Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


Ende zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home

Michael Muschalle

Zur Unbewusstheit des aktuellen Denkens

(Stand 28.11.03)

Kapitel 3.4

Denk-Experimente

Ich habe den Eindruck, daß Steiner und Hartmann in einigen Punkten ihrer Auseinandersetzung etwas aneinander vorbeigeredet haben, weil jeder nur eine bestimmte Seite von Denkvorgängen betrachtet und die andere Seite ausnimmt. Hartmann sagt uns wenig über die Fälle, wo die Erinnerung irrelevant ist, weil wir einen Gedanken vollständig präsent im Bewußtsein haben und ihn in mit voller Klarheit hin und her bewegen. Steiner sagt uns ebensowenig über die unbewußten Vorgänge bei begrifflichen Neuschöpfungen und über die Fälle, wo der Prozeß der Erinnerung nicht mehr irrelevant ist. Wie überhaupt die Erinnerung, also das, worauf Hartmann in beträchtlichem Umfang setzt, sachlich keinerlei Rolle bei ihm spielt. Nun kann man aber die Erinnerung nicht schlechtweg ignorieren, denn sie greift nun einmal in zahllose Denkvorgänge hinein. All die notwendigen und vielfältigen psychologischen Details, die für eine gründliche Auseinandersetzung mit Hartmann von Bedeutung sind, sind in der "Philosophie der Freiheit" nicht, oder nur sehr fragmentarisch enthalten. Man muß sie aber unbedingt einbeziehen, um das sichtbar zu machen, was darin enthalten ist.

"Man kann sich ja auch sehr gut denken, daß der Assoziationsverlauf der Vorstellungen und die reine Denkfolge zwei Grenzfälle unserer wirklichen Erlebnisse darstellen." schreibt Karl Bühler mit Recht. 73 Man möchte ihn hier ergänzen und fragen: Stellt nicht das Erleben des Traumgeschehens, dem wir ohnmächtig ausgeliefert sind, und der präzise, aktive Gedankengang beim Lösen einer geometrischen Aufgabe die Extrema dieses Erlebens dar, das in verschiedenen Mischungsverhältnissen und Abstufungen unser tägliches Leben durchzieht? Sind die Übergänge nicht fließend vom Traum über das freie Assoziieren auf der Couch des Psychiaters und die kunterbunten Vorstellungsfolgen des täglichen Lebens bis zu den glasklaren Operationen der Geometrie? Kann man die reine Gedankentätigkeit denn überhaupt in ihrer seelisch-geistigen Eigenart verstehen, ohne sich um das spezifische Erleben daran und in ihren Grenzbezirken zu kümmern? " ... das wirkliche Geistige beginnt überall da, wo wir uns von den Assoziationen durch innerliche Aktivität unabhängig machen." So spricht es Steiner vortragsweise einmal aus. (GA-67, Dornach 1962, S. 64; Vortr. vom 7. Februar 1918) Wie sollte man denn die Grenzziehung vornehmen, wenn man nicht das unmittelbare seelische Erleben an den Assoziationen und an der inneren Aktivität selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung macht? Und wiederum "aus dem vollen Erleben dieser Aktivität des Denkens" so Steiner an anderer Stelle (GA-78, 1968, S. 42; Vortrag vom 30. August 1921 ), sei das Fazit aus dem dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit entstanden: "Im Denken haben wir das Weltgeschehen selber an einem Zipfel erfaßt!" Es ist ein rein psychologischer Sachverhalt, auf den er sich philosophisch bezieht. Und so viel dürfte klar sein: Dieser Sachverhalt ist alles andere als unbewußt.

Derjenige irrt gar sehr, der da meint, die "Philosophie der Freiheit" bewege sich auf einem Felde, das mit empirisch-psychologischen Fragen wenig zu tun habe, sondern nur mit philosophischen. Für die Folgen dieser massiven Fehleinschätzung ist Kirns Buch ein exemplarisches Lehrstück. Aus schierem Horror vor dem Psychologismus geht am Ende sogar das verloren, was überhaupt den Bestand der Steinerschen Philosophie erst garantiert: die bewußte Erfahrung des aktuellen Denkens und seine Überschaubarkeit auf der Herkunftsseite. Womit Kirn bei Hartmann offene Türen eingerannt hätte. Auf der anderen Seite kann man sich bei Lektüre der Bühlerschen Untersuchung nicht des Eindrucks erwehren, als habe er an manchen Stellen dieses Berichtes im Ansatz einen Teil dessen dargelegt, wovon Steiner in GA-21 sagt, es sei eigentlich Aufgabe der Psychologie sich dieser Sache anzunehmen: nämlich zu beschreiben wie das menschliche Bewußtsein zum "Schauen" veranlagt ist. 74

