Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


Ende   zurück   vorwärts    Inhalt     Anmerkung      Gesamtinhalt   Home

Michael Muschalle

Rudolf Steiners Begriff der Denk-Beobachtung

(Stand 12.07.01)

Kapitel 10

Denk-Erfahrung  als reine Erfahrung

Auf der Grundlage des bislang Dargestellten sollten wir uns jetzt den Basischarakter des Denkens für die empirische Wissenschaft noch einmal etwas näher anschauen. Wir stellten bereits wiederholt fest, daß die zwei von Steiner genannten Gründe für die Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens ihre Wurzeln in der Selbstgegebenheit des Denkens haben. Nur weil das Denken selbst von mir hervorgebracht wird, ist es während des Prozesses seiner Hervorbringung lediglich erfahrbar, aber nicht zu beobachten. Weil die unmittelbare Beobachtung des Denkens nur in einer denkenden Betrachtung der Denk-Erfahrung bestehen kann, verlangt sie entsprechend die Gegenüberstellung eines gegebenen Denkens und diese Gegenüberstellung ist aus den oben genannten zwei Gründen, die wir "Gegebenheitsbedingung der Beobachtung" und "Reflexionsbedingung der Denk-Beobachtung" genannt haben, während des aktuellen Denkens ausgeschlossen. Die Selbstgegebenheit des Denkens ist aber nicht nur der tiefere Anlaß seiner Unbeobachtbarkeit im Aktualzustand sondern gleichermaßen Ursache für den außerordentlichen Grad seiner Erkennbarkeit. Rudolf Steiner schreibt dazu im dritten Kapitel der "Philosophie der Freiheit": "Der Grund, der es uns unmöglich macht, das Denken in seinem jeweilig gegenwärtigen Verlauf zu beobachten, ist der gleiche wie der, der es uns unmittelbarer und intimer erkennen läßt als jeden andern Prozeß der Welt. Eben weil wir es selbst hervorbringen, kennen wir das Charakteristische seines Verlaufs, die Art, wie sich das dabei in Betracht kommende Geschehen vollzieht. Was in den übrigen Beobachtungssphären nur auf mittelbare Weise gefunden werden kann: der sachlich-entsprechende Zusammenhang und das Verhältnis der einzelnen Gegenstände, das wissen wir beim Denken auf ganz unmittelbare Weise. Warum für meine Beobachtung der Donner auf den Blitz folgt, weiß ich nicht ohne weiteres; warum mein Denken den Begriff Donner mit dem des Blitzes verbindet, weiß ich unmittelbar aus den Inhalten der beiden Begriffe. Es kommt natürlich gar nicht darauf an, ob ich die richtigen Begriffe von Blitz und Donner habe. Der Zusammenhang derer, die ich habe, ist mir klar, und zwar durch sie selbst." 109

Der Verlauf des Denkens wird direkt durch die begrifflichen Inhalte geregelt, die ich zur Erscheinung bringe und zwar unabhängig davon ob sich meine Blitztheorie auf Petrus oder elektrostatische Entladungen bezieht. Es geht in unserem Zusammenhang gar nicht um die Gültigkeit eines Begriffes auf dem empirischen Felde, sondern darum, inwieweit der Begriff den Denkverlauf regelt und hierzu ist einzig sein Inhalt und nicht seine empirische Gültigkeit maßgebend. Diese Begriffe sind über ihren Zusammenhang vollkommen durchsichtig, was von den empirischen Ereignissen, auf die sie sich beziehen mögen, nicht unbedingt der Fall sein muß, wie Steiner anmerkt, denn diese sind nur "mittelbar" über ihren Zusammenhang mit anderen Ereignissen zu durchschauen. Den begrifflichen Zusammenhang kennen wir aber unmittelbar aus den Inhalten der Begriffe und weil wir den Inhalt dieser Begriffe kennen, wissen wir auch unmittelbar, was wir zu tun haben, um vom Begriff des Blitzes zu dem des Donners zu kommen. Eben darum, weil wir im Denken die Begriffe selbst hervorbringen können wir das Denken intimer und unmittelbarer erkennen als jeden andere Prozeß der Welt

Wir sollten uns jetzt etwas klarmachen, was zwar selbstverständlich ist, aber auch leicht übersehen wird, und das ist für das Verständnis des Folgenden wichtig: wir brauchen, um vom Begriff des Blitzes zu dem des Donners zu kommen auch keinen Begriff vom Denken. Man kann - etwa als Ingenieur oder Künstler - die brilliantesten und produktivsten Gedankenverbindungen schlagen, ohne jemals dem Denken selbst auch nur einen Gedanken gewidmet zu zu haben, und von Goethe existiert ja das geflügelte Wort, daß er niemals über das Denken gedacht habe. Wir können das Denken jederzeit vollziehen, aber zu diesem Vollzug selbst benötigen wir keinen Begriff vom Wesen dieser vollziehenden Tätigkeit. Die Beziehung zwischen den Begriffen, die wir im Denken herstellen, ist unmittelbar klar, und zwar unabhängig davon, ob wir wissen was Denken ist oder nicht. Unsere Theorie des Denkens, falls wir über eine solche verfügen, ist für das, was sich faktisch im Denken ereignet, ganz unerheblich. Wenn Steiner sagt: "der sachlich-entsprechende Zusammenhang und das Verhältnis der einzelnen Gegenstände, das wissen wir beim Denken auf ganz unmittelbare Weise.", dann ist darin auch die Autonomie dieses Wissens gegenüber einer entsprechenden Theorie des Denkens ausgesprochen. Wir können diesen Gedankengang auch so wenden, daß wir sagen: wir haben eine unmittelbare Einsicht in das Verhältnis, in dem die einzelnen Denkgegenstände zueinander stehen, gleichwohl müssen wir uns das Wissen um diese unmittelbare Kenntnis erst aneignen, denn "... auch das Denken müssen wir erst durch Beobachtung kennenlernen.", wie es auf S. 39 der "Philosophie der Freiheit" heißt.

