Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zur Unbewusstheit des aktuellen Denkens  

(Stand 12.07.01)

Kapitel 3.6  

Kirns Behandlung der qualitativen Identität von Beobachtungstätigkeit und Beobachtungsobjekt bei der Denk-Beobachtung

Der Anlaß für dieses Mißverstehen - wir haben es zu Beginn unserer Betrachtung der Kirnschen Arbeit erwähnt - liegt darin, daß Michael Kirn auf grund seiner gewählten heuristischen Strategie nicht dazu gelangt, die klaren und eindeutigen Aussagen Steiners, betreffend die Beobachtung des Denkens im engeren Sinne, methodologisch konsequent aufzugreifen. Das zeigt sich vorzugsweise darin, daß er der von Steiner betonten qualitativen Identität von Beobachtungsobjekt und Beobachtungstätigkeit bei der Denk-Beobachtung keinerlei methodische Relevanz zugestehen will. Steiner schreibt auf S. 47 f.: "Wenn man das Denken zum Objekt der Beobachtung macht, fügt man zu dem übrigen beobachteten Weltinhalte etwas dazu, was sonst der Aufmerksamkeit entgeht; man ändert aber nicht die Art, wie sich der Mensch auch den andern Dingen gegenüber verhält. Man vermehrt die Zahl der Beobachtungsobjekte, aber nicht die Methode des Beobachtens. Während wir die andern Dinge beobachten, mischt sich in das Weltgeschehen - zu dem ich jetzt das Beobachten mitzähle - ein Prozeß, der übersehen wird. Es ist etwas von allem andern Geschehen verschiedenes vorhanden, das nicht mitberücksichtigt wird. Wenn ich aber mein Denken betrachte, so ist kein solches unberücksichtigtes Element vorhanden. Denn was jetzt im Hintergrunde schwebt, ist selbst wieder nur das Denken. Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ derselbe wie die Tätigkeit, die sich auf ihn richtet. Und das ist wieder eine charakteristische Eigentümlichkeit des Denkens. Wenn wir es zum Betrachtungsobjekt machen, sehen wir uns nicht gezwungen, dies mit Hilfe eines Oualitativ-Verschiedenen zu tun, sondern wir können in demselben Element verbleiben."

Diese Passage wird, soweit ich sehe, von anthroposophischen Interpreten überwiegend methodisch gefaßt. 81 Und das ist nach meiner Ansicht die richtige Lesart. Michael Kirn dagegen schreibt dazu auf S. 163: "Bei dem kleinen Denk-Ereignis (dem Welterkennen als Teil des Weltgeschehens ...) ist der beobachtete Gegenstand ein endlicher, aber das geistige Ziel unserer Tätigkeit, das als unsere Voraussetzung im Hintergrund schwebt, ist das Erkennen dieser Einzelheit in ihrem wesenhaften Zusammenhang mit der Welt. Bei der Beobachtung des Denkens dagegen bringen wir die Wirkungen desselben vor uns, indem wir unsere geistige Zielsetzung aus dem Wesen des Denkens selbst entspringen lassen ... Aber dieser Vorgang ist hier nicht als ein methodischer, sondern als ein spezifisch-inhaltlicher (als «eine charakteristische Eigentümlichkeit des Denkens») gemeint. Es kommt darauf an, das Entspringenlassen als solches in seiner oben bezeichneten quantitativen Wirkung des Hinzufügens und Vermehrens zu begreifen."

