Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Der Verfall der introspektiven Psychologie und das Methodenproblem der Anthroposophie

(Stand 12.07.01)

Kapitel 2

Grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen Anthroposophie und einer Psychologie der Selbstbeobachtung.

Für eine Anthroposophie, die ihre wissenschaftliche Vorgehensweise kritisch reflektiert, kann dieser Tatbestand nicht unerheblich sein. Merkwürdigerweise sind Schicksal oder methodische Fragestellungen der introspektiven Psychologie noch kaum Gegenstand einer anthroposophisch ausgerichteten Publikation geworden. Arbeiten zu allgemeinen Grundfragen von Wissenschaft und ihren Methoden finden sich hier zwar häufiger, aber diese Nachbarwissenschaft und ihre besondere Problemlage liegt doch weitgehend jenseits der Aufmerksamkeit. 9 Damit bleibt bedauerlicherweise gerade jene Variante der Psychologie im Dunkeln liegen, die Steiner zeitlich und methodisch am nächsten stand.

Dieser Umstand ist vor allem deswegen beklagenswert, weil Steiner nicht nur sachlich in fruchtbarer Weise in den Kontext introspektiver Psychologie einbezogen werden kann, sondern wegen der Fülle von grundlegenden methodischen Gemeinsamkeiten mit dieser Psychologie in diesen Kontext auch einbezogen werden muß. Man kann dies belegen durch Verweis auf gemeinsame Problemstellungen, oder indem man zeigt, daß Steiners Methodenvorschläge nicht selten diskutable Lösungen für seinerzeit breit und kontrovers erörterterte Schwierigkeiten der Selbstbeobachtungspsychologie darstellen.10 Schließlich ist es einleuchtend, daß zwei Wissenschaften, die ein gemeinsames Beobachtungsgebiet haben, nämlich das Feld des Bewußtseins, die methodisch insofern verwandt sind, als sie ihre empirischen Daten auf dem Wege der Selbstbeobachtung - der Introspektion - gewinnen und nicht etwa über externe Quellen meinetwegen neurobiologischer oder -physiologischer Art, daß diese Wissenschaften infolge dieser Gemeinsamkeiten auch einen gemeinsamen, "feldspezifischen" Kern wissenschaftspraktischer und wissenschaftstheoretischer Fragestellungen zu klären haben:

  • Fragen nach der Abgrenzung ihrer Wissenschaften von anderen Forschungsbereichen, vor allen Dingen von den klassischen Naturwissenschaften und von dort abgeleiteten Methodologien.

  • Fragen nach der besonderen Praxis interner wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung und -sicherung, nach der systematischen und wissenschaftsgerechten Durchführung innerer Beobachtungen, nach dem Einfluß der Beobachtungsabsicht auf den internen Beobachtungsprozeß11, nach den Risiken von Auto- und Fremdsuggestion.12 Fragen auch nach der Teilung der Aufmerksamkeit bei simultaner Beobachtung verschiedener Beobachtungsgegenstände und überhaupt nach den Grenzen der Aufmerksamkeit und des Fassungsvermögens13. Wieviel läßt sich gleichzeitig beobachten? Wie vollständig ist eine Beobachtung und ihre Beschreibung?

  • Gibt es Bewußtseinsvorgänge, die sich grundsätzlich einer direkten internen Erfassung entziehen, weil es für sie keinerlei Erlebniserfahrung als Erkenntnisquelle gibt?14

  • Fragen vor allem nach der Mitteilbarkeit und Überprüfbarkeit innerer Beobachtungen15. Wie lassen sich innere Beobachtungen in Sprache fassen? Gibt es überhaupt eine adäquate sprachliche Ausdrucksweise dafür? Wie läßt sich kontrollieren, was eine einzelne Person als inneren Beobachtungsgegenstand vor sich hat? Wie weit ist ihre Beschreibung dieses Phänomens zutreffend und glaubwürdig?16

  • Fragen nach der begrifflichen Kategorisierung innerer Beobachtungen: wie wird das Beobachtete gedeutet und in größere Zusammenhänge gebracht? Warum gibt (gab) es so wenig Übereinstimmung zwischen unterschiedlichen akademischen Schulen? 17

  • Welchen Einfluß haben Vorverständnis und Erwartungshintergrund auf den Inhalt und die begriffliche Einordnung des Beobachteten? Wie kommt man zu neuen Erkenntnissen, die nicht nur Projektionen des theoretischen Erwartungshintergrundes in das Beobachtungsmaterial darstellen? Gibt es in analogem Sinne eine "Theoriebeladenheit" der Beobachtung wie in externen Wissenschaften 18 und wenn ja, wie sieht es dann mit dem Erkenntnisfortschritt bei innerer Beobachtung aus? Vollzieht sich dieser in analoger Weise wie bei Naturwissenschaften? Gibt es hier auch wissenschaftliche Paradigmen und entsprechende Paradigmenwechsel? Wie sieht es dann mit dem Status der Gültigkeit von Theorien aus, die auf innerer Beobachtungen basieren? Ist das Resultat interner Beobachtung und Kategorisierung, am Ende nur ein Konstrukt, das bei nächster Gelegenheit durch ein besseres ersetzt wird?