Wir müssen also unterscheiden zwischen der unmittelbar durchsichtigen Klarheit des Denkprozesses auf der einen Seite und unserem nicht mehr ganz so unmittelbaren Wissen um diese Durchschaubarkeit. Wir müssen diese zwei Fälle auseinanderhalten, ob jemand Begriffe hat und ihm der Inhalt dieser Begriffe klar ist, oder ob jemand einen Begriff vom Denken hat. Das Wissen um den Sachverhalt der unmittelbaren Durchschaubarkeit unserer Begriffe müssen wir uns erst aneignen und das gehört zu jenem Vorgang, den man bezeichnen kann als das Erwerben eines Begriffes vom Denken. Dazu müssen wir uns bewußt machen, wie wir bei den einzelnen Denkhandlungen vorgehen und warum wir es so tun und letzteres ist ein Resultat unserer Beobachtung des Denkens, ein Ergebnis seiner Beschreibung. Das Faktum des unmittelbaren Wissens um die begrifflichen Inhalte und deren Durchschaubarkeit wird damit Bestandteil einer beschreibenden Theorie des Denkens und die ist das Resultat der Wissenschaft des Denkens. Die Erkenntnis des Denkens besteht demnach darin, das Denken, genauer: die Erfahrungen des Denkens, denkend zu betrachten und es zu beschreiben. Und das ist durchaus etwas anderes als es bloß zu erfahren. Nur auf dem Wege einer denkenden Betrachtung  von Erfahrungen des Denkens - das ist:  Beobachtung des Denkens -  ist es möglich, etwas über das Denken selbst und seine Gebilde auszusagen. Dann, und nur dann vermag ich etwas über seine Leistungen für die Weltauffassung anzugeben. Und auch nur dann vermag ich etwas zu sagen Über einzelne Aspekte des Denkens - über Akt und Inhalt, Begriff, Vorstellung, Intuition, intuitives Denken, reines Denken und sinnlichkeitsfreies Denken, etwas über das Verhältnis von Denken, Fühlen und Wollen und was dergleichen Dinge mehr sind.  Die Beschreibungen des Denkens stellen damit eine besondere Wissensebene dar.

Wenn man dieses Wissen um das Wissen (mit einigem Vorbehalt) ein »zweites« oder »anderes« Wissen nennen will, so muß man dessen eingedenk sein, daß dieses zweite Wissen keine andere »Form« von Wissen ist, sondern lediglich ein spezieller Wissensinhalt, der im Prinzip auch auf keinem anderen Wege gewonnen wird, wie anderes Wissen. Es ist keine andere »Form« des Wissens, sondern eine andere »Ebene« des Wissens - eine »höhere Ebene« des Wissens als das unmittelbare Wissen. Es ist lediglich eine Wissenserweiterung auf die Eigenarten des Wissens und seiner Entstehung sich beziehend. Es entsteht durch gegenüberstellende Beobachtung der Wissensbildung und besteht in einer Beschreibung dieser Wissensbildung - das ist: des Denkens - und gewisser Eigenarten der Wissensinhalte. Der Wissensbildner untersucht also lediglich die Art seines Vorgehens und die Eigentümlichkeiten seiner Produktivität und Produktionen und ist dabei an gewisse methodische Bedingungen gebunden, die sich notwendig aus den besonderen Umständen seiner »Selbstbetrachtung« ergeben.

Mit dem Verweis auf eine andere Wissensebene kann auch das Problem eines unendlichen Regresses behoben werden. Ich glaube dieses Problem wird gegenstandslos, wenn man sich verdeutlicht, wie dieses Wissen vom Wissen entsteht; wenn man sich klarmacht, daß es sich hier nicht um eine andere Form des Wissens handelt, sondern nur um einen spezifischen Wissensinhalt oder eine andere Wissensebene. Unsere Gedankenerinnerungen wirken nämlich wie ein Spiegel, der uns das Werden des Wissens erfahrungsförmig zurückspiegeln kann, so daß wir dieses Werden denkend betrachten und beschreiben können. Der Betrachter der zurückgespiegelten Denk-Erfahrungen ist derselbe wie derjenige, der diese Erfahrungen ursprünglich durchlaufen hat. Und mit Hilfe dieses Spiegels können wir vergange Denkaktionen betrachten, so wie wir uns in einem realen Spiegel ja auch betrachten können, wenn wir uns selbst beschreiben wollen. Auch bei einer äußerlichen Selbstbeschreibung befänden wir uns ohne Zuhilfenahme eines Spiegels in einer nahezu aussichtslosen Situation, denn wir wären immer auf die Beschreibungen Zweiter angewiesen. Ich denke, dem oben bei der Diskussion Schneiderscher Gedanken bereits zitierten Psychologen Dietrich Dörner ist sicherlich zuzustimmen, der in diesem Zusammenhang von einem "Speichermedium" spricht. Die Natur dieses Speichermediums wird man sich wohl noch näher anschauen müssen, aber Dörners Gedanke ist insoweit tragfähig, als er meint, man könne mit Hilfe dieser Art von "Speichermedium" oder "Gedankenprotokoll" einem unendlichen Regreß bei der Betrachtung des Denkens entgehen. Damit argumentiert er ohne Frage im Steinerschen Sinne.

