Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Anthroposophie und wissenschaftliche Selbstbeobachtung

(Stand 12.07.01)

Kapitel 1

Grundlegende Skepsis gegenüber der inneren Beobachtung bei Wilhelm Wundt

Kennzeichnend für den Stand der Psychologie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war, daß sie sich als empirische Wissenschaft nach dem Standard der Naturwissenschaften überhaupt erst zu etablieren begann. Franz Brentano gab den ersten Band seiner epochalen, ursprünglich auf 6 Bände angelegten "Psychologie vom empirischen Standpunkt"4 1874 heraus, aber es blieb Wilhelm Wundt in Leipzig vorbehalten, 1879 eines der weltweit ersten psychologischen Laboratorien einzurichten 5 und dort eine experimentelle Psychologie zu betreiben, deren methodologische Prinzipien bis in die Gegenwart hinein fortwirken.6

Im Jahre 1862 schreibt Wundt: "Es wäre mit der Physik schlecht bestellt, wenn die Physiker, statt in die bunte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen mitten hineinzugreifen, etwa hätten anfangen wollen zu spekulieren über das Wesen der Materie, und wenn sie alle Probleme zur Seite geschoben hätten bis zur gründlichen Erledigung dieser spekulativen Frage. Warum folgt die Psychologie nicht dem Beispiel der Naturwissenschaften? warum will sie hartnäckig da beginnen, wo sie höchstens wird endigen können? Die große Menge der Seelenerscheinungen ist in sich so abgeschlossen, daß sie recht gut einer unabhängigen wissenschaftlichen Untersuchung fähig ist. Und entschließt man sich einmal, diese Untersuchungen aufzunehmen, unbeirrt von vorgefaßten Ansichten, so wird man unerwartet schließlich auch auf die metaphysischen Grundfragen der Psychologie wieder zurückkommen, und man wird ihnen dann näher stehen, als das jetzt möglich ist."7

Man wollte sich endlich befreien von der metaphysischen Umklammerung der Psychologie und einen reinen Empirismus betreiben. Für viele, die sich einem solchen Empirismus verschrieben hatten, war gänzlich unklar, was denn der Ausdruck "Psychologie" überhaupt noch bedeuten könne. Der traditionelle Seelenbegriff hatte seine Dignität verloren und war nahezu inhaltsleer geworden, weil er sich nicht erkennbar auf ein empirisches Fundament zu berufen schien. Das Langesche Wort von der "Psychologie ohne Seele" war somit durchaus ernstzunehmen im Sinne einer strengen Erfahrungswissenschaft, die keinen Raum mehr läßt für metaphysische Spekulationen. "Wie ist denn überhaupt eine Wissenschaft denkbar", fragt Lange, "welche es zweifelhaft läßt, ob sie überhaupt ein Objekt hat?...Wir haben einen überlieferten Namen für eine große, aber keineswegs genau abgegrenzte Gruppe von Erscheinungen. Dieser Name ist überliefert aus einer Zeit, in welcher man die gegenwärtigen Anforderungen strenger Wissenschaft noch nicht kannte. Soll man ihn verwerfen, weil das Objekt der Wissenschaft sich geändert hat? Also nur ruhig eine Psychologie ohne Seele angenommen! Es ist doch der Name noch brauchbar, solange es hier irgend etwas zu tun gibt, was nicht von einer anderen Wissenschaft vollständig mitbesorgt wird."8

