Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Zur Unbewusstheit des aktuellen Denkens

(Stand 23.05.04)

Kapitel 3.1

Unbewusstheit des aktuellen Denkens bei Michael Kirn

Wir wollen zunächst das Resultat dieser Konfusion bei Michael Kirn hier exemplarisch an einigen Punkten aufzeigen. Der wohl zentrale und in meinen Augen folgenschwerste Gesichtspunkt seiner Interpretation ist der, das aktuelle Denken verlaufe stets unbewußt. Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens ist gleichbedeutend mit seiner Unbewußtheit. Es ist damit auch gleichbedeutend mit seiner Nichterfahrbarkeit, denn weil es unbewußt ist läßt es sich nicht unmittelbar erleben, sondern nur noch mittelbar aus seinen Wirkungen oder Symptomen erschließen und hypothetisch erläutern. Damit liegt Kirn sachlich gesehen auf derselben Interpretationslinie wie Herbert Witzenmann, der diesem Zusammenhang in seiner "Strukturphänomenologie" explizit von einer "Paradoxie der Selbstgebung" spricht 3, und für den das Problem, "wie aus Unbeobachtbarem Erinnerungen werden können?" zur "erkenntnistheoretischen Grundfrage" geworden ist. Zentral und folgenschwer ist dieser Gesichtspunkt, weil er im Kern der Position Eduard von Hartmanns entspricht, gegen die sich Steiner im Zusatz zum dritten Kapitel der "Philosophie der Freiheit" so vehement wendet. Er impliziert die Preisgabe der Durchschaubarkeit des Denkens auf der Herkunftseite und damit die Preisgabe einer empirisch gegründeten Erkenntnistheorie sowie der menschlichen Freiheit.

Es gibt einige Passagen in Kirns Buch, die seine Auffassung von der prinzipiellen Unbewußtheit des aktuellen Denkens deutlich machen. Beginnen wir mit seinen Erläuterungen zu Steiners Ausführungen im Zusammenhang mit der Selbstvergessenheit des Denkens. Auf S. 42 (GA-4) bezieht Steiner Stellung zur Tatsache, daß wir das Denken im alltäglichen Geistesleben nicht beobachten. Einleitend dazu schreibt Kirn (S. 135): "Warum ist beim Vollzug des letzteren [des kleinen Denk-Ereignisses, MM] die Denktätigkeit als solche unbeobachtbar? Wohin verschwindet sie, wenn wir in die Denkvergessenheit fallen? Mit der Frage nach einem solchen «Grund» erfährt das kleine Denk-Ereignis eine Vertiefung." 4 Anschließend wird Steiner zitiert: «Der Grund, warum wir das Denken im alltäglichen Geistesleben nicht beobachten, ist kein anderer als der, daß es auf unserer eigenen Tätigkeit beruht. Was ich nicht selbst hervorbringe, tritt als ein Gegenständliches in mein Beobachtungsfeld ein. Ich sehe mich ihm als einem ohne mich zustande Gekommenen gegenüber; es tritt an mich heran; ich muß es als die Voraussetzung meines Denkprozesses hinnehmen. Während ich über den Gegenstand nachdenke, bin ich mit diesem beschäftigt, mein Blick ist ihm zugewandt. Diese Beschäftigung ist eben die denkende Betrachtung . . .» Der Grund, den uns Steiner hier (S. 43) selbst für die Unbewußtheit des Denkens nennt, ist eher trivialer Natur: Ich bin im gewöhnlichen Geistesleben mit dem fremdgegebenen Gegenstand beschäftigt, indem ich diesen denkend betrachte. Weil mein Denken ebenso wie meine Aufmerksamkeit davon absorbiert sind, achte ich nicht auf mein Denken: "Nicht auf meine Tätigkeit, sondern auf das Objekt dieser Tätigkeit ist meine Aufmerksamkeit gerichtet. Mit anderen Worten: während ich denke, sehe ich nicht auf mein Denken, das ich selbst hervorbringe, sondern auf das Objekt des Denkens, das ich nicht hervorbringe."