Diese beiden »Inhalte« oder »Ebenen« des Wissens muß man sehr genau unterscheiden, gerade auch im Hinblick auf Steiners Erkenntnistheorie. Im einen Fall haben wir nämlich ein "begriffsloses Wissen" dergestalt, daß wir über keinerlei Theorie oder Begriff des Denkens verfügen, die diese Art von Wissen beschreiben. Es ist einfach vorhanden, ohne daß wir irgend etwas anzugeben wüßten über die näheren Umstände seines Daseins. Und wenn wir jetzt eine Erfahrung von dieser Tätigkeit haben, die zwei Begriffe in der angegebenen und durchschaubaren Weise verbindet, ohne ein Wissen von den besonderen Eigentümlichkeiten dieser Tätigkeit selbst zu haben, dann haben wir eine "reine Erfahrung". Man muß sich hierbei also verdeutlichen, daß wir auf der einen Seite ein unmittelbares Wissen haben und dieses Wissen doch selbst erst ins Bewußtsein heben müssen, um einen »Begriff« von diesem Wissen zu erlangen. In der Philosophie weist man in diesem Kontext gern auf die Unterscheidung von »Kennen« und »Erkennen« hin, in der Psychologie vielleicht auch auf den von »implizitem« und »explizitem« Wissen. Man könnte hier unter Umständen auch den Terminus eines »unoffenbaren Wissens« wählen. Wie dem auch sei: Worauf ich jetzt hinarbeiten möchte, sind einige wissenschaftsphilosophische Implikationen, die sich aus der Unterscheidung zwischen dem angeführten unmittelbaren Wissen um die Zusammenhänge unserer Denkgegenstände und dem Wissen um diesen Sachverhalt als solchem ergeben - um genauer zu sein: aus der Unterscheidung zwischen Denk-Erfahrung und Denk-Theorie. In diesem Zusammenhang werde ich an Überlegungen anknüpfen, die ich im Rahmen der letzten Jahrbücher für anthroposophische Kritik verfolgt habe, und meine sie nunmehr weiter klären zu können.

Die eingangs dieses Kapitels zitierte Erläuterung Steiners hinsichtlich der unmittelbaren Durchschaubarkeit des selbsthervorgebrachten Denkens ist uns in vergleichbarer Form schon in den "Grundlinien ..." begegnet im Rahmen der Suche nach einem empirisch gegebenen Erklärungsprinzip für Erfahrung überhaupt. Derselbe Sachverhalt firmiert dort unter dem Ausdruck der "reinen Erfahrung" des Denkens. Als einziges in der Erfahrung greifbares Erkenntnisprinzip stellte sich in den "Grundlinien..." das Denken heraus, weil nur im Denken die Gesetzmäßigkeit bereits ein Bestandteil der unmittelbaren Erfahrung ist. Bei keiner anderen Erfahrung ist dies der Fall. "Was bei der übrigen Erfahrung erst anderswo hergeholt werden muß, wenn es überhaupt auf sie anwendbar ist, der gesetzliche Zusammenhang, ist im Denken schon in seinem allerersten Auftreten vorhanden. Bei der übrigen Erfahrung prägt sich nicht die ganze Sache schon in dem aus, was als Erscheinung vor meinem Bewußtsein auftritt; beim Denken geht die ganze Sache ohne Rückstand in dem mir Gegebenen auf. Dort muß ich erst die Hülle durchdringen, um auf den Kern zu kommen, hier ist Hülle und Kern eine ungetrennte Einheit. Es ist nur eine allgemein-menschliche Befangenheit, wenn uns das Denken zuerst ganz analog der übrigen Erfahrung erscheint. Wir brauchen bei ihm bloß diese unsere Befangenheit zu überwinden. Bei der übrigen Erfahrung müssen wir eine in der Sache liegende Schwierigkeit lösen.

Im Denken ist dasjenige, was wir bei der übrigen Erfahrung suchen, selbst unmittelbare Erfahrung geworden." 110

Weil nun ausschließlich im Denken dieser gesetzmäßige Zusammenhang unmittelbarer Erfahrungsbestandteil ist, kann einzig und allein bei der Denk-Erfahrung das positivistische Erfahrungsprinzip im höchstmöglichen Grade zur Geltung kommen, wie Steiner schreibt: "Nur beim Denken kann das Prinzip der Erfahrung in seiner extremsten Bedeutung angewendet werden."  111 Steiner will an dieser Stelle darauf hinaus, daß der Positivismus nur gegenüber dem Denken an seinem strengen Erfahrungsprinzip festhalten könnte, was soviel heißt wie: auf die Anwendung des Denkens gegenüber der Erfahrung verzichten, die Erfahrung gedanklich unbestimmt zu belassen, sie nicht gedanklich zu deuten, zu ordnen bzw. irgendwelche Begriffe auf sie anzuwenden. Der radikale Positivismus bezweifelt ja die Tauglichkeit des Denkens als Erkenntnisprinzip und will es deswegen nicht auf die Erfahrung anwenden, sondern bei der gedanklich unbelasteten Erfahrung stehen bleiben. Wollte er nun wie beabsichtigt auf das denkende Bearbeiten der Erfahrung gänzlich verzichten und die Erfahrung nur so nehmen wie sie ist, in ihrer Reinheit und "naturbelassenen" Ursprünglichkeit, dann könnte er seine Forderung nur gegenüber der unmittelbaren Denk-Erfahrung erfüllen, weil er nur dort mit der "naturbelassenen" Erfahrungsform selbst schon einen gesetzlichen Zusammenhang direkt gegeben findet. Der vom Positivismus verlangte absolute Denkverzicht gegenüber der Erfahrung ist also sinnvollerweise nur auf die Denk-Erfahrung anwendbar.

