Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Der Verfall der introspektiven Psychologie und das Methodenproblem der Anthroposophie

(Stand 12.07.01)

Kapitel 3

Gründe für die fehlende Auseinandersetzung der Anthroposophie mit dem psychologischen Umfeld

Im Abschnitt "historische Aufarbeitung der Anthroposophie" gibt es unter dem Kapitel "Nachbarwissenschaften" weitgehend leere Blätter dort, wo die Selbstbeobachtungspsychologie des ausgehenden neunzehnten und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts abzuhandeln wäre. Und es sieht bislang auch nicht so aus, als seien all jene methodischen Sorgen, von denen ein Oswald Külpe, ein Wilhelm Wundt oder ein William James geplagt wurden, hinreichend bekannt, geschweige denn von seiten der Anthroposophie ausgeräumt.

Woran liegt diese Zurückhaltung? Liegt sie vielleicht daran, daß es zu wenig explizite Anknüpfungspunkte im Steinerschen Oevre gibt, an denen der Historiker ansetzen könnte? In der Tat ist die Quellenlage nicht eben von Überfluß geprägt. Steiner nimmt selten Bezug auf offen formulierte Fragestellungen der zeitgenössischen Psychologie und das wenige, das sich findet, ist überwiegend allgemein und nicht an deren Detailproblemen ausgerichtet (etwa dem Problem von Auto- und Fremdsuggestion). Selbst dort, wo solche Detailfragen aufgegriffen werden, wie etwa in der Schrift "Von Seelenrätseln" (GA 21) bleibt es bei knappen Fingerzeigen, die noch weit entfernt sind von einem wissenschaftlichen Diskurs. Noch weniger als Steiners schriftlicher Nachlaß bietet das veröffentlichte Vortragswerk, da die Darstellungen dort, weil überwiegend für ein Laienpublikum und nicht für Fachleute gedacht, verkürzend und narrativ gehalten sind.22

Sollte diese Zurückhaltung vielleicht auch daran liegen, daß man eine solche Beschäftigung für wenig fruchtbar hält, weil Steiner selbst ihr keinen allzu hohen Stellenwert beimaß? Demnach hätte er eine klare Grenze gezogen zwischen Gegenständen und Methoden der akademischen Psychologie und denen der Anthroposophie bzw. einer anthroposophischen Psychologie. Zwischen beiden gäbe es (fast) keine sachliche Verbindung, keine Verwandtschaftsbeziehungen oder Gemeinsamkeiten und eine Bezugnahme auf die herkömmliche Schulpsychologie und ihre Einzelfragen sei ausschließlich negativ zu Zwecken der Abgrenzung erfolgt.

Diese These scheint plausibel wenn man die systematischen Ausführungen des Psychologie-Kapitels der "Grundlinien" heranzieht. Steiners Bemerkungen dort lassen u. U. den Schluß zu, er habe keinen Anlaß gesehen, die Nähe der zeitgenössischen Psychologie zu suchen, da er dieser Wissenschaft das Prädikat "Psychologie" nicht beilegen mochte. Steiner schreibt in den "Grundlinien: "Man ersieht aus alledem, daß man eine wahrhafte Psychologie nur gewinnen kann, wenn man auf die Beschaffenheit des Geistes als eines Tätigen eingeht. Man hat in unserer Zeit an die Stelle dieser Methode eine andere setzen wollen, welche die Erscheinungen, in denen sich der Geist darlebt, nicht diesen selbst, zum Gegenstande der Psychologie macht. Man glaubt die einzelnen Äußerungen desselben ebensogut in einen äußerlichen Zusammenhang bringen zu können, wie das bei den unorganischen Naturtatsachen geschieht. So will man eine >Seelenlehre ohne Seele< begründen. Aus unseren Betrachtungen ergibt sich, daß man bei dieser Methode gerade das aus dem Auge verliert, auf das es ankommt. Man sollte den Geist von seinen Äußerungen loslösen und auf ihn als den Produzenten desselben zurückgehen. Man beschränkt sich auf die ersteren und vergißt den letzteren. Man hat sich eben auch hier zu jenem falschen Standpunkt verleiten lassen, der die Methoden der Mechanik, Physik usw. auf alle Wissenschaften anwenden will." 23