  • Wie sehen die Anforderungen an den Selbstbeobachter aus? Zieht man zur Selbstbeobachtung besser Laien oder Fachpsychologen heran?19 Gibt es eine natürliche und hinreichende Veranlagung zur Selbstbeobachtung oder muß man den Selbstbeobachter hinsichtlich der Wahrnehmungs- und anderer Fähigkeiten gegebenenfalls schulen und wenn ja, wie soll man das machen? Welche Inhalte müßte eine solche Schulung haben und wie käme man zur Entwicklung eines entsprechend brauchbaren Curriculums? Wäre eine solche Ausbildung in akademischen Zusammenhängen überhaupt vorstellbar? 20

Der anthroposophische Leser wird feststellen, daß ihm zumindest einige dieser Fragen bei der Lektüre Steinerscher Texte explizit oder implizit schon begegnet sind. Sie würden ihm bei entsprechender Einarbeitung in die introspektive Psychologie der Jahrhundertwende auch begegnen und zwar in einem mehr oder weniger ausgebreiteten Diskussionszusammenhang zwischen Fachpsychologen und nicht selten weitläufiger und kontroverser behandelt als bei Steiner - von Ausnahmen abgesehen.

Dieser Befund ist nicht überraschend, denn sowohl Steiner als auch die Selbstbeobachtungspsychologie seiner Zeit hatten, wie ich oben zu begründen versuchte, ein gemeinsames Forschungsfeld mit gemeinsamen grundlegenden Fragestellungen. Beide Fachrichtungen - wenn man so will - entwickelten sich zeitlich parallel, behandelten dieselben basalen Fragestellungen, existierten aber im übrigen weitgehend beziehungslos nebeneinander. Vieles, was in methodischer Hinsicht für die Psychologie der Selbstbeobachtung im allgemeinen gilt, gilt auch für die Anthroposophie oder anthroposophische Psychologie im besonderen. Und diese ist natürlich auch von dem generellen und wohl begründeten Mißtrauen nicht ausgenommen, mit dem man seinerzeit und später zunehmend der introspektiven Psychologie gegenüberstand und nach wie vor gegenübersteht. Es ist ein Mißtrauen in eine heikle Methodologie, die den Anwender vor außerordentliche Schwierigkeiten stellt.

Nun ist dieses Mißtrauen nicht dadurch auszuräumen, indem man geflissentlich über dessen sachliche Voraussetzungen hinwegsieht, die man unter Umständen in ihrer vollen Breite gar nicht kennt, denn dazu wäre ein historisches Studium der Psychologie vonnöten. Es reicht auch nicht hin, dieser Angelegenheit mit dem Steinerschen Erkenntnis- und Wissenschaftsbegriffs zu Leibe zu rücken, denn der Teufel steckt im Detail der inneren Beobachtung. Methodische Fragen, die hier virulent werden, sind nur teilweise im Rekurs auf epistemische Überlegungen zu beantworten - etwa solche nach der Theoriebeladenheit der Introspektion. Dem Problem der Suggestion und Autosuggestion läßt sich erkenntnistheoretisch ebensowenig beikommen wie dem der Beobachtungsabsicht oder der Aufmerksamkeitsspaltung und wir wissen noch nicht einmal, ob beispielsweise das Vorhandensein einer Beobachtungsabsicht auf jene inneren Sachverhalte, denen die Anthroposophie nachgeht, eine wie immer geartete Auswirkung hat, da weder Steiner selbst noch sonst jemand diese Frage ausführlicher thematisiert hat.

Die Anthroposophie kann und darf aber hinter jenen methodologischen Wissensstand, wie er der introspektiven Psychologie in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts entspricht, nicht zurückfallen, denn ihre Probleme sind nicht etwa geringer als die der landläufigen Selbstbeobachtungspsychologie, sondern sie sind größer, da sich ihr Forschungsgebiet weit über das der letzteren hinaus in den Geistbereich erstreckt. Wenn sie also jenem Mißtrauen gegenüber der psychologischen Innenerfahrung als Erkenntnisquelle überzeugend entgegentreten will, dann müßte sie zeigen:

1. Daß ihr die methodischen und theoretischen Probleme, die sich aus dem introspektiven Verfahren ergeben, hinreichend bekannt sind.

2. Daß sie den Schwierigkeiten der Selbstbeobachtung erfolgreicher zu begegnen vermag als es seinerzeit die introspektive Psychologie vermochte.

Beides setzt notwendigerweise eine Auseinandersetzung mit der Psychologie der Selbstbeobachtung voraus. Rudolf Steiner beklagte immer wieder die fehlende sachliche Auseinandersetzung mit der Anthroposophie - polemische oder unsachliche gab es zur genüge, man denke nur an die unsägliche Abhandlung eines Max Dessoir. 21 Mir scheint, als sei heute zunehmend die Erfüllung der Forderung in umgekehrter Richtung wichtig, sich nämlich mit dem psychologischen Umfeld der Anthroposophie sachlich auseinanderzusetzen, an erster Stelle im Bereich der methodischen Gesichtspunkte, weil es vornehmlich die Verfahrensfragen waren, an denen eine wissenschaftliche Selbstbeobachtung scheiterte.

Ende Kapitel 2            


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