Das bedeutet: diese "reine Erfahrung" des Denkens ist in Steiners Augen eine vom Denken noch nicht bearbeitete, eine begrifflich völlig unbestimmte, also eine absolut denkfreie "reine Erfahrung" und nur weil er sie so einschätzt kann sie von Steiner gegenüber dem Positivismus auch argumentativ ins Feld geführt werden. Wäre dies nicht so, dann wäre seine ganze Beweisführung gegenüber dem Positivismus sinn- und zwecklos. Die "reine Erfahrung" des Denkens ist die einzige Erfahrung, die in der gedanklich unangetasteten und begrifflich unbestimmten Form einen gesetzlichen Zusammenhang zeigt. Nur auf die unmittelbare Denk-Erfahrung ist demnach Steiners Begriff der "reinen Erfahrung", der auch häufiger mit "reiner Wahrnehmung" wiedergegeben wird, im idealtypischen Sinne anwendbar. Anders gewendet: die unmittelbare Erfahrung des Hervorbringens von Begriffen und Ideen ist begriffs- oder theoriefrei. Sie ist gedanklich noch nicht bearbeitet und das heißt in diesem Fall: sie ist noch nicht beschrieben.

Es scheint mir an dieser Stelle noch einmal besonders nötig auf den Unterschied hinzuweisen zwischen der begrifflich unbestimmten "faktischen Erfahrung" des Denkens, die wir stets haben, ohne uns dessen vielleicht bewußt zu sein und ihrer begrifflichen Bestimmung als "reine Erfahrung des Denkens", die eine kategorisierende Erkenntnisleistung des beobachtenden Denkens ist. Die "reine Erfahrung" des Denkens liegt als faktischer Bestandteil unserer Erfahrung praktisch immer dann vor, wenn wir bewußt über etwas nachdenken, wenn wir unser Denken in Bewegung setzen - sie ist geradezu eine Standardsituation unseres Bewußtseins. Aber sie wird naturgemäß übersehen, weil unsere Aufmerksamkeit nicht auf diese Denk-Erfahrung, sondern auf die Inhalte des Denkens beziehungsweise auf die fremdgegebenen Gegenstände des Denkens gerichtet ist. In der Regel wollen wir ja nichts über das Denken wissen, sondern über die Gegenstände des Denkens. Mit der bloßen Faktizität der Denk-Erfahrung haben wir indessen weder einen Begriff des Denkens im allgemeinen noch einen Begriff dieser Denk-Erfahrung im besonderen, und wie ich oben schon sagte: wir benötigen auch keinen Begriff des Denkens, um diese unmittelbare oder "reine" Erfahrung des Denkens zu durchlaufen, ebensowenig wie wir einen Begriff von "reiner Erfahrung des Denkens" dazu benötigen. Die Bestimmung des besonderen Erfahrungscharakters des Denkens setzt - wenn man so will - einen entsprechenden Entdeckungsprozeß voraus und der besteht wie bei einer geographischen Expedition in der Entdeckung und Beschreibung eines längst Vorhandenen.

Bernhard Kallert hat in seiner Dissertation einen Eindruck formuliert, den man angesichts der Steinerschen Erkenntnistheorie tatsächlich zunächst haben kann - es ist der Eindruck einer dort fehlenden Theorie des Denkens, beziehungsweise eines fehlenden Begriffes vom Denken, wie Kallert schreibt. Kallert spricht von einem gewissen Mangel, "der trotz aller eingehenden Hinweise auf das Denken in Steiners Erkenntnistheorie empfunden werden kann. Es ist der Mangel eines Begriffs vom Denken." Diese Forderung nach einem Begriff vom Denken, schreibt Kallert weiter, "könnte gerade im Hinblick auf das, was sich einfach phänomenologisch über das Denken ergab, als unerfüllbar erscheinen. Denn das Denken zeigte sich als absolut, überbegrifflich." 112

Ich meine inzwischen, es gibt in der Steinerschen Erkenntnistheorie nicht »nur« "Hinweise" auf das Denken und es gibt dort auch keinen "Mangel" eines Begriffes vom Denken. Vielmehr ist, was sich dort "phänomenologisch" über das Denken ergibt, bereits Bestandteil eines Begriffes oder einer Theorie vom Denken, wenngleich diese ohne Zweifel noch weit von jeder Vollständigkeit entfernt ist, aber das braucht sie in der Funktion, in der das Denken dort auftritt, auch nicht zu sein. Eine grundsätzlich orientierte epistemologische Untersuchung über das Erkennen muß auch eine solche über das Erkennen des Denkens und demgemäß eine solche des Denkens selbst sein, und, soweit es diese Erhebung verlangt, auch zu einer entsprechenden und hinreichend gesättigten Begrifflichkeit des Denkens kommen, sonst würde sie das Erkennen der Welt an ein metaphysisches und nicht an ein Erfahrungsprinzip delegieren. Die Theorie der Erkenntnis und die Theorie des Denkens haben dieselbe Wurzel und die Theorie des Denkens und seiner Erkenntnis ist so etwas wie die Spitze dieser Wurzel. Diese Wurzelspitze ist in Steiners "Grundlinien ..." dessen Kennzeichnung des Erfahrungscharakters des Denkens als "reiner Erfahrung", die man ohne weiteres als basale Bestimmung von Denken überhaupt betrachten kann: »Denken ist der (einzige) Wirklichkeitsprozeß, der in seiner reinen Erfahrungsform das Gesetz seines Verlaufs zeigt.« Das ist gleichermaßen eine grundlegende Definition des Denkens und diese Kennzeichnung besteht in einer phänomenologischen »Beschreibung« der Denk-Erfahrung.