Wieweit Lange hiermit den Nerv seiner Zeit getroffen hatte, zeigt sich daran, daß Wilhelm Wundt, sich auf Lange beziehend, diesen Terminus in seine programmatischen Überlegungen aufnimmt: "Die metaphysische Psychologie", schreibt Wundt, "stellt eine bestimmte Voraussetzung, welche die Mannigfaltigkeit der geistigen Erscheinungen verbinden soll, an die Spitze ihrer Untersuchungen. Die sogenannte Psychologie ohne Seele will keineswegs auf die Hilfe einer allgemeinen Hypothese verzichten, welche zur Verknüpfung des Ganzen und zur Erleuchtung des Einzelnen dienen mag. Aber sie ist der Meinung, daß diese Hypothese auf dem Gebiet der psychologischen Forschung selbst zu entnehmen sei, und daß sie daher nicht der Untersuchung vorausgehen, sondern ihr nachfolgen müsse."9 Der wissenschaftliche Seelenbegriff war zu einem pragmatischen Ordnungsschema heruntergekommen und wenn er jemals einen essentiellen Gehalt besessen haben mochte, dann mußte sich dieser erst aus der wissenschaftlichen Praxis neu erweisen.

Wie diese Praxis aussehen sollte, darüber herrschten divergierende Auffassungen bei den Empirikern. Johannes Volkelt bemerkt ausgangs des vorigen Jahrhunderts, daß die Meinungen auch "in den elementarsten Fragen darüber" weit auseinanderliegen.10 Einmütigkeit bestand lediglich darin, daß das Vorbild der Naturwissenschaften unter allen Umständen zu gelten habe - aber wie sollte man dieses Ideal in der Psychologie verwirklichen? War es möglich das methodische Instrumentarium der Naturwissenschaften auf die Psychologie zu übertragen oder mußten völlig neue Untersuchungsprinzipien entwickelt werden?

In den psycho-physischen Grenzbezirken der Psychologie kam man den Naturwissenschaften noch am nächsten; hier hatten Forscher wie Helmholtz, Wundt oder Fechner schon fruchtbare Arbeit geleistet. Im Bereich der Sinneswahrnehmung und -empfindung konnte man sich dem naturwissenschaftlichen Verfahren vergleichsweise gut annähern. Es ließen sich Sinnesreize darbieten, deren Intensität und Qualität konnte man planvoll variieren, die Dauer der Einwirkung messen und das ganze in einen theoretischen Zusammenhang bringen auf eine Weise, die den naturwissenschaftlichen Verfahren sehr nahe stand.

Sehr viel schwieriger stellte sich die Sache dar, sobald man sich den zentralen Vorgängen näherte. Die Prozesse des Denkens, des Gefühlslebens, der Erinnerung waren der externen Beobachtung kaum noch zugänglich, sondern sollten in innerer Beobachtung erfaßt werden. Und hier schieden sich die Geister schon an den allgemeinsten Fragen der Methodologie.

Zuallererst war ein approbiertes Verfahren der inneren Beobachtung nirgendwo in Sicht, und das, obwohl es genügend psychologische Arbeiten gab, deren materiale Quelle die Selbstbeobachtung war - ein Tatbestand, den v.a. Wundt kritisch aufgreift. Er richtet seine Attacke gegen jene Psychologen, die über ihr Vorgehen keine Rechenschaft ablegen wollen oder können. "Was ist Selbstbeobachtung?", fragt er ironisch, "Man findet leider in keinem der Werke, die von dieser vortrefflichen Methode Gebrauch machen, eine Anleitung, wie man dieselbe anzuwenden habe, oder auch nur eine Auseinandersetzung, worin sie bestehe. Man scheint die Selbstbeobachtung für eine ebenso natürliche, aller wissenschaftlichen Anwendung vorausgehende Fähigkeit zu halten wie das Essen und Trinken. Und dennoch, wie ungeheuer verschieden nehmen sich die psychologischen Darstellungen aus, die von dieser Methode Gebrauch machen! Wenn heute der Bewohner einer anderen Welt zu uns herniederstiege und, völlig unbekannt mit den Eigenschaften der menschlichen Seele, sich aus den Lehrbüchern der Psychologie eine Vorstellung von derselben verschaffen wollte, er würde wahrscheinlich zu dem Schlusse kommen, daß sich diese verschiedenen Schilderungen selbst wieder auf Wesen ganz verschiedener Welten bezögen."11