Warum der Vorgang der Denk-Beobachtung von Steiner hier keinesfalls methodisch, sondern nur "spezifisch-inhaltlich" gemeint sein soll, dafür bleibt Kirn uns eine sachliche Erklärung schuldig. Diesen Mangel muß man deswegen als gravierend bezeichnen, weil wir uns hier an einer zentralen Stelle des dritten Kapitels befinden, und der methodische Gehalt der Steinerschen Angabe gar nicht zu übersehen ist. Wenn Steiner nicht nur sagt, daß wir das Denken "zum Betrachtungsobjekt machen", sondern auch hervorhebt, womit wir das tun, nämlich mit Hilfe eines Qualitativ - Gleichwertigen, und schließlich noch ausführlich erläutert, warum ihm gerade diese qualitative Gleichwertigkeit so wichtig ist, dann macht er eine glasklare methodische Angabe von außerordentlicher erkenntnistheoretischer Tragweite. Jetzt lediglich zu behaupten, dies sei nicht methodisch zu verstehen, reicht unter gar keinen Umständen hin. Hier wäre vor allem zu erklären, warum das nicht so sein soll. Ihr den methodischen Gehalt rundweg abzusprechen verlangt einen entsprechenden Begründungsaufwand, der bei Kirn indessen so gut wie vollständig fehlt. Er klärt uns nicht darüber auf, warum eine eindeutige Aussage über die Verwendung eines methodischen Mittels keine methodische Aussage sein soll. Stattdessen wirft er in ganz ungewohnter Sprachlosigkeit nicht viel mehr als zwei Sätze hin, und zieht sich auf sehr bedenkliche Weise aus der Affäre. Was soll denn das in diesem Zusammenhang heißen: nur "spezifisch-inhaltlich"? Es scheint mir irgendwie angehängt wie ein funktionsloser Appendix.

Wenn Steiner von einer qualitativen Gleichwertigkeit spricht, dann hat diese Gleichwertigkeit selbstverständlich eine inhaltliche Dimension, weil diese dem Denken wesenseigentümlich ist. Was Kirn allerdings vollständig außer Acht läßt, ist der Umstand, daß das Denken nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine Tätigkeitsdimension oder Handlungsebene hat. Zur qualitativen Gleichwertigkeit gehört demnach nicht weniger auch der Tätigkeitsaspekt des Denkens. Folglich ist dieser prozessuelle Aspekt auch bei Analyse des Begriffs der "Beobachtung des Denkens" zu berücksichtigen. Das heißt doch: Bei der Beobachtung des Denkens handelt es sich um eine Tätigkeit, die dem Denken inhaltlich und handlungsmäßig gleichwertig ist. Was aber ist dem Denken in dieser Hinsicht gleichwertig - außer dem Denken? Anders gesagt: Das Denken wird betrachtet oder beobachtet, indem sich ein tätiges Denken darauf richtet und Begriffe bildet. Genau das erklärt uns Steiner, indem er immer wieder die synonyme Ausdrucksweise wählt: "Wenn ich über mein Denken nachdenke"; "Wenn ich mein Denken betrachte"; "Wenn ich mein Denken beobachte." Das alles sind Ausdrucksweisen für dieselbe Sache. Und damit ist die Methode dieser Beobachtung im Kern umschrieben.