Bei Steiner ist die Aufmerksamkeit auf das fremdgegebene Objekt der Betrachtung gerichtet, den Gegenstand der (Sinnes)Wahrnehmung, so würden wir in folgerichtiger Anknüpfung an die vorangehenden Passagen vermuten. Und deswegen ist uns unsere Denktätigkeit nicht bewußt. Kirn schreibt dazu (S. 136): "...in dem Satz steht auf der einen Seite das im Denken Hervorzubringende als ein wirkliches Potential, dem auf der anderen Seite das Anblicken des Nichthervorgebrachten als eine Wahrnehmung [gleich "Objekt des Denkens", MM] entsprechen würde, die aber hier gar nicht wirklich gemeint ist. Was sich ... vielmehr wirklich gegenübersteht, ist das im Denken Hervorzubringende und das Nichtanblicken desselben, die Unbewußtheit des Hervorbringens als solche." Gewiß, so könnte man Kirn beipflichten, ist hier das "Unbewußte des Hervorbringens" gemeint. Denn genau auf die Unbewußtheit des eigenen Denkprozesses hebt Steiner an dieser Stelle ab. Während ich denkend ein Wahrnehmungsobjekt betrachte, bin ich davon so absorbiert, daß mir die eigene denkende Tätigkeit entgeht.

Nun darf man allerdings nicht übersehen, daß Steiner hier noch vom "gewöhnlichen" oder "alltäglichen" Geistesleben spricht, und damit einem Denken, dem sich unser Erkenntnisinteresse noch gar nicht zugewandt hat: "Die erste Beobachtung, die wir über das Denken machen, ist also die, daß es das unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens ist. ... Der Grund, warum wir das Denken im alltäglichen Geistesleben nicht beobachten, ist kein anderer als der, daß es auf unserer eigenen Tätigkeit beruht." So alltäglich das Geistesleben, so alltäglich auch der Anlaß, warum uns das Denken hier nicht bewußt ist. Wir achten einfach nicht darauf, weil wir kein Interesse daran nehmen. Kann man aber die banale Unbewußtheit infolge von Achtlosigkeit oder fehlendem Interesse, von der bei Steiner die Rede ist, schon gleich zu einem allgemeinen Gesetz der Unbewußtheit des Denkprozesses hochstilisieren, wie dies bei Kirn geschieht?

Kirn schreibt nämlich weiter: "Damit tritt in der Aussage, daß unsere Denktätigkeit im Unbewußten verlaufe, der Aspekt hervor, daß diese Unbewußtheit wirklich ist, d.h. es wird ein Paradox aufgedeckt, an dem alle Allgemeinaussagen über unbewußte Vorgänge leiden. Denn es wird damit etwas als allgemeingültig behauptet, was wir nach eben dieser Behauptung im Erlebnis des Einzelfalls nicht wissen können. Also können wir es, so ist aus dem Paradox zu folgern, nur im allgemeinen wissen, das heißt: wir müssen an dem Ort des Allgemeinwissens überhaupt, im Ausnahmezustand des transzendentalen Bewußtseins, darüber Aufklärung suchen." Während bei Steiner noch vom "gewöhnlichen" oder "alltäglichen" Geistesleben die Rede ist, wir also zum eigentlichen Kernpunkt der Angelegenheit noch gar nicht vorgedrungen sind, scheint für Kirn schon ausgemacht, daß das Denken immer unbewußt verläuft. "Also können wir es, so ist aus dem Paradox zu folgern, nur im allgemeinen wissen, das heißt: wir müssen an dem Ort des Allgemeinwissens überhaupt, im Ausnahmezustand des transzendentalen Bewußtseins, darüber Aufklärung suchen." Die von Kirn erwähnte "Aufklärung im Ausnahmezustand" wäre vielleicht aussichtsreich, wenn sich die Sachlage dort anders darstellen sollte, d. h. wenn uns dort das aktuelle Denken in Form bewußter Erfahrungen zugänglich wäre. Das ist aber laut Kirn nicht der Fall, wie wir unten bei seiner Behandlung der Beobachtung des aktuellen Denkens noch sehen werden.

Nun hat Steiner oben nicht behauptet, daß unser Denken immer unbewußt verläuft. Er hat nur gesagt, was jedermann mit beifälligem Achselzucken zur Kenntnis nehmen würde, weil es banal ist. Nämlich daß wir auf unser Denken normalerweise nicht achten, weil wir an ihm selbst kein Interesse haben, sondern an dem Gegenstand, auf den es sich richtet. Hat er dann etwa ein Paradox aufgedeckt? - Gott bewahre! Welches denn? Was er ausführt ist doch nicht mehr als eine Binsenweisheit: Worauf wir nicht achten, das ist uns nicht bewußt, obwohl es uns bewußt hätte sein können, wenn wir Interesse gehabt hätten. So manchem klingen wohl noch schmerzlich die Ermahnungen von Eltern oder Lehrern in den Ohren: "Paß bloß auf, daß Du nicht schon wieder den ganzen Mathematikunterricht verschläfst!" Gibt es an dieser Stelle also aus irgend einem Paradox etwas zu folgern? - Nun, wenn wir hier überhaupt etwas folgern können, dann, daß wir beim nächsten mal besser aufpassen sollten.