Nicht nur hält Wundt das Beobachtungsverfahren seiner Zunftgenossen für ein windige Angelegenheit: "In der Tat, die Goethesche Regel: >>Legt ihr nicht aus, so legt was unter<<, scheint auch hier Anwendung zu finden. Was kann man nicht alles aus dem eigenen Ich heraus- und in dasselbe hineinbeobachten."12 Er glaubt vielmehr, daß eine innere Beobachtung prinzipiell den Anforderungen wissenschaftlicher Präzision nicht genügen könne. So fährt er fort: "Regeln der Beobachtung aufzustellen in einem Gebiet, wo eine exakte Beobachtung möglich ist, fällt nicht schwer, ... Warum weiß die Psychologie derartige Regeln nicht zu geben? Der Grund ist ein sehr einfacher: weil eine Selbstbeobachtung, wenn wir das Wort Beobachtung im wissenschaftlichen Sinne verstehen, unmöglich ist. Es gibt eine Wahrnehmung innerer Zustände und Vorgänge, so gut wie es eine Wahrnehmung äußerer Naturerscheinungen gibt. Aber logisch unterscheiden wir mit Vorbedacht die Wahrnehmung einer Erscheinung von ihrer Beobachtung."13

Was sind die Kennzeichen einer solchen Unterscheidung für Wundt? Die Wahrnehmung, so meint er, sei ganz dem Zufall preisgegeben und deswegen auch lückenhaft. Bei der Beobachtung hingegen richten wir planvoll unser Augenmerk auf erwartete Erscheinungen, noch ehe diese eintreten. Die einzelnen Bestandteile derselben werden mit Bedacht festgehalten, wobei man sich nach Möglichkeit spezieller Hilfsmittel bedient. Ein solches Vorgehen sei aber auf das Innenleben nicht anwendbar: "Das Objekt der Selbstbeobachtung ist ja eben der Beobachter selber. Das Merkmal, wodurch sich die Beobachtung unterscheidet von der zufälligen Wahrnehmung, besteht aber gerade darin, daß wir die Objekte soviel als möglich unabhängig machen von dem Beobachter. Und hier ist es die Beobachtung, welche diese Abhängigkeit umso mehr steigert, je aufmerksamer und planvoller sie zu Werke geht."14 Nach Wundt reicht schon die dezidierte Absicht der inneren Beobachtung aus, um die Gegenstände der Beobachtung zu verändern. Der Beobachter wird also nichts Originäres in den Fokus seiner Aufmerksamkeit bekommen, sondern etwas, das durch die Beobachtungsabsicht verfremdet und verfälscht worden ist. 

Franz Brentano teilte die Wundtschen Vorbehalte in dieser Frage und mit ihm die terminologische Unterscheidung. "Gegenstände, die man äußerlich wahrnimmt", so Brentano, "kann man beobachten. Man wendet, um die Erscheinung genau aufzufassen, ihr seine volle Aufmerksamkeit zu. Bei Gegenständen, die man innerlich wahrnimmt, ist dies aber vollständig unmöglich...Es ist ein allgemein gültiges psychologisches Gesetz, daß wir niemals dem Gegenstande der inneren Wahrnehmung unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden vermögen."15 Und weiter: "...wer den Zorn, der in ihm glüht, beobachten wollte, bei dem wäre er offenbar bereits gekühlt und der Gegenstand der Beobachtung verschwunden. Dieselbe Unmöglichkeit besteht aber auch in allen anderen Fällen."16

Schon am Beispiel des Beobachtungsbegriffs wird ersichtlich, wie mühsam der Weg für eine Methodologie der inneren Beobachtung war. Folgte man den restriktiven Ansichten Wundts und Brentanos, so mußte eine Psychologie der inneren Beobachtung offenbar schon im Vorfeld ihrer Etablierung wenn nicht scheitern, so doch mit erheblichen Schwächen behaftet sein.

Ende Kapitel 1              


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