Für unser tägliches Denken gilt sicher: Weder ist es uns bis in die letzten und feinsten Verästelungen des Seelenlebens immer und vollständig bewußt, noch verläuft es, wie Hartmann behauptet, immer und undurchschaubar unbewußt nach den Gesetzen der Assoziation. In der Regel haben wir es im Durchschnittsdenken eher mit Mischformen zu tun, einer etwas diffusen Gemengelage, für die sowohl das eine wie das andere gilt. Sie sind teils bewußt, teils unbewußt, teils assoziativ, teils tätig erarbeitet. Es gibt aber ausgewählte Momente, in denen wir Bewußtheit, Bestimmtheit und Durchschaubarkeit auf ein normalerweise nicht übliches Maximum bringen können. In ihnen liegt ein Gedanke so klar und übersichtlich vor uns, daß die von Hartmann erwähnten Vorauswahlen durch unbewußte Erinnerungsvorgänge nicht mehr stattfinden und die Gefahr undurchschauter assoziativer Anteile des Denkens gleich Null ist. Der Prozeß des Denkens wird dann ausschließlich durch den Sachgehalt des Gedankens geleitet. Solche idealtypischen Gedankenprozesse sind in der täglichen Praxis nicht die Regel, sondern stellen Sondersituationen dar, die vergleichbar sind den idealisierten Bedingungen unter die der Naturwissenschaftler Naturvorgänge bringt, wenn er ihren Gesetzen nachgeht, die er in der verwirrenden Vielfalt der freiwaltenden Naturerscheinungen niemals finden würde. In der anthroposophischen Sekundärliteratur ist in den letzten Jahren in diesem Zusammenhang der sehr treffende Begriff des "Denkexperiments" aufgekommen. 75 Solche "Denkexperimente" sind keine anthroposophische Erfindung. Ich habe darüber schon im letzten Jahrbuch im Zusammenhang mit den Bühlerschen Experimenten zum Erlebnisgehalt von Denkvorgängen berichtet. Auch Meditationen sind solche "Denkexperimente" oder können sie zumindest sein.

Wesentliche Einsichten über das Denken ergeben sich erst, wenn man es aus seiner alltäglichen Umgebung herausnimmt und sich bestimmte Denkprozesse oder auch nur partielle Bestandteile dieser Vorgänge unter idealisierten Bedingungen näher ansieht, wie das vergleichbar auch in naturwissenschaftlichen Disziplinen mit Naturvorgängen geschieht. Hartmann spricht, wenn er vom Denken redet, eher vom diffusen Standardtyp des gebräuchlichen Denkens mit einer besonderen Betonung des Produktiv-Schöpferischen, und ohne genauer hinzusehen und zu differenzieren. Steiner dagegen bezieht sich in der Auseinandersetzung mit ihm auf eine normsetzende, reine »labormäßige« Variante, die man im regulären Denkbetrieb selten zu sehen bekommt, die aber unter gewissen Bedingungen erreichbar ist. In unserem alltäglichen Geistesleben findet sich diese reine, prototypische Denkvariante etwa so, wie sich reines Wasser in der Elbe findet. Jeder Kraftfahrer wird es tunlichst unterlassen, Elbwasser in seine Autobatterie zu füllen. Ebenso wird ein Chemiker nicht auf einer durchschnittlichen Normalverteilung von Wasser aufbauen, wenn er die grundlegenden chemischen Eigenschaften dieser Flüssigkeit bestimmen will, sondern eine Vielzahl von Filterprozessen vorschalten. Diese Tatsache wird gelegentlich übersehen, wenn Psychologen vor dem Götzen der Statistik niederknien.