Was uns Kirn hier anbietet, ist eine Interpretation, die bestimmte Aussagen Steiners von der Gewichtung her anders setzt, als sie vom Autor gemeint sind. Das heißt: Steiners Aussagen werden im Sinne einer persönlichen Interpretationsstrategie hermeneutisch in eine Richtung verschoben, wohin sie dem Anliegen ihres Urhebers nach gar nicht gehören. Denn immerhin spricht Steiner an der fraglichen Stelle auch davon, daß das Denken "auf unserer eigenen Tätigkeit beruht", "daß wir es selbst hervorbringen" und das läßt sich keinesfalls im Sinne einer Unbewußtheit dieses Prozesses verstehen.

Das Phänomen hermeneutische Verschiebung zeigt sich in etwas milderer Form auch an Kirns weiterer Erläuterung der eben behandelten Passage aus der "Philosophie der Freiheit". Wenn Steiner dort (S. 42 f) schreibt: "Was ich nicht selbst hervorbringe, tritt als ein Gegenständliches in mein Beobachtungsfeld ein. Ich sehe mich ihm als einem ohne mich zustande Gekommenen gegenüber; es tritt an mich heran; ich muß es als die Voraussetzung meines Denkprozesses hinnehmen. Während ich über den Gegenstand nachdenke, bin ich mit diesem beschäftigt, mein Blick ist ihm zugewandt." dann beschreibt er hier ganz neutral einen einfachen, aber fundamentalen erkenntnispsychologischen Sachverhalt. Nach Kirn indessen handelt es sich hierbei um eine "dramatisierte Situation", und entsprechend aufgeladen sind auch seine eigenen Beispiele, mit denen er Steiners Aussage illustriert.

Er erklärt (S. 135 f): "Die eigene Tätigkeit, von der der Einleitungssatz dieses Abschnittes spricht, ist der oben geschilderte begriffliche Aufbau, den wir im Blick auf das Objekt, im Zugehen auf das Urteil über die Sache, als einen geistigen Ernährungsprozeß vollziehen. Das kleine Denk-Ereignis beginnt allerdings schon vorher, indem ich etwas als Objekt in den Blick nehme. Wenn ich beim Betreten eines gut besuchten Restaurants einen «freien Tisch» sehe, wird diese Situation anders in mein Beobachtungsfeld eintreten, als wenn ich in einer Kunsthalle etwas in einem Raum erblicke, der als «Installation» mit dem Titel «Tisch und sonst nichts» angezeigt ist. Ganz anders erlebe ich wiederum das Anmichherantreten von Gegenständen auf der Theaterbühne. Wenn z. B. in einer Streitszene der eine mit der Faust auf den Tisch schlägt, dann halte ich mich nicht mit der Bildung einer Vorstellung dieser Gegenstände (Tisch, Faust, Schlag) auf, sondern ich verfolge gespannt, wie der andere reagiert, wie ein Dritter dazwischentritt, um den Streit zu schlichten usw. Das muß hier berücksichtigt werden, weil Steiner in <13>, S. 2ff. tatsächlich von einer dramatisierten Situation des In-den-Blick-Nehmens spricht. Das Gegenständliche tritt herein, «ich sehe mich ihm gegenüber», «es tritt an mich heran», ich muß das Geschehen als eine Voraussetzung meines Denkprozesses «hinnehmen». Während ich das auf der Bühne Gegebene verfolge, findet in mir eine Gedanken- und Gefühlsentwicklung statt, welche für das Bewußtsein durch die Bildhaftigkeit des dramatischen Geschehens verdeckt bleibt."