Kirns Erklärung, daß wir in der Beobachtung des Denkens "die Wirkungen" des Denkens vor uns bringen, ist zwar nicht falsch, aber höchst unvollständig, weil wir in der Beobachtung nicht nur die "Wirkungen", sondern nicht weniger und vor allem auch die Wirkungsweise des Denkens vor uns bringen. Nehmen wir einmal an, ein Ingenieur wolle ein neu entwickeltes Verfahren zur Herstellung von Filtertüten verstehen. Was wird der wohl untersuchen? - Filtertüten? Gewiß auch die. Er wird sich natürlich mit dem Produkt auseinandersetzen und schauen, was daran anders ist als an den bisherigen Erzeugnissen. Beispielsweise ob sie besser oder weniger gut verarbeitet sind als die alten, wie die Kontaktflächen beschaffen sind und so fort. Vor allem aber wird er sich eingehend mit Prozeßabläufen, Konstruktionsplänen und Optimierungsverfahren auseinandersetzen. Er wird den neuen Herstellungsvorgang vorwärts und rückwärts durchstudieren und sein Augenmerk auf technisch-funktionelle Details richten, um zu begreifen, was im einzelnen geschieht, wenn die neue Technik zum Einsatz kommt. Wenn Rudolf Steiner (GA-4, S. 44 f) schreibt: "Diese durchsichtige Klarheit in bezug auf den Denkprozeß ist ganz unabhängig von unserer Kenntnis der physiologischen Grundlagen des Denkens. Ich spreche hier von dem Denken, insoferne es sich aus der Beobachtung unserer geistigen Tätigkeit ergibt. Wie ein materieller Vorgang meines Gehirns einen andern veranlaßt oder beeinflußt, während ich eine Gedankenoperation ausführe, kommt dabei gar nicht in Betracht. Was ich am Denken beobachte, ist nicht: welcher Vorgang in meinem Gehirne den Begriff des Blitz es mit dem des Donners verbindet, sondern, was mich veranlaßt, die beiden Begriffe in ein bestimmtes Verhältnis zu bringen. Meine Beobachtung ergibt, daß mir für meine Gedankenverbindungen nichts vorliegt, nach dem ich mich richte, als der Inhalt meiner Gedanken; nicht nach den materiellen Vorgängen in meinem Gehirn richte ich mich." dann behandelt er hier das Denken nicht aus der Sicht seiner Wirkungen, sondern aus der Sicht des Prozeßverlaufs. Es wird als Beobachtungsresultat dargestellt, nach welchem Gesetz unsere Tätigkeit verläuft. Es wird festgestellt, daß es keine materiellen Vorgänge sind, nach denen wir uns richten, sondern der begriffliche Inhalt. Und es wird implizit auch festgestellt, daß es keine unbewußten Assoziationsvorgänge sind, die als Wirksames hinter unserem Denken stehen, sondern daß wir selbst tätig denken und uns dabei vom einsichtigen Inhalt des Begriffs leiten lassen und nicht von unbewußten Bedürfnissen. Zudem: wenn Steiner in den "Grundlinien ..." schreibt, daß wir die Gedanken nicht nach subjektiver Willkür, sondern nach Maßgabe ihres Inhaltes verbinden, oder nur "Gelegenheitsursache hergeben, damit die Gedanken sich ihrer eigenen Natur gemäß entfalten können", dann dreht es sich auch hier nicht um Wirkungen, sondern um Details von Prozessen oder Tätigkeiten. Weiter: Wenn wir die seelischen Funktionen des Denkens, Fühlens und Wollens in ihrer wechselseitigen Verbindung und Einflußnahme betrachten, so nehmen wir keine Wirkungen, sondern Zusammenhang und Verlauf von Geschehnissen in den Blick. Schließlich: Auch die Logik stellt keine Wirkungen des Denkens dar, sondern die Form von Denkabläufen, wenn sie die verschiedensten syllogistischen Schlußfiguren beschreibt.

Kirns Aussage, daß wir in der Beobachtung des Denkens "die Wirkungen" des Denkens vor uns bringen, ist also auf jeden Fall dahingehend zu ergänzen, daß dasselbe auch für die Wirkungsweise des Denkens gilt. Und sie verlangt umgehend nach einem konkreten Hinweis, wie wir das machen, der von Steiner hier auch gegeben wird. Kirns abschließender Satz: "Es kommt darauf an, das Entspringenlassen als solches in seiner oben bezeichneten quantitativen Wirkung des Hinzufügens und Vermehrens zu begreifen." ist dagegen kaum mehr als eine wolkige Formulierung ohne praktischen Gehalt. Auf welchem Wege und mit welchem Verfahren bringen wir die Wirkungen und Wirkungsweisen des Denkens vor uns? Vor dieser Frage scheut Kirn zurück indem er sich auf ein blasses und nebulöses "nur spezifisch-inhaltlich" zurückzieht, und hinterläßt ein methodologisches Vakuum, weil er gerade das aus seinen Reflexionen ausschließt, was Steiner hier zum Zentrum seiner Gedankenentwicklung macht: eine Antwort darauf zu geben, (wie( wir das tun und warum dieses (Wie( eine so große Rolle spielt.

Um dieses "Wie" und seine Bedeutung dreht sich die ganze Passage ebenso wie (S. 48) die nachfolgende: "Wenn ich einen ohne mein Zutun gegebenen Gegenstand in mein Denken einspinne, so gehe ich über meine Beobachtung hinaus, und es wird sich darum handeln: was gibt mir ein Recht dazu? Warum lasse ich den Gegenstand nicht einfach auf mich einwirken? Auf welche Weise ist es möglich, daß mein Denken einen Bezug zu dem Gegenstande hat? Das sind Fragen, die sich jeder stellen muß, der über seine eigenen Gedankenprozesse nachdenkt. Sie fallen weg, wenn man über das Denken selbst nachdenkt. Wir fügen zu dem Denken nichts ihm Fremdes hinzu, haben uns also auch über ein solches Hinzufügen nicht zu rechtfertigen."

