellung, auf den Erinnerungsbegriff rekurrieren. Also: das "Innesein des Ich in der Denktätigkeit" oder das "Bewußtsein der Denktätigkeit" ist für Steiner keine Folge von "Selbsterinnerung", sondern gegenwärtiger Inhalt eines unmittelbaren Tätigkeitsbewußtseins. Diese gegenwärtige Tätigkeit wird nicht »erinnert« sondern ist aktuell bewußt. Die Erinnerung spielt erst eine Rolle bei der gegenüberstellenden Beobachtung des Denkens insofern, als sich das beobachtende Denken seiner vergangenen (und nunmehr erinnerten) Tätigkeit betrachtend gegenüberstellt.

Innerhalb dieser unmittelbaren (und nicht erinnerten) Denk-Erfahrung - dem "Innesein in der Denktätigkeit" - so läßt sich mit Ravagli sagen, haben wir so etwas wie eine intime Erkenntnis. Aber, und hier ist Einspruch anzumelden, dabei handelt es sich nicht ohne Umschweife um eine Erkenntnis des Denkens, sondern zunächst um eine solche der gedanklichen Inhalte, mit denen das Denken umgeht. Die Denktätigkeit entspricht dem Hervorbringen oder Realisieren von gedanklichen Inhalten, und im Zuge dieser denktätigen Realisierung werden uns diese Inhalte bewußt - was sich auch als Erkenntnis bezeichnen läßt, weil hier begriffliche Zusammenhänge verwirklicht bzw. Urteile vollzogen werden. Zumal, wenn es dabei nicht nur um bekannte Sachzusammenhänge geht, sondern wenn neue begriffliche Bezüge hergestellt werden, was ja häufig genug geschieht. Diese Bewußtwerdung oder Erkenntnis der gedanklichen Inhalte im Rahmen ihrer Realisierung ist aber nicht per se eine Erkenntnis des Denkens. Was hier in bezug auf das Denken stattfindet, ist lediglich seine »Erfahrung«, wobei noch offen ist, ob uns diese Erfahrung als »Erfahrung des Denkens« überhaupt jeweils bewußt ist, das ist: ob wir sie mit einer spezifischen Aufmerksamkeit in dieser Richtung begleiten. Das muß nämlich nicht zwangsläufig beim Denken der Fall sein. Wir können - etwas anders formuliert - die Denktätigkeit ohne weiteres »erfahren« ohne uns zugleich darüber im Klaren zu sein, daß es die »Denktätigkeit« ist, die wir erfahren, weil wir im Augenblick kein spezifisches Interesse an ihr selbst haben, sondern an den Inhalten des Denkens. Die Erfahrung des Denkens läuft dann mehr am Rande unserer Aufmerksamkeit dahin im Sinne der "Selbstvergessenheit" des Denkens wie Steiner sagt.

Wenn wir vorerst nur auf der Ebene der begrifflichen Vollzüge verweilen und damit auf der Ebene der rein begrifflichen Erkenntnis, dann könnten wir von einer Erkenntnis des Denkens in diesem Rahmen nur reden, wenn wir einen vorhandenen Denk-Begriff zum Gegenstand der Reflexion machten. Wir hätten es dann mit einer Begriffserkenntnis des Denkens zu tun, die man, weil und solange sie sich allein auf der Ebene des rein begrifflichen Durchdenkens eines Denk-Begriffes bewegt, eine begrifflich-logische nennen könnte. Und die Frage wäre, wieweit eine dergestalt begrifflich-logische Erkenntnis des Denkens überhaupt reichen kann, und wie sich diese Begriffserkenntnis zu unserer Erfahrung des Denkens verhält. Wie kommen wir überhaupt zu diesem Denk-Begriff? Und existiert neben einer ausschließlich begrifflich-logisch fundierten Erkenntnis des Denkens auch eine Erfahrungserkenntnis des Denkens? Und wie sähe diese aus? Damit im Zusammenhang steht auch meine Frage an Ravagli, was es mit »dem« Gesetz des Denkens auf sich hat. Ravagli schreibt: "Indem das Ich das Gesetz des Denkens verwirklicht, vereinigt es sich mit dem Gesetz und weiß zugleich, daß es das Tätige ist." Aber was ist »das« Gesetz des Denkens? Gibt es davon nur eines oder mehrere, oder existiert eines in verschiedenen Spielarten, wie etwa das Gravitationsgesetz in den verschiedensten Variationen vorkommt, die auf den ersten Blick hinsichtlich ihrer inneren Verwandtschaft für den Nicht-Fachmann kaum zu durchschauen sind. Immerhin kennen wir "logische" Gesetze des Denkens, vielleicht auch "psychologische" oder "erkenntnistheoretische". Daneben mag es noch "Tätigkeitsgesetze" oder "Beobachtungsgesetze" und ein "Selbsterklärungsgesetz" des Denkens geben, neben dynamischen und morphologischen, und das ist vermutlich nur ein winziger Ausschnitt des Möglichen. Wie verhalten sich all diese Gesetze zueinander und zu »dem« Gesetz des Denkens respektive zu seinem Begriff. Und wie verhält sich das alles zu einer Wissenschaft des Denkens? Schließlich und endlich: wie verhält sich das oder verhalten sich die Gesetze, der Begriff und die Wissenschaft des Denkens zur »Wirklichkeit« des Denkens? Hier meine ich, gilt es der besonderen Qualität des Steinerschen Verständnisses von Denk-Beobachtung nachzuspüren.

