Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zur Unbewusstheit des aktuellen Denkens  

(Stand 12.07.01)

Kapitel 3.5  

Kirns Behandlung des Spaltungsargumentes

Wenn wir nunmehr auf Kirns Behandlung des Steinerschen Spaltungsargumentes zu sprechen kommen, dann wird uns neuerlich begegnen, was wir oben "hermeneutische Verschiebung" genannt haben. Auch hier legt Kirn Steinerschen Schlüsselaussagen eine andere Bedeutung bei als sie Steiner damit verbindet. Konkret wird Steiners Spaltungs-Aussage um ihren Erklärungskern gebracht, indem Kirn eine Persönlichkeits-Zweiteilung in eine Dreiteilung umwandelt und sie semantisch verzerrt. Der ursprüngliche Anlaß für diese Manipulation ist eine "hermeneutische Verschiebung" an anderer Stelle. Dort geht es um den Gesichtspunkt der qualitativen Identität von Beobachtungsgegenstand und Beobachtungstätigkeit bei der Denk-Beobachtung, die von Kirn ausdrücklich (S. 163) nicht methodologisch verstanden sein will. Die Folge dieser Verschiebung ist, daß Kirn die Wesensgleichheit von beobachtetem und beobachtendem Denken nicht in ihrer methodologischen Konsequenz zu ende reflektieren kann und sich damit den Weg verschüttet, Steiners Spaltungsargument auf der Grundlage dieser Identität textimmanent zu erklären. Stattdessen legt er eine von außen, bzw. aus der Philosophiegeschichte genommene Metapher über dieses Spaltungsargument, das nicht einmal auf der rein bildlichen Ebene mit dem Steinerschen Argument zusammenstimmt.

Der Übersichtlichkeit halber noch einmal das bereits vorhin behandelte Zitat aus Kirns Schrift. Er schreibt (S. 137): "Auch im transzendentalen Bewußtsein kann das Licht der Zeiterweiterung nicht die Finsternis der Zeittilgung einfach durchlichten und den urphänomenalen Charakter der letzteren auslöschen. Auch hier vollzieht sich die Denktätigkeit in der Weise, daß ich etwas davon für meinen geistigen Körperbau (für die Ernährung meiner ideellen Lebensgewohnheiten) verbrauchen muß, ohne diesen Prozeß zugleich in das Bewußtsein heben zu können. Wollte ich jene Durchlichtung und diese Verfinsterung meines Denkens gleichzeitig beobachten, müßte ich mich «in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht». Ich müßte dann also selbst wiederum eine dritte Persönlichkeit sein, welche diese beiden Tätigkeiten zugleich «sieht»" In einer anschließenden Anmerkung (138) fügt er hinzu: "Schon in der Antike ist das Problem des «dritten Menschen» aufgeworfen worden. Dabei handelt es sich um die Frage, ob nicht zwischen der «Idee an sich» und der Erscheinung noch so etwas wie eine «Idee für uns» als Mittelglied gedacht werden müßte ... . Thomas v. Aquin deutet die Sache i. S. des Gedankenmodells: So wie in der Naturerkenntnis zwischen Idee und sinnlicher Erscheinung das Mathematische vermittelt, muß auch zwischen die Idee des Menschen und dessen sinnliche Erscheinung ein Wesensmodell gestellt werden ..."

Nun mag der Griff in die Schatztruhen der philosophischen Geschichte etwas Weihevolles haben. Aber der Hauch altehrwürdiger Vergangenheit garantiert noch keine gültige Erklärung, und schon gar keine immanente. Wo findet sich die sachliche Erklärungskraft dieses Bildes von den drei Persönlichkeiten? Warum sind plötzlich gar drei Personen nötig, wo bei Steiner zwei ausreichten? Warum müßte ich, der Tätige, nun eine dritte Person sein, die beide Tätigkeiten zugleich sieht? Steiner spricht unmißverständlich von einer Spaltung in zwei Personen: in eine die denkt und eine andere, die sich dabei zusieht. Eine dritte hinzuzuerfinden fiel ihm gar nicht ein. Nicht, weil es ihm an Phantasie gemangelt hätte, sondern weil das, worum es ging, sachlich mit einer Verdoppelung vollständig beschrieben war. Und damit liegt er genau auf der Linie von Psychologen seiner Zeit, die das fragliche Problem ins selbe Bild gekleidet haben.

Hier eine dritte Person ins Spiel zu bringen, die dem Ganzen wiederum zusehen müßte, ist deswegen überflüssig, weil eine Kontinuität der Erfahrung des Denkens besteht. Der Beobachter hat nicht nur ein Bewußtsein seines vergangenen, getätigten Denkens, das er betrachtet, sondern auch ein Bewußtsein respektive die unmittelbare Erfahrung seiner betrachtenden Tätigkeit selbst, die er nachfolgend in eben derselben Weise beobachten könnte wie vordem sein vergangenes Denken. Es ist dasselbe »Ich«, welches das beobachtete Denken ursprünglich ausgeübt hat, wie es anschließend das beobachtende Denken vollzieht. Und dem letzteren gegenüber kann es sich im Prinzip in der selben Weise betrachtend gegenüberstellen wie dem ersten, ohne jemals in einen Regress einmünden zu müssen. Denn die Tätigkeit bleibt qualitativ stets dieselbe.

Nur muß man eine Kontinuität der Erfahrung des Denkens dann ausschließen, wenn man wie Kirn davon ausgeht, daß die aktuelle Denktätigkeit grundsätzlich unbewußt verläuft. In diesem Fall wird allerdings überhaupt jede "Erfahrung" des getätigten Denkens zum Paradoxon, weil wir ein unbewußtes Denken nicht erinnern können. Das einzige, was wir neben den Erzeugnissen fremden Denkens dann noch mit dem Etikett "Erfahrung des Denkens" versehen könnten, wären Gedankenbilder "traumhaft, wie vage Eingebungen" - vagabundierende Bewußtseinsinhalte, von denen es bei Steiner ausdrücklich auf S. 55 heißt, daß dies kein Denken sei. Auf das bewußte "Verarbeiten" kommt es an. Man muß also gegenüber Kirns Behandlung des Spaltungsargumentes festhalten, daß er Steiners Argument nicht aus-legt sondern ver-legt, indem er es beiseite schiebt und etwas anderes an dessen Stelle setzt, weil er von falschen Verständnisgrundlagen ausgeht.

Ende Kapitel 3.5          


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