Der Zugang zum psychischen Gegenstand, so wie ihn Steiner damals in den meisten Fachrichtungen vorfand, war ihm unannehmbar, um die Namengebung "Psychologie" zu rechtfertigen. Dabei schien es keine nennenswerte Rolle zu spielen, ob dieser Zugang im einzelnen extern, etwa sinnesphysiologisch oder introspektiv beschaffen war. Zumindest differenziert Steiner hier nicht weiter, da er die zentrale Fragestellung all dieser Richtungen für inadäquat hielt. "Bei allen Manifestationen des Geistes: Denken, Fühlen und Wollen, kommt es darauf an, sie in ihrer Wesenheit als Äußerungen der Persönlichkeit zu erkennen. Darauf beruht die Psychologie."24, so seine Auffassung. Deswegen auch konnte er jene Psychologien, denen dieser Bezug zur Persönlichkeit nebensächlich oder belanglos war, als naturwissenschaftliche kennzeichnen, denn: "Die einheitliche Seele ist uns ebenso erfahrungsgemäß gegeben wie ihre einzelnen Handlungen. Jedermann ist sich dessen bewußt, daß sein Denken, Fühlen und Wollen von seinem <Ich> ausgeht. Jede Tätigkeit unserer Persönlichkeit ist mit diesem Zentrum unseres Wesens verbunden. Sieht man bei einer Handlung von dieser Verbindung mit der Persönlichkeit ab, dann hört sie überhaupt auf, eine Seelenerscheinung zu sein. Sie fällt entweder unter den Begriff der unorganischen oder der organischen Natur."25 So gesehen wären für ihn jene Fachrichtungen, seien sie nun der Selbstbeobachtung oder der Physiologie verpflichtet, entweder Seitenstränge der Biologie z. B. als Psychobiologie oder der Physik im Sinne einer Bio- oder Psychophysik.

Der von Steiner zitierte Ausdruck "Seelenlehre ohne Seele" stammt von F.A. Lange, ist aber auch von W. Wundt programmatisch übernommen worden 26 und an Wundt mit seiner bekannten Affinität für naturwissenschaftliche Verfahren und angesichts dessen überragender Stellung in der Psychologie dürfte der Steinersche Einwand auf jeden Fall adressiert sein. 27 Kurz und prägnant ließen sich Steiners Worte so auf den Punkt bringen: eine nach dem Muster der Wundtschen Psychologie verfahrende Wissenschaft ist alles andere, nur keine Psychologie.

Ganz so polar scheint das Verhältnis indessen nicht geblieben zu sein und so fehlt es später auch nicht an weniger ausgrenzenden Äußerungen Steiners. Der kurze Essay "Moderne Seelenforschung" aus dem Jahre 1901 28 setzt sich überblicksartig mit den Erscheinungsformen der neu entstandenen experimentellen Psychologie auseinander. Die Steinerschen Ausführungen zur "Psychologie ohne Seele" sind diesmal im Ton nicht nur viel moderater sondern voller Empathie für die Haltung des Empirismus die in der jungen Wissenschaft zum Ausdruck kommt. Nur wenige Einwände beziehen sich auf die Wundtsche Kritik der Selbstbeobachtung, die Steiner für "einseitig" hält, 29 gleichwohl ist er der Auffassung, daß es weite Gebiete des Seelenlebens gibt, "denen mit <Hebeln und Schrauben> so viel abzugewinnen ist, daß ihre Gesetze uns in strengen Rechenformeln entgegentreten -" 30 Freilich geht es in besagtem Essay nicht um Wissenschaftssystematik und so könnte man aus der affirmativen Geste Steiners gegenüber seinen psychologischen Zeitgenossen vorschnell ein nichtvorhandenes Einverständnis auch für andere Ansprüche dieser Wissenschaft herauslesen. Etwas Ähnliches hat es auch im Falle Haeckels gegeben. Am üblichen Sprachgebrauch allerdings, die skizzierten Fachrichtungen als psychologische Disziplinen zu behandeln, scheint sich Steiner nicht weiter zu stoßen.