Wenden wir uns dem Gesichtspunkt der »Gegenüberstellung« zu. Ravagli sagt: "Man kann dieses Selbstinnesein des Ich in der Denktätigkeit als eine Form der Beobachtung bezeichnen. Es ist - im Gegensatz zur externen Beobachtung, die auf dem Gegenüberstehen beruht - eine intuitive Beobachtung, die auf dem Eins-Sein beruht." Ravagli scheint hier darum bemüht, die Form der Gegenüberstellung bei der Beobachtung des Denkens aufzuheben. Dieses Verständnis steht nun ganz im Gegensatz zur Steinerschen Auffassung. Auch die Beobachtung des Denkens verlangt bei Steiner eine "Gegenüberstellung" - es liegt das ausschlaggebende Kennzeichen der »Beobachtung« des Denkens nicht im "Innesein des »Ich« in der Denktätigkeit", wie Ravagli meint. Wir sollten in diesem Zusammenhang folgendes nicht vergessen - wir können uns nach Steiners Auffassung auch einem fremden Denken gegenüberstellen. 36 Es ist zur direkten Denk-Beobachtung offenbar noch nicht einmal erforderlich, daß wir nur das eigene Denken betrachten: "Das Denken, das beobachtet werden soll, ist nie das dabei in Tätigkeit befindliche, sondern ein anderes. Ob ich zu diesem Zwecke meine Beobachtungen an meinem eigenen früheren Denken mache, oder ob ich den Gedankenprozeß einer anderen Person verfolge, oder endlich, ob ich, wie im obigen Falle mit der Bewegung der Billardkugeln, einen fingierten Gedankenprozeß voraussetze, darauf kommt es nicht an." 37

Zwar sind wir uns auch während der Beobachtung des eigenen Denkens unserer Tätigkeit unmittelbar bewußt, denn diese Beobachtung ist auch ein Denken, das entsprechend erfahren wird, aber der wesentliche Aspekt dieser »Beobachtung« liegt eben darin, daß sich das beobachtende Denken »betrachtend« auf etwas richtet, sich diesem gegenüberstellt, und dieses Etwas ist der Gegenstand der Beobachtung - nämlich das Denken. Dieses beobachtete Denken ist zwar qualitativ dasselbe wie die beobachtende Tätigkeit, die sich darauf richtet 38 , aber es liegt (beim eigenen Denken) zeitlich zurück - es ist das vergangene Denken. Die "Gegenüberstellung" ist somit eine conditio sine qua non der Denk-Beobachtung: "Zwei Dinge vertragen sich nicht: tätiges Hervorbringen und beschauliches Gegenüberstellen. Das weiß schon das erste Buch Moses. ... So ist es auch mit unserem Denken. Es muß erst da sein, wenn wir es beobachten wollen." 39

Es gibt, um zum letzten Punkt zu kommen, auch bei Steiner ein unmittelbares Wissen um das Denkgeschehen - ich vermute, daß sich Lorenzo Ravagli auf diese Form von Wissen im obigen Zitat bezieht, wenn er von "unmittelbarem, intuitivem Wissen" spricht und wenn er weiter sagt: "Man kann dieses Selbstinnesein des Ich in der Denktätigkeit als eine Form der Beobachtung bezeichnen". Bei Steiner indessen ist dieses "unmittelbare Wissen" kein Beobachtungswissen. Sein Vorhandensein schließt im Gegenteil die aktuelle Beobachtung aus: das unmittelbare Wissen steht in einem ursächlichen Nexus mit der Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens. Die Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens und das unmittelbare Wissen um das Denkgeschehen wurzeln nämlich in demselben Sachverhalt, das heißt sie haben denselben Grund, und der besteht nach Steiner in der Selbstgegebenheit des Denkens: "Der Grund, der es uns unmöglich macht, das Denken in seinem jeweilig gegenwärtigen Verlauf zu beobachten, ist der gleiche wie der, der es uns unmittelbarer und intimer erkennen läßt als jeden andern Prozeß der Welt. Eben weil wir es selbst hervorbringen, kennen wir das Charakteristische seines Verlaufs, die Art, wie sich das dabei in Betracht kommende Geschehen vollzieht. Was in den übrigen Beobachtungssphären nur auf mittelbare Weise gefunden werden kann: der sachlich-entsprechende Zusammenhang und das Verhältnis der einzelnen Gegenstände, das wissen wir beim Denken auf ganz unmittelbare Weise. Warum für meine Beobachtung der Donner auf den Blitz folgt, weiß ich nicht ohne weiteres; warum mein Denken den Begriff Donner mit dem des Blitzes verbindet, weiß ich unmittelbar aus den Inhalten der beiden Begriffe." 40

Wir haben danach beim Denken ein unmittelbares Wissen unserer Denktätigkeit und des Denkverlaufs, das zugleich ein unmittelbares Wissen von den wechselseitigen Verhältnissen der einzelnen Denk-Gegenstände, der gedanklichen Sachzusammenhänge ist - es ist ein unmittelbares Wissen um die begrifflichen Inhalte, mit denen das Denken umgeht und entsprechend der gedanklichen Wege, die dabei einzuschlagen sind. Aber dieses Wissen ist kein »Beobachtungswissen«, sondern ein »unmittelbares«. Und weil wir dieses unmittelbare Wissen haben, infolge der Selbstgegebung des Denkens, gerade deswegen ist die Beobachtung des aktuellen Denkens für Steiner ausgeschlossen. Die Bedingung der Möglichkeit des Verfügens über dieses unmittelbare Wissen ist zugleich die Bedingung der Unmöglichkeit einer Beobachtung des gegenwärtigen Denkens. Siehe hierzu auch Kapitel 9.1 dieser Arbeit.

Ende Kapitel 6.1             


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