Die methodische Basisdefinidion ist der Begriff der "gegenüberstellenden denkenden Betrachtung" des Denkens - das ist die basale Kennzeichnung der Methode seiner Beobachtung und seiner Erkenntnis, wie es auf S. 29 der "Grundlinien ..." heißt, und deswegen geht jegliches Verständnis von "Denk-Beobachtung", das die Form der Gegenüberstellung überwinden und zu einer Aktualbeobachtung kommen will, in die Irre: "Auch das Denken selbst erscheint uns zunächst als Erfahrungssache. Schon indem wir forschend an unser Denken herantreten, setzen wir es uns gegenüber, stellen wir uns seine erste Gestalt als von einem uns Unbekannten kommend vor. Das kann nicht anders sein. Unser Denken ist, besonders wenn man seine Form als individuelle Tätigkeit innerhalb unseres Bewußtseins ins Auge faßt, Betrachtung, das heißt es richtet den Blick nach außen, auf ein Gegenüberstehendes. Dabei bleibt es zunächst als Tätigkeit stehen. Es würde ins Leere, ins Nichts blicken, wenn sich ihm nicht etwas gegenüberstellte. Dieser Form des Gegenüberstellens muß sich alles fügen, was Gegenstand unseres Wissens werden soll. Wir sind unvermögend, uns über diese Form zu erheben. Sollen wir an dem Denken ein Mittel gewinnen, tiefer in die Welt einzudringen, dann muß es selbst zuerst Erfahrung werden." Dieser "Form des Gegenüberstellens" muß sich auch das Denken fügen, wenn es "Gegenstand unseres Wissens" werden will. Steiners Behauptungen über die Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens im dritten Kapitel der "Philosophie der Freiheit" sind infolgedessen nichts anderes als ein konsequentes Aufgreifen und eine weitere Spezifizierung des hier schon formulierten Gedankenganges. Sie legen in der Gestalt von zwei Argumenten näher dar, warum das Denken sich auch sich selbst gegenüberstellen muß und sich nicht aktuell beobachten kann. Die Gründe dafür hat Steiner nämlich in den "Grundlinien..." speziell für das Denken nicht angegeben, sondern dort mit der pauschalen Bemerkung: "Dieser Form des Gegenüberstellens muß sich alles fügen, was Gegenstand unseres Wissens werden soll. Wir sind unvermögend, uns über diese Form zu erheben." lediglich eine wenig spezifizierte Überzeugung ausgesprochen.

Man muß diese phänomenologischen Beschreibungen des Denkens in Steiners Erkenntnistheorie nur als das nehmen, was sie - neben ihrer rein erkenntnistheoretischen Funktion - sind: als grundlegende Bestandteile einer im Aufbau befindlichen Theorie des Denkens. Es kann dieser Begriff vom Denken auf keinem anderem Wege gewonnen werden, als auf dem phänomenologischen, denn, wie Steiner mit Recht sagt: "Die Beschreibung des Denkens ist zugleich die Wissenschaft des Denkens " Und es kann diese Theorie des Denkens auch an keiner anderen Stelle sich entwickeln als in der Erkenntnistheorie.

Man darf in diesem Zusammenhang auch folgendes nicht vergessen, und das hat Bernhard Kallert hier vielleicht ebenso übersehen wie mancher andere: der Standort, von dem aus Steiner in den "Grundlinien..." die "reine Erfahrung" des Denkens bestimmt, ist längst nicht mehr die naive Position des bloß erfahrenen Denkens sondern eine Metaposition, nämlich die eines beobachtenden oder betrachtenden Denkens. Dasselbe gilt von seinen übrigen erkentniswissenschaftlichen Schriften. Es ist ein hochgradig erkenntniskritischer Betrachtungsstandort, von dem aus das Denken schon nicht mehr nur »erfahren« sondern bereits wissenschaftlich »beobachtet« und »beschrieben« wird, wie er ja selbst in seiner kurzen Methodenreflexion in den "Grundlinien..." darlegt. Er beschreibt mit der "reinen Erfahrung" des Denkens etwas, was zwar jedermann als Erfahrung durchläuft, ohne aber näheres darüber zu wissen, solange er die entsprechende Metaposition gegenüber dem Denken nicht einzunehmen vermag. Dieser reine Erfahrungscharakter des Denkens ist von Steiner in den "Grundlinien..." im Verfolg einer wissenschaftlichen Untersuchung gleichsam erst »entdeckt« und näher »beschrieben« worden. Es ist also schon eine denkwissenschaftliche Sichtweise, die er uns dort vorführt, und von daher ist die Bestimmung des besonderen Erfahrungscharakters des Denkens - um es noch einmal zu wiederholen - ein Resultat wissenschaftlicher Beobachtung, das ist eines Denkens über die Denk-Erfahrung und gehört entsprechend zu einem Begriff oder einer Theorie des Denkens. Man kann daran vielleicht auch ermessen, welch ungeheurer intellektueller Aufwand dem Denken schon unerläßlich ist, um auch nur über den Erfahrungscharakter seiner eigenen Tätigkeit fundierte Aussagen zu machen.