Wenn wir von einer Person sagen, daß sie etwas dramatisiert, dann meinen wir im gewöhnlichen Sprachgebrauch damit, daß sie übertreibt. Sei es willentlich, strategisch-rhethorisch, um etwa bestimmte Ziele in einer Verhandlung zu erreichen, oder sei es mehr aus dem Affekt heraus, weil sie sich von irgend etwas emotional attackiert fühlt. Auf jeden Fall wird man annehmen, daß sich die Angelegenheit bei nüchterner Betrachtung nicht ganz so verhält, wie die betreffende Person sie schildert: Es ist etwas dick aufgetragen, sehr subjektiv gefärbt, was uns mitgeteilt wird. Wenn Kirn nun sagt, Steiner dramatisiere eine Situation, dann entspricht das wenig dem Anliegen Steiners, sondern lenkt den Blick in die falsche Richtung, denn genau das Gegenteil liegt Steiners Sprachgebrauch zugrunde. Der Ertrag einer aufs äußerste gesteigerten sublimen und vor allem sachbezogenen Aufmerksamkeit - und ein solcher ist letztlich die Unterscheidung zwischen Selbstgebung und Fremdgebung - wird von Kirn in eine Art Erlebnisdramaturgie umgewandelt, die wohl alles andere bewirken könnte, nur keine diesbezügliche Differenzierung. Und gerade über das, worauf es bei dieser Unterscheidung ankommt, schweigt Kirn sich aus: Sie setzt nämlich voraus, daß der aktuelle Denkprozeß bewußt ist.

Betrachten wir einmal die Unterscheidung Fremdgebung - Selbstgebung: Das Fremdgegebene "tritt in mein Beobachtungsfeld ein" bzw. "an mich heran", schreibt Steiner. Damit ist absolut nichts Dramatisches gemeint sondern zunächst: Das Fremdgegebene befindet sich außerhalb meiner Einflußsphäre. Es setzt mir, wenn man so will, eine gewisse Widerständigkeit oder ein Eigensein entgegen. Es fragt mich nicht, ob mir sein Erscheinen paßt oder nicht, sondern ist einfach da. Es tritt in mein Bewußtseinsfeld ein, ohne daß ich aktiv etwas dazu beigetragen hätte. "ich muß es als die Voraussetzung meines Denkprozesses hinnehmen." Ich bin ihm gegenüber der Annehmende, Aufnehmende, Erleidende. Derjenige, dem etwas geschieht, der seinem Gegenüber hingegeben ist, ganz gleich ob dieses ein einfacher Radiergummi oder der amerikanische Präsident ist. Ganz unabhängig auch von sonstigen Begleitumständen, in welche dieses Andere eingebettet sein mag. Und ebensowenig, wie ich auf sein Erscheinen Einfluß nehme, kann ich es durch bloße Willensanstrengung wieder wegschaffen - jedenfalls nicht, sofern es sich um einen echten externen Gegenstand handelt. Genau genommen handelt es sich hier um eine diffizile erkenntnistheoretisch bedeutsame Unterscheidung, auf die das Erleben am fremdgegebenen Gegenstand aufmerksam macht. Es ist die Bewußtseinseinstellung der "Selbstlosigkeit" aus den "Grundlinien ...", von der Steiner hier spricht.

Ich glaube auch nicht, daß Steiner, wie Kirn schreibt, hier schon einen "begrifflichen Aufbau" des Objektes im Blick hat, wenn er auf dieser elementaren Ebene von "Fremdgebung" spricht. Worauf er hinweisen will ist eher, daß etwas schon als Erlebtes oder Erfahrenes da ist, bevor ich beginne, es begrifflich aufzubauen, bevor ich beginne, ihm etwas Eigenes entgegenzusetzen. Von Seiten der Erkenntnistheorie mag man damit seine Schwierigkeiten haben, aber darauf kommt es hier nicht an, weil es uns hier um Verständnis und nicht um Kritik der Auffassung Steiners geht. Der Kern der Sache, das erkenntnistheoretisch und -psychologisch Bedeutsame, worauf Steiner hier bewußtseinsphänomenologisch hinarbeitet ist folgender: Das Erleben am Fremdgegebenen ist qualitativ anders geartet als das der Selbstgebung im Denken. Und zwar so anders, daß es mir ein Differenzierungskriterium an die Hand gibt, jeden Typ von Welterlebnis in dieser Hinsicht eindeutig zu bestimmen. Ob etwas fremdgegeben oder selbstgegeben ist, das läßt sich anhand jedes alltäglichen Sachverhaltes angeben, weil sich jedes Erlebnis grundsätzlich einer dieser beiden Kategorien zuordnen läßt, ganz gleich, wie das Erlebnis sonst noch beschaffen sein mag und in welchem Kontext es anzusiedeln ist. Damit verfügen wir - etwas ins Technische gewendet - über die Nullkoordinaten des Welterlebens. Fremdgebung oder Selbstgebung sind genau genommen Basiskategorien der Weltauffassung und des Welterlebens. (Man beachte in diesem Zusammenhang auch, daß Aktivität und Sensibilität zwei der zehn Aristotelischen Kategorien sind.)