Das Verdienst Steiners liegt zum großen Teil darin, sich denkexperimentell um ganz spezielle Seiten des Denkens zu kümmern, weil an ihnen etwas von grundsätzlicher Bedeutung sichtbar wird, und eben auch nur dann sichtbar wird, wenn man die geeignete Filtrierung vornimmt. Entsprechend liegt der Mangel bei Hartmann darin, daß er diese speziellen, eher verborgenen, aber aufschlußreichen Seiten des Denkens aus seinen Überlegungen ausschließt und sich exklusiv dem Normalen, Regulären oder Durchschnittlichen zuwendet. Hartmann hat sicher recht, wenn er hinter vielen, vor allem produktiv-schöpferischen Denkvorgängen die Wirksamkeit einer unbewußten Instanz vermutet. Und er hat sicherlich auch recht, wenn er hinter vielen landläufigen Denkvorgängen assoziative Prozesse annimmt. Er hat nicht recht, wenn er diese Auffassungen ohne Umschweife generalisiert und den status quo des unbewußten Denkens für alle Zeiten festschreibt. Steiner ist da nicht nur flexibler, sondern auch realistischer, wenn er die Emanzipation des Denkens von unbewußten Prozessen propagiert und danach trachtet, das Unbewußte zunehmend in die Helle des Bewußtseins zu überführen.

Das tätige Denken unmittelbar zu erfahren heißt nicht zwangsläufig dieses tätige Denken bis in die letzten feinsten Regungen des Seelenlebens hinein zu erfahren. Hier ist Übung und gezielte Aufmerksamkeit vonnöten. Es ist aber auch niemandem verschlossen, sich diese Erfahrung auf einer elementaren Stufe zugänglich zu machen. Erhellend ist an dieser Stelle, was Steiner in der Schrift "Von Seelenrätseln" über das gleichsam träumende Wissen vom logischen Bestimmtsein bei Denkprozessen ausführt: "Unschwer wird man aber auch erkennen, daß die Seele, indem sie, logischen Gesetzen folgend, durch Verknüpfung von Vorstellungen die Wahrheit sucht, ein Wollen entwickelt. Ein Wollen, das nicht in physiologischen Gesetzen zu umfassen ist. Sonst würde sich eine unlogische Vorstellungsverknüpfung - oder auch nur eine alogische - nicht sondern lassen von einer, die in den Bahnen der logischen Gesetzmäßigkeit verläuft. ... In diesem Wollen, das rein innerhalb der Seele verläuft, und das zu logisch gegründeten Überzeugungen führt, kann man ein Durchdrungensein der Seele mit einer rein geistigen Tätigkeit sehen. Von dem, was im Wollen nach außen vorgeht, weiß das gewöhnliche Vorstellen so wenig, wie der Mensch im Schlafe von sich weiß. Von dem logischen Bestimmtsein beim Bilden von Überzeugungen hat er aber auch nicht ein so volles Bewußtsein wie von dem Inhalte der Überzeugungen selbst. Wer innerlich wenn auch nur anthropologisch zu beobachten versteht, der wird über die Anwesenheit des logischen Bestimmtseins im gewöhnlichen Bewußtsein doch einen Begriff bilden können. Er wird erkennen, daß der Mensch von diesem Bestimmtsein so weiß wie er träumend weiß. Man kann durchaus die Richtigkeit des Paradoxons behaupten: das gewöhnliche Bewußtsein kennt den Inhalt seiner Überzeugungen; aber es träumt nur von der logischen Gesetzmäßigkeit, die in dem Suchen nach diesen Überzeugungen lebt. Man sieht: im gewöhnlichen Bewußtsein verschläft man das Wollen, wenn man durch den Leib ein Wollen nach außen entwickelt; man verträumt das Wollen, wenn man im Denken nach Überzeugungen sucht. Doch erkennt man, daß in letzterem Falle dasjenige, wovon man träumt, kein Leibliches sein kann, denn sonst müßten die logischen Gesetze mit den physiologischen zusammenfallen. Faßt man den Begriff des im denkenden Suchen nach der Wahrheit lebenden Wollens, so ist dieser Begriff der eines seelisch Wesenhaften." 76