Die Haltung eines friedlichen, aber entschiedenen Nebeneinander zeigt sich später insofern, als Steiner den verschiedenen Fachrichtungen der Psychologie voll und ganz die Berechtigung ihres Vorgehens zugesteht, und zwar im Hinblick auf ihre Fragestellungen, die nun ohnehin nicht mehr diejenige nach Seele und Unsterblichkeit, nach den "Hoffnungen eines Platon und Aristoteles" und wohl auch eines Franz Brentano waren. "Tatsache ist, daß in den neueren Schriften über Seelenwissenschaft, die den Forderungen der naturwissenschaftlichen Denkungsart gerecht werden wollen, Betrachtungen über Erkenntnisse, die den <Hoffnungen eines Platon und Aristoteles> entgegenkämen, vermieden werden," so Steiner 1916 31. Und weiter:" - Der Geistesforscher wird nun, wenn er Verständnis hat für den Lebensnerv der neueren naturwissenschaftlich gehaltenen Seelenwissenschaft, mit deren Verfahrensart nicht in Widerstreit geraten. Er wird aus diesem Verständnis heraus anerkennen müssen, daß im wesentlichen von dieser Seelenwissenschaft der richtige Weg eingeschlagen wird, insoferne es sich um die Betrachtung der inneren Erlebnisse des Denkens, Fühlens und Wollens handelt. Denn ihn führt sein Erkenntnisweg dazu, anzuerkennen, daß Denken, Fühlen und Wollen nichts offenbaren, was die <Hoffnungen eines Platon und Aristoteles> erfüllen könnte, wenn die genannten Seelenbetätigungen nur so betrachtet werden, wie sie im gewöhnlichen Menschendasein erlebt werden. Dieser Erkenntnisweg zeigt aber auch, daß in Denken, Fühlen und Wollen etwas verborgen liegt, das im Verlauf des gewöhnlichen Lebens nicht bewußt wird, das aber durch innere Seelenübungen zum Bewußtsein gebracht werden kann....Für den Geistesforscher erscheint es ebenso unmöglich, durch Beobachtung des gewöhnlichen Denkens, Fühlens und Wollens die <Hoffnungen des Platon und Aristoteles> über das vom Leibesleben unabhängige Seelendasein zu erfüllen, wie es unmöglich ist, im Wasser die Eigenschaften des Wasserstoffs zu erforschen. Will man diese kennnenlernen, so muß man durch ein entsprechendes Verfahren erst den Wasserstoff aus dem Wasser herausholen. So aber ist es auch nötig, aus dem alltäglichen durch den Zusammenhang mit dem Leibe geführten Seelenleben dasjenige Wesen abzusondern, das in der Geisteswelt durch seine ihm ureigenen Kräfte wurzelt, wenn dieses Wesen beobachtet werden soll." 32.

Es gibt hier für Steiner offensichtlich keinen Anlaß mehr mit der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie zu hadern, so lange diese nicht die von ihr selbst gezogenen und von ihm akzeptierten Grenzen überschritt. Eine Kompetenz über diese Grenzen hinaus kam dieser Psychologie nicht zu und schien sie sich auch nicht beizulegen. Der Leser dieser Zeilen muß wohl annehmen, daß die von Steiner angesprochene Psychologie mit der seinigen wenig gemein hat und so scheint sich ein weiteres Nachfragen hinsichtlich bestehender Verwandtschaften zu erübrigen.

Ende Kapitel 3            


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