Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Renatus Ziegler, Intuition und Ich-Erfahrung. Erkenntnis und Freiheit zwischen Gegenwart und Ewigkeit. Edition Hardenberg, Verlag Freies Geistesleben, 2006.

Eine kurze Rezension

Selten erscheinen Bücher, denen man so zahlreiche Leser wünscht wie der jüngsten Schrift von Renatus Ziegler, selbst wenn man damit teilweise seine Schwierigkeiten hat. Dieses Buch ist zukunftsträchtig und zukunftsfähig wie selten eines. Es ist meines Wissens die bislang erste in sich stringente Buchveröffentlichung zu Steiners Philosophie der Freiheit, die konsequent mit der Aufforderung vom Ende des dortigen Kapitels Die Konsequenzen des Monismus ernst macht, die da lautet: "Vom lebendigen Ergreifen des in diesem Buche gemeinten intuitiven Denkens wird sich aber naturgemäß der weitere lebendige Eintritt in die geistige Wahrnehmungswelt ergeben." Ziegler führt anhand der Erfahrungen des intuitiven Denkens etappenweise und übersichtlich auf diesen Weg. Damit ist zugleich ein echter Durchbruch gelungen hin zu einem fundierten Verständnis des Steinerschen Freiheitsbegriffs und einer organischen Anbindung des anthroposophischen Teiles seines Werkes an das philosophische Frühwerk. Nicht etwa durch das Aufnehmen von gedanklichen Anleihen bei der späteren Anthroposophie, sondern einzig aus der Sache heraus, die bei Steiner im Zentrum der Philosophie der Freiheit steht: Einer Betrachtung des erlebten intuitiven Denkens.

Wie alle großen Durchbrüche benötigt auch dieser zahlreiche Nacharbeiten und Feinjustierungen. Und dort liegen einige methodische Schwächen: Der Autor setzt (Siehe S. 17) ausdrücklich ein mit einer Darstellung des intuitiven Denkens. Über dessen Charakter freilich herrscht bei anthroposophischen Interpreten derzeit noch große Meinungsdifferenz. Ziegler selbst ignoriert diese Vielstimmigkeit, setzt das intuitive Denken mit dem reinen Denken gleich und da werden ihm viele nicht folgen können, die sich schon anderweitige Vorstellungen davon gemacht haben. Dies umso weniger, als der Autor selbst kaum etwas für die interpretierende Klärung dieser heiklen Steinerschen Begrifflichkeit tut. Er übernimmt sie wie selbstverständlich als einen terminus technicus und setzt sie quasi im Handstreich mit dem reinen Denken gleich. Als Grundlage für ein Lehrbuch zur Philosophie der Freiheit sicherlich nicht ausreichend. Wenn ich dennoch von einem Durchbruch spreche, dann deswegen, weil ich der festen Überzeugung bin, daß Ziegler in dieser Angleichung korrekt verfährt. Ich kann den Leser allerdings hier nur auf eigene ausführlichere Untersuchungen verweisen, die sich zum Thema auf meiner Internethomepage befinden. (Siehe: www.studienzuranthroposophie.de/neu.html)

Was das Buch für viele gewiß attraktiv macht: es erfordert kein philosophisches oder anthroposophisches Spezialwissen, sondern nur den Willen die Welt des eigenen Denkens zu entdecken. Auch die Kenntnis der Philosophie der Freiheit wird nicht vorausgesetzt. Es knüpft bei dem an, was jedermann an Erfahrungen des Denkens unmittelbar zugänglich ist. Dazu gibt der Autor die entsprechende didaktische Anleitung. Er fordert den Leser auf, sich auf die Erfahrungen seines Denkens einzulassen und die klärenden Schritte aktiv nachzuvollziehen. Er gibt ihm auch die Mittel an die Hand, die Stringenz der Ausführungen in jedem Punkt anhand eigener Erfahrungen zu überprüfen und nicht nur seiner Sachautorität wegen zu akzeptieren. Er läßt den Leser frei, indoktriniert nicht, sondern baut auf dessen Erfahrung und Urteilsvermögen. So gesehen ist dieses Buch keines, das schnell gelesen werden kann, sondern für jeden ein individuelles Forschungsprojekt, das getan sein will. Und in diesem Sinne ein Lehrbuch zur Philosophie der Freiheit wie Ziegler einleitungsweise bemerkt. Keines, das fertiges Wissen bloß überstülpt, sondern zu zahlreichen wertvollen Entdeckungen führt. Wer die Philosophie der Freiheit schon kennt und vieles darin nicht versteht, dem wird sich eine völlig neue und begreifliche Welt eröffnen. Und wem sie noch fremd ist, der wird vielleicht das Bedürfnis nach einer Begegnung verspüren, mit der realistischen Aussicht nicht schon nach den ersten Schritten darin unterzugehen.

Ziegler schätzt die übersichtlichen und exakten Begriffe. Dies ist ein ganz besonderes Qualitätsmerkmal seiner Schrift. Hier entfaltet er sein ungewöhnliches Talent zum klaren und präzisen Denken. Mancher Leser, dem das etwas beschwerlich erscheint, sollte sich davon nicht entmutigen lassen und bedenken: Im Geistigen gibt es kaum Handgreiflicheres als Begriffe. Auf ihnen baut das Verständnis der Philosophie der Freiheit ebenso auf wie das der geistigen Welt. Und Begriffe wie naives reines Denken oder beobachtungsbewußtes Denken sind Forschungsresultate, aber auch als unentbehrliche Werkzeuge in diesem Bereich so überlebenswichtig wie das Navigationsgerät des Fliegers oder das Utensil des Alpinisten, das den Kletterer in Eiswänden und Überhängen vor dem Absturz bewahrt. Und wie bei jedem Werkzeug muß der Gebrauch am Objekt erst eingeübt werden.

Als Kernstück seines Buches versteht der Autor den Teil II. Dieser dürfte auch für die meisten der attraktivste und fruchtbarste sein. Der Leser erwirbt sich hier ein klares Verständnis vom reinen (intuitiven) Denken. Lernt den Unterschied kennen zwischen dem naiven und dem beobachtungsbewußten reinen Denken. Erlangt einen deutlichen Begriff von der Intuition und ihren verschiedenen Varianten. Die Erfahrungsformen des «Ich» werden erarbeitet von der naiven Ich-Erfahrung bis hin zum Verständnis der Leibesunabhängigkeit von reinem Denken und reinem «Ich». Über die verschiedenen Formen des freien Handelns, das verantwortungsvolle Handeln in der Gemeinschaft und Stufen der individuellen Entwicklung führt das Buch hin bis zur mehr hypothetisch erörterten Möglichkeit der Reinkarnation auf der Grundlage des Erarbeiteten. Beigefügt sind neben zahlreichen Anmerkungen und Ergänzungen, Erläuterungen zu ausgewählten Abschnitten der Philosophie der Freiheit, sowie ein ausführliches Sachregister.

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