Das tätige Denken zu erfahren verlangt also keinesfalls höhere Grade von Geistesschulung, sondern eine ganz normale "anthropologische" Beobachtungsgabe, die freilich weiterhin schulungsfähig und schulungsbedürftig ist. Es gilt, was Steiner in seinem Lebensgang im Zusammenhang mit Eduard von Hartmanns Philosophie ausspricht: "Für ihn lag das Wesen der Dinge im Unbewußten und muß für das menschliche Bewußtsein immer dort verborgen bleiben; für mich war das Unbewußte etwas, das durch die Anstrengungen des Seelenlebens immer mehr in das Bewußtsein heraufgehoben werden kann." 77 Für Eduard von Hartmann konnte nur der vorstellungsförmige Inhalt des Willens, aber niemals dieser selbst bewußt werden. 78 Entsprechend kann nach Hartmann die Wesenheit des Denkens auch niemand wirklich durchschauen, weil er grundsätzlich nicht in der Lage ist, das tätige Denken unmittelbar zu erfahren, ob er nun Theologe, Psychologe oder Philosoph ist. Doch gerade dies ist auch die Konsequenz aus Kirns Überlegungen, die uns nirgendwo verdeutlichen können, wie sich denn bei Unbewußtheit des gegenwärtigen Denkens der Anspruch auf Durchschaubarkeit überhaupt noch aufrecht erhalten läßt, und wie sich darauf auch noch eine Freiheitsphilosophie sollte gründen lassen. Als Folge dieses Gesichtspunktes kann doch nur ein Standpunkt wie derjenige Eduard von Hartmanns resultieren, der die Suche nach indeterministischer Freiheit "als abgetan" betrachtet. 79 Es bleibt dann nur noch zu zeigen nötig, "wie auf streng deterministischem Boden dasjenige Maß praktischer Freiheit zustande kommt, welches für juridische und sittliche Verantwortlichkeit ausreicht." 80 Inhaltlich überschaubar sind auch die Resultate von Assoziationen und Eingebungen. Dadurch unterscheidet sich für Steiner das Denken von diesen, daß es auch auf der Herkunftsseite eingesehen werden kann. Wenn ich jedoch nicht sicher sagen kann, ob ich oder etwas anderes in mir gedacht hat, ob nicht unbewußte Eingebung oder Assoziation mir das Ziel meines Handelns vor die Augen stellt, dann wird es auch mit der Freiheit eine haarige Sache. Wie ist es dann um die Herkunft meiner moralischen Intuitionen bestellt? Die unmittelbare Erfahrbarkeit garantiert überhaupt erst die Durchschaubarkeit des Denkens, wie sie die Freiheit des Handelns garantiert.

Die einzigen Formen von Unbewußtheit, die beim aktuellen Denken eine Rolle spielen können, entspringen entweder dem Umstand, daß wir vom Denken eventuell (noch) nichts wissen und damit dieser Vorgang unserer Aufmerksamkeit gänzlich entgeht, weil wir keinen Anlaß haben, auf ihn zu achten. Oder aber wir haben momentan oder prinzipiell kein Interesse daran und ignorieren ihn. Drittens könnte es auch sein, daß, aus welchen Gründen auch immer, die Kraft unserer Aufmerksamkeit temporär nicht hinreicht, sich dem inneren Geschehen zuzuwenden. Schließlich spielt auch die persönliche Sensibilität für innerseelische Vorgänge eine große Rolle, und hier ist immer wieder auf Steiners methodische Anregungen außerhalb der "Philosophie der Freiheit" hinzuweisen. Von einem grundsätzlichen Unvermögen zur bewußten aktuellen Denk-Erfahrung zu reden ist jedoch gänzlich unhaltbar. Wenn wir demnach ein begründetes Wissen von unserer Denktätigkeit haben wollen, dann ist das einzige Einschränkende, was gegenüber dem aktuellen Denken anzunehmen ist, daß uns dabei vielleicht nicht alles bewußt ist, was sich potentiell dort erfahren läßt, und die weiterführende Frage könnte nur noch lauten: Was müssen wir gegebenenfalls tun, damit unsere Erfahrung des Denkens einen höheren Sättigungsgrad erreicht? Letztendlich kann es jedenfalls nicht darum gehen, ob uns das Denken zu irgend einem aktuellen Zeitpunkt prinzipiell bewußt oder erlebbar ist oder nicht, sondern lediglich darum, wieviel uns davon jeweils bewußt bzw. erlebbar ist. Und hier sind gewiß Differenzierungen möglich, ohne sogleich mit der Erkenntnistheorie in Kollision zu geraten.