Der Grund, warum wir im Denken über einen Archimedischen Hebel der Weltbetrachtung verfügen, ist vor allem ein methodischer. Bei allen anderen Formen der Weltbetrachtung ist das Verhältnis des Denkens zu den Gegenständen erkenntnistheoretisch ein Problematisches, weil wir das Denken auf etwas ihm Fremdes anwenden. Das heißt aber: das Mittel der Weltbetrachtung ist in diesem Fall suspekt, wie man der Philosophiegeschichte zur genüge ablesen kann. Deswegen müssen wir nach Rechtfertigungen suchen: "Was gibt mir ein Recht dazu?" Das Problematische fällt weg, wenn man das Denken selbst betrachtet - d.h. "über das Denken selbst nachdenkt". Dann fügen wir dem Denken nichts ihm Fremdes hinzu und brauchen uns über dieses Hinzufügen auch nicht den Kopf zerbrechen. Weil bei der Beobachtung des Denkens methodisches Mittel und Beobachtungsgegenstand qualitativ gleichwertig sind, darum ist das Denken in der Lage, sich selbst zu erklären und sich zu tragen. Deswegen ist die Beobachtung des Denkens die allerwichtigste, die der Mensch überhaupt machen kann. "Denn er beobachtet etwas, dessen Hervorbringer er selbst ist; er sieht sich nicht einem zunächst fremden Gegenstande, sondern seiner eigenen Tätigkeit gegenüber. Er weiß, wie das zustande kommt, was er beobachtet. Er durchschaut die Verhältnisse und Beziehungen. Es ist ein fester Punkt gewonnen, von dem aus man mit begründeter Hoffnung nach der Erklärung der übrigen Welterscheinungen suchen kann."

Der Umstand, daß Michael Kirn bei seiner Behandlung der qualitativen Gleichwertigkeit von Beobachtungstätigkeit und Beobachtungsgegenstand die Tätigkeitsseite des Denkens übersieht, ist kein zufälliges Versäumnis. Er hat bereits vorher alle Mittel aus der Hand gelegt, die ihm in dieser Frage hätten behilflich sein können, indem er das tätige oder aktuelle Denken ins Unbewußte verschoben hat. Damit war außer der Inhaltlichkeit nichts Greifbares mehr übrig, was mit dem Denken qualitativ hätte gleich sein können. Damit aber hat er sich auch um die Gelegenheit gebracht, die Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens nicht nur textimmanent zu verstehen, sondern auch erfahrungsimmanent. Denn seine These von der generellen Unbewußtheit des gegenwärtigen Denkens widerspricht nicht nur der Steinerschen Auffassung sondern vor allem auch jeder persönlichen Erfahrung.

Hätte Michael Kirn einen anderen Weg der Interpretation eingeschlagen, und sich vor der Auseinandersetzung mit dem Thema "Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens" zunächst ausführlicher mit der Frage der qualitativen Gleichwertigkeit von Beobachtungstätigkeit und -gegenstand befaßt, dann hätte er - da bin ich fast sicher - nicht vor dem methodischen Gehalt der Steinerschen Ausführungen die Augen verschlossen und sich auf sein übereiltes "nur spezifisch-inhaltlich" zurückgezogen. Dann hätte er auch alle Aussicht gehabt, eine adäquate Erklärung für Steiners Spaltungsargument zu finden. Denn die qualitative Gleichwertigkeit ist der Schlüssel zum Verständnis dieses Argumentes. Weil bei der Beobachtung des Denkens Beobachtungstätigkeit und Beobachtungsgegenstand qualitativ gleichwertig sind, darum ist die Beobachtung des gegenwärtigen Denkens nur um den Preis einer Persönlichkeitsspaltung zu haben. Das Denken müßte sich dann verdoppeln und entsprechend die Persönlichkeit spalten. Anders gesagt: die Beobachtung des gegenwärtigen Denkens ist prinzipiell ausgeschlossen, weil uns weder das eine noch das andere möglich ist. Gleichwohl ist uns das gegenwärtige Denken, sofern wir das wollen, jederzeit als Erfahrung zugänglich.

Ende Kapitel 3.6               


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