Dieser denkfreie, bestimmungslose Charakter der reinen Denk-Erfahrung wird, soweit ich erkennen kann, in der Steinerliteratur weitgehend übersehen, weil man die "reine Erfahrung" überwiegend auf der Seite der gewöhnlichen Sinneserfahrung ansiedelt. Aber gerade dort findet man sie nur in einer Form, die nicht ihre extremste oder die idealtypische ist. Insbesondere auch Herbert Witzenmann ist sich über diesen Sachverhalt nicht klar geworden. So schreibt Witzenmann: "Zur reinen Erfahrung oder Wahrnehmung (unmittelbares oder entgegengenommenes Gegebenes). Die Schwierigkeiten, denen alle Ausführungen gegenüberstehen, welche dem Rein-Wahrgenommenen oder -Erfahrenen sich zuwenden wollen, beruhen in dessen Begriffslosigkeit. Eine inhaltlich richtige Aussage über das Rein Wahrnehmliche ist ebensounmöglich wie eine falsche... Gäbe es nur den urteilbildenden Begriffsgebrauch, wäre daher keine Aussage über das Rein-Wahrnehmliche möglich." 113 Witzenmann schränkt hier schon von vornherein den Begriff der "reinen Erfahrung" auf das Nicht-Gedankliche ein, und rechnet das Denken hier nicht dazu und zählt es auch an anderer Stelle nicht dazu (siehe unten), obwohl wir doch über das Denken, solange wir es nur »erfahren«, auch noch keine Aussage getroffen haben, die richtig oder falsch sein könnte. Richtig oder falsch können nur unsere »Beschreibungen« oder sonstigen Erklärungen des Denkens sein.

Warum also diese apriorische Ab- und Ausgrenzung der reinen Denkerfahrung aus dem unmittelbar Gegebenen? Mit welchem Recht wird hier das hervorgebracht Gegebene schon auf der allerersten Stufe der Erkenntnistheorie von dem entgegengenommenen Gegebenen unterschieden und dem hervorgebracht Gegebenen ein Sonderstatus beigelegt? Das ist im Rahmen der Steinerschen Erkenntnistheorie gar nicht möglich. Wenn das Denken "Gegenstand unseres Wissens" werden soll, dann müssen wir es als unmittelbar Gegebenes betrachten und uns ihm gegenüber stellen. Das Denken taucht bei Witzenmann als "reine Wahrnehmung" oder "reine Erfahrung" nicht auf. Es besteht aber nicht der geringste Anlaß, am Status des Denkens als einer "reinen Erfahrung" zu zweifeln. Darauf stützt sich das ganze Steinersche Gedankengebäude.

Was Witzenmann nun infolge dieser Fehleinschätzung zusätzlich übersieht, ist der Umstand, daß die "reine Erfahrung" des Denkens als solche ja auch noch nicht gedanklich bestimmt ist, solange ich bei ihr als bloß faktischer Erfahrung stehen bleibe. Sie stellt sich zwar dar als durchgängiger gesetzmäßiger Zusammenhang, aber allein mit dem Erfahren dieses Zusammenhanges ist sie noch nicht in ihrer Eigenschaft als »Denktätigkeit« bestimmt, denn das Erfahren des Zusammenhanges ist (noch) keine begriffliche Bestimmung dieser Erfahrung. Um den Begriff des Denkens bzw. seiner Eigentümlichkeiten oder eine entsprechende Theorie zu gewinnen, muß ich mich erst der Erfahrung des Denkens betrachtend gegenüberstellen. Anfänglich kategorisiert ist das Denken erst, wenn sich das Denken beobachtend oder betrachtend auf diese unmittelbare Denk-Erfahrung gerichtet und sie etwa mit dem Begriff "Denk-Erfahrung" oder "Denktätigkeit" charakterisiert hat. Denk-Erfahrungen haben wir ständig, aber damit allein sind wir noch lange nicht im Besitz eines Denkbegriffes. Auch die Erfahrung oder Wahrnehmung des Denkens benötigt eine begriffliche Ergänzung, nämlich eine beschreibende. Die ist unentbehrlich, wenn wir etwas über diese Erfahrung wissen wollen, wenn wir ein Wissen vom besonderen Charakter dieser Erfahrung und vom Denken insgesamt gewinnen wollen. Wir suchen mit dieser Ergänzung nichts, was hinter dem Denken liegt, nicht eine kausal erklärende Idee des Denkens, so wie man nach einer Idee der Schwerkraft suchen kann, die hinter der Wahrnehmung des Schweren als Wirkendes steht, sondern etwas, was die Wirksamkeit und Selbsttätigkeit der Idee selbst beschreibt. Und auch das (denkende) Verfahren und die begrifflichen Mittel zu dieser Beschreibung nehmen wir nicht von außerhalb des Denkens, sondern sie ergeben sich innerhalb desselben. Wir beschreiben das Denken durch das Denken.