Von diesen Typen der (Un)Bewußtheit ist zu unterscheiden die Bewußtheit um die Gestaltmerkmale, Formen oder Eigenschaften des Denkens. Rudolf Steiner bemerkt in einer Anmerkung auf S. 201 der "Philosophie der Freiheit", daß die "Gebilde des Denkens" während des Denkens nicht ins Bewußtsein eintreten, aber hinterher zum Gegenstand der Beobachtung gemacht werden können. Er spricht hier von "Gedanken", insbesondere "ethischen Ideen". Damit meint er natürlich nicht den Inhalt dieser Gedanken, sondern spezielle Eigenschaften dieser Gebilde, die gesondert für sich zu beobachten sind. Die Gedanken können während des Denkens nur vollzogen, aber nicht gleichzeitig deskriptiv betrachtet werden. So wenig, wie man während eines Beweisganges den Beweisgang selbst betrachten kann. So daß man also sagen kann: der gegenwärtige Prozeß des Denkens kann prinzipiell immer bewußt sein. Was gegenwärtig niemals bewußt sein kann sind die deskriptiv zu betrachtenden Gebilde dieses Prozesses.

Das erste, was der Ungeübte von seinen Denkprozessen zumeist ins Bewußtsein bekommt, ist erklärlicherweise auch das Gröbste, was sich davon überhaupt erfassen läßt. In der Regel sind das die sprachlichen oder bildhaften Symbolisierungen oder Veranschaulichungen der Gedanken(Prozesse) neben dem reinen Tätigkeitsaspekt, der in Form der persönlichen Willensäußerung erlebt wird. Der Erfahrenere nimmt schon sehr viel mehr wahr, und der im letzten Jahrbuch von mir behandelte Untersuchungsbericht Karl Bühlers ist eine wahre Fundgrube für typische Erlebnisse, die man während des Denkens haben kann.

Sprache und Veranschaulichung gehören natürlich zum Denken dazu, auch wenn sie vom frühen Steiner zumeist vernachlässigt werden. Aber sie sind - darin hat er sicher Recht - nicht die wesentlichen Bestandteile des Denkens. Indessen: Aufschluß verschaffen darüber, was am Denken wesentlich bzw. unwesentlich ist, können wir uns einzig auf dem Wege einer denkenden Betrachtung von Denk-Erfahrungen. Ob Sprache oder sonstige Symbolisierungen essentiell für das Denken sind oder nicht, ob das Denken assoziativ verläuft, wie Eduard von Hartmann behauptet, das können wir nur untersuchen, indem wir uns über unsere Denk-Erfahrungen die entsprechenden Gedanken machen. Eine solche Klärung wäre letztlich unausführbar, falls sich das aktuelle Denken stets dem Bewußtsein entziehen sollte. Dasselbe gilt für eine empirische Grundlegung des Erkennens. Auch diese wird durch die Annahme der prinzipiellen Unbewußtheit des gegenwärtigen Denkens vollkommen ausgeschlossen, weil ihr zentrales Prinzip, das Tätigkeitserlebnis des eigenen Denkens, erfahrungsseitig dann nicht mehr zugänglich ist und die Fundierungsbemühungen damit zwangläufig ins Leere laufen müssen.

Man kann daraus folgendes ersehen: Die These von der prinzipiellen Unbewußtheit des »aktuellen« Denkens zieht einen ganzen Rattenschwanz von Inkonsistenzen und Absurditäten nach sich bis hin zum Verschwinden des Denkens überhaupt und zum Verlust einer tragfähigen empirischen Basis des Erkennens. Das Denken wäre dann gleichsam wegtheoretisiert worden, mit allem was exoterisch und esoterisch daran hängt. Was übrig bleibt sind die Produkte fremden Denkens und "Gedankenbilder, traumhaft wie vage Eingebungen". Ein solcher Verlust ist die notwendige logische Folge von Kirns Überlegungen - gleichermaßen wie bei Herbert Witzenmann.

Ende Kapitel 3.4


Top zurück vorwärts Inhalt Anmerkung Gesamtinhalt Home