Also: erst auf dem Wege der denkenden Betrachtung ist die Erfahrung des Denkens in ihrer Eigenschaft und Eigentümlichkeit als »Denk-Erfahrung« erfaßt und deskriptiv prädiziert. Das heißt: die begriffliche Bestimmung des Denkens als »Denken« setzt als beobachtende Gegenüberstellung bei der Erfahrung oder Wahrnehmung des Denkens an und solange dies nicht geschehen ist, bleibt auch die Erfahrung des Denkens begrifflich unbestimmt, das ist: begriffslos. Wir wüßten also nicht, daß das, was wir tun oder erfahren »Denken« ist. Letzteres ist übrigens ein Faktum, das sich auch biographisch leicht nachweisen läßt. Die Entdeckung, daß wir denken können und was das ist, kann ein ähnlich bedeutsames biographisches Ereignis sein wie die Entdeckung des eigenen »Ich« zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr. Das Denken ist zwar auch vor seiner "Entdeckung" schon vorhanden und verläuft in keinen anderen Bahnen als nach diesem Fund, aber wir wissen nichts von ihm. Der hier in Rede stehende Sachverhalt läßt sich treffend mit einer Bemerkung Steiners zum psychologischen Erkennen beleuchten. Steiner schreibt in den "Grundlinien...": "Fichte sprach dem Menschen nur insofern eine Existenz zu, als er sie selbst in sich setzt. Mit andern Worten: Die menschliche Persönlichkeit hat nur jene Merkmale, Eigenschaften, Fähigkeiten usw., die sie sich vermöge der Einsicht in ihr Wesen selbst zuschreibt. Eine menschliche Fähigkeit, von der der Mensch nichts wüßte, erkennte er nicht als die seinige an, er legte sie einem ihm Fremden bei. Wenn Fichte vermeinte, auf diese Wahrheit die ganze Wissenschaft des Universums begründen zu können, so war das ein Irrtum. Sie ist dazu bestimmt, das oberste Prinzip der Psychologie zu werden. Sie bestimmt die Methode derselben. Wenn der Geist eine Eigenschaft nur insofern besitzt, als er sich sie selbst beilegt, so ist die psychologische Methode das Vertiefen des Geistes in seine eigene Tätigkeit. Selbsterfassung ist also hier die Methode."114 Die Eigenschaft des "Denkens" müssen wir uns durch Selbsterfassung erst "beilegen" auf dem Wege einer "Vertiefung des Geistes in seine eigene Tätigkeit". Wir müssen das Denken wirklich erst entdecken. Als lediglich faktische Erfahrung weiß die reine Denk-Erfahrung selbst nichts um ihren Charakter einer "reinen Erfahrung" und sie weiß auch nichts um ihre Eigenschaft als Denktätigkeit, denn dazu muß sich das Denken dieser Erfahrungsform gegenüberstellen und diese denkend betrachten. Die reine Denk-Erfahrung besteht lediglich im Erfahren eines in sich durchgängig gesetzlich zusammenhängenden Vollzuges und nur ein Denken weiß von diesem Sachverhalt als »Denktätigkeit« und um dessen Eigenarten, das sich seiner eigenen Tätigkeit gegenübergestellt, seine Denk-Erfahrung beobachtend reflektiert und gedanklich bestimmt hat. Deswegen sagt Steiner ja auch, daß die Wissenschaft des Denkens in einer Beschreibung des Denkens bestehe. Von einem Denken, daß wir nicht zumindest anfänglich beschrieben haben, haben wir uns auch noch keinen Begriff gemacht - sei es mehr privat oder auf wissenschaftlicher Ebene. Aber niemand wird wohl sagen, daß ein Mensch, der keinen Begriff vom Denken hat, damit auch außerstande sei zu denken.

Herbert Witzenmann sucht die "reine Wahrnehmung" ausschließlich auf der Seite des Nicht-Gedanklichen 115 - das wird aber von Steiners Erkenntnistheorie gar nicht gefordert. Eine solche perspektivische Einengung ist angesichts des Steinerschen Sinnesbegriffes in den "Grundlinien..." auch überhaupt nicht statthaft: "Wenn wir nun für die erste Form, in der wir die Wirklichkeit beobachten, einen Namen haben wollten, so glauben wir wohl den der Sache am angemessensten in dem Ausdrucke: Erscheinung für die Sinne zu finden. Wir verstehen da unter Sinn nicht bloß die äußeren Sinne, die Vermittler der Außenwelt, sondern überhaupt alle leiblichen und geistigen Organe, die der Wahrnehmung der unmittelbaren Tatsachen dienen. Es ist ja eine in der Psychologie ganz gebräuchliche Benennung: innerer Sinn für das Wahrnehmungsvermögen der inneren Erlebnisse." 116 Das Denken ist in der ersten Form seines Auftretens eine Erscheinung für den "inneren Sinn" und nur deswegen kann seine Erfahrung überhaupt mit dem Ausdruck "reine Erfahrung" gekennzeichnet werden. Die "reine Erfahrung" des Denkens ist deswegen für Steiner ausdrücklich jene Form von Erfahrung, bei der wir das Erfahrungsprinzip in seiner "schroffsten Form" anwenden können, und das ist nur konsequent.

Man muß Steiner also nur beim Wort nehmen und wenn man dem folgt, wie er den Begriff von "reiner Erfahrung" in den "Grundlinien..." entwickelt, dann ist sie notwendig gedanklich gänzlich unbestimmt und damit der Prototyp und idealtypische Musterfall von "reiner Erfahrung". "Nur beim Denken kann das Prinzip der Erfahrung in seiner extremsten Bedeutung angewendet werden. Das schließt nicht aus, daß das Prinzip auch auf die übrige Welt ausgedehnt wird. Es hat ja noch andere Formen als seine extremste." 117 Ihr gegenüber sind alle restlichen Spielarten von "reiner Wahrnehmung" nur relativ begriffslos, in der Regel insoweit, als das Denken diese Wahrnehmungen aktuell noch nicht näher bestimmt hat, was aber gleichwohl bedeuten kann, daß sie erkenntnisgenetisch bereits mehr oder weniger begrifflich vorgeprägt sind und das ist fast durchweg der Fall. Deswegen muß ja auch die Grenze zwischen Gegebenem und Erkanntem "künstlich gezogen werden" wie es auf S. 52 von "Wahrheit und Wissenschaft" heißt. Und diese "reine Erfahrung" oder "reine Wahrnehmung" des Denkens zeigt sich absolut nicht inhaltsleer - sie ist keine leere Wahrnehmung - sondern sie ist ein durch und durch bestimmter gesetzlicher Zusammenhang. In diesem Fazit gipfelt Steiners Auseinandersetzung mit dem Positivismus in den "Grundlinien...". Doch wenngleich sie im höchsten Maße inhaltsvoll ist, ist sie doch als faktische Erfahrung in dem Sinne ganz bestimmungslos, solange sie noch nicht vom Denken beobachtend erfaßt worden ist, als ihr das Denken gleichsam noch keinen Namen gegeben hat. Sie bleibt so lange bestimmungslos, wie das Denken - etwa auf dem Wege einer erkenntnistheoretischen Untersuchung - noch keinen Begriff dafür gefunden hat, und sie beispielsweise noch nicht als "reine Erfahrung des Denkens" oder überhaupt als "Denktätigkeit" identifiziert, beschrieben oder erkannt worden ist. Und eben diese "reine Erfahrung des Denkens" ist der zentrale Punkt der Steinerschen Erkenntnistheorie.

Ich hatte bereits im Jahrbuch 97 darauf hingewiesen, daß die unmittelbare Erfahrung des Denkens eine »denkfreie« bzw. eine »reine Erfahrung« sei, weil das Denken darauf noch keine Anwendung gefunden hat. Ich habe dort angeführt, daß das Denken sich während seiner Tätigkeit nicht selbst gleichzeitig aus der Distanz betrachten und einen Begriff vom Denken bilden könne. Damals bin ich in erster Linie den logischen Implikationen des Steinerschen Begriffs der "reinen Erfahrung" nachgegangen und das Resultat dieser Untersuchung - die "denkfreie Denk-Erfahrung" - war für mich selbst zunächst etwas überraschend. Auf der Grundlage der Erwägungen, die bislang in der hier vorliegenden Arbeit zum Begriff der "Denk-Beobachtung" angestellt worden sind, können wir diesen Gedankengang nunmehr von dieser ganz anderen Seite näher spezifizieren, und ich sehe ihn von dieser Warte aus vollkommen bestätigt. Während wir in den "Grundlinien ..." den Begriff der denkfreien "reinen Denk-Erfahrung" aus wissenschaftsphilosophischer Sicht in der Auseinandersetzung mit dem Positivismus entwickelt und ihren erkenntnistheoretischen Fundamentalstatus dargestellt sehen, finden wir diesen Begriff jetzt, obgleich ohne explizite Anbindung, in der "Philosophie der Freiheit" aus der engeren Perspektive der seelischen Beobachtung und in augenfälliger sachlicher Nähe zur Denkpsychologie der Steinerzeit näher erläutert und in doppelter Weise gegründet und abgesichert.

Man muß sich hierbei auch klarmachen, daß in den "Grundlinien..." das Denken aus einer etwas anderen Perspektive beleuchtet wird als in der "Philosophie der Freiheit": In den "Grundlinien..." steht die Auseinandersetzung mit dem Erfahrungsbegriff des Positivismus stark im Vordergrund, und es zeigt sich, daß der positivistische Begriff der "reinen" oder "denkfreien" Erfahrung bzw. das positivistische Erfahrungsideal nur gegenüber der Erfahrung des Denkens sinnvoll anwendbar ist. Es geht in den einschlägigen Kapiteln also nicht so sehr in erster Linie um "Beobachtung" oder "Erkenntnis" des Denkens, sondern um seine "Erfahrung" oder besser ausgedrückt: um die Frage nach Gesetzmäßigkeit in der Erfahrung überhaupt. Der Erfahrungsbegriff spielt in der "Philosophie der Freiheit" dagegen keine unmittelbare Rolle mehr - aus gutem Grund, denn die "Beobachtung" des Denkens ist qualitativ etwas anderes als seine "Erfahrung". In mancher Hinsicht betreibt Steiner in der "Philosophie der Freiheit" auch eine grundlegende Methodenreflexion über das Beobachtungsverfahren, das seinen Untersuchungen in den "Grundlinien..." zugrunde liegt. Denn in der "Philosophie der Freiheit" geht es explizit um das bewußte geistige Streben des Menschen, und die beiden Grundbegriffe dort sind "Beobachtung" und "Denken": "Beobachtung und Denken sind die beiden Ausgangspunkte für alles geistige Streben des Menschen, insoferne er sich eines solchen bewußt ist." 118 Der empirisch-wissenschaftliche Charakter der "seelischen Beobachtung" dieser Steinerschen Schrift ist insbesondere auch dadurch noch einmal besonders zu betonen. Das heißt: wenn wir Steiners Darstellung mehr aus einem methodologischen Gesichtswinkel ansehen, dann ist sie kein Theoretisieren über das Denken, beziehungsweise keine im engeren Sinne erkenntnistheoretische oder ethische Betrachtung, sondern mehr die in einer basalen Methodenreflexion gegründete und von ihr begleitete Wiedergabe von empirischen Denk-Beobachtungen, und sie behandelt zugleich den wissenschaftlichen Umgang mit oder die wissenschaftlichen Implikationen von Denk-Beobachtungen. Das spiegelt sich letztlich auch im Untertitel der Schrift "Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode" wider.

Man kann ja dieser "Philosophie der Freiheit" mit einigem Recht alle möglichen und auch sinnvollen Attribute beilegen, die hier gar nicht bemängelt werden sollen, denn diese "Philosophie der Freiheit" läßt sich nun einmal nur multidimensional fassen, weil am Ende ja alles miteinander zusammenhängt: man kann sie als "Erkenntnistheorie" bzw. als "ethische Fundamentaltheorie" bezeichnen, als "philosophische Anthropologie", als "Ästhetik" und so weiter. Wenn man sich den Begründungsstatus dieses Werkes anschaut, der ihm von Steiner immer wieder für die Methode der Anthroposophie beigelegt wird, so muß man wohl sagen, daß der "Philosophie der Freiheit" in dieser Hinsicht auch der methodologische Begründungsstatus einer Erfahrungswissenschaft vom Denken zukommt.

Ende Kapitel 10               


Top   zurück   vorwärts     Inhalt     Anmerkung      Gesamtinhalt   Home