Die subtile Unterscheidung zwischen beiden Varianten der Gegebenheit ist epistemologisch ebenso wichtig, wie sie den Philosophen oder Psychologen oft schwer fällt, zumal in weniger eindeutigen Fällen. Auf diesen Umstand weist Steiners ausführliche Bemühung hin, auf S. 40 f etwa das Fühlen vom Denken abzugrenzen. In Fragen des eigenen Seelenerlebens ist diese Bestimmung nicht immer ganz einfach, weil die Übergänge zwischen Selbst- und Fremdgebung oft fließend erscheinen. Zu eigentätig hevorgebrachten Gedanken gesellen sich oft genug Assoziationen, die nur scheinbar in Eigenregie von uns gezeugt sind. In Wirklichkeit haben sie sich ganz stikum im Kielwasser von Gefühlsregungen oder quasi aus heiterem Himmel auf unserer Bewußtseinsbühne breitgemacht, und erweisen sich oft sogar als die stärkeren, mitunter auch fruchtbareren Gedankeninhalte, wie unverhoffte Einfälle, die uns dann und wann regelrecht überfallen. Wer wüßte kein Lied davon zu singen? Auch das Problem der Unterscheidung war Steiner bestens bekannt, und so fügt er im Zusatz von 1918 (S. 54 f) folgende Bemerkung dem dritten Kapitel hinzu: "Wenn zum Beispiel eine Lust gefühlt wird, kann eine feinere Beobachtung sehr wohl unterscheiden, inwieferne das «Ich» sich mit einem Tätigen eins weiß und inwiefern in ihm ein Passives vorhanden ist, so daß die Lust für das «Ich» bloß auftritt. Und so ist es auch bei den andern Seelenbetätigungen. Man sollte nur nicht verwechseln: «Gedankenbilder haben» und Gedanken durch das Denken verarbeiten. Gedankenbilder können traumhaft, wie vage Eingebungen in der Seele auftreten. Ein Denken ist dieses nicht."

Diese Unterscheidung zwischen selbstgegebenem Denken und Fremdgegebenem weist nun auch auf etwas anderes hin, was für das Verständnis des Phänomens "Denk-Beobachtung" wesentlich ist: Ich kann sie nämlich nur treffen, wenn mir beide Erlebnisformen sehr bewußt sind. Gerade die besonders heiklen Fälle zeigen, wie genau ich das Erlebnis der eigenen aktiven Denktätigkeit kennen muß, um auch hier zu einer stichhaltigen Unterscheidung zu kommen. Ohne eine unmittelbare und fein justierte Erlebnisgrundlage meiner Denktätigkeit wäre ich völlig mittellos, eine auf leisen Sohlen daherkommende Assoziation von einem tätig hervorgebrachten Gedanken zu sondern, weil ich beide dann nicht mehr bezüglich ihrer Herkunft miteinander vergleichen könnte, was für eine entsprechende Bewertung unerläßlich ist. Und wenn sich Denken und Fühlen wie so oft miteinander verquicken, dann ließe sich nicht mehr sagen, was von beiden den Strom unserer Vorstellungen eigentlich unterhält. Mein Bewußtsein gäbe dann bestenfalls noch den Schauplatz her für etwas, das sich ereignet, von dem ich aber nicht weiß, wie es ursächlich mit mir zusammenhängt. Die Differenzierung nach Eigentätigkeit oder Aktivität verlangt also ein Bewußtsein dieser Eigentätigkeit und zwar bis in die allerfeinsten Ausläufer dieser Aktivität. Die nötigen Abgrenzungen kann ich nur vollziehen, wenn ich sowohl über das konkrete, faktische Erlebnis der Eigentätigkeit des Denkens verfüge wie über das konkrete, faktische Erlebnis der Fremdgebung.

Das heißt: Steiners Konzept der Selbstgebung des Denkens steht im eklatanten Widerspruch zu jeglicher Auffassung, die das gegenwärtige oder tätige Denken zu einem grundsätzlich unbewußten Geschehen macht. Weil nämlich genau das, worauf es bei dieser Unterscheidung ankommt, das Tätigkeitserlebnis des eigenen Denkens, dann ins Unbewußte verschwunden wäre, und mit ihm auch meine Unterscheidungsgrundlage. Dem Steinerschen Resümee (GA-4, S. 49 f): "Es ist also zweifellos: in dem Denken halten wir das Weltgeschehen an einem Zipfel, wo wir dabei sein müssen, wenn etwas zustandekommen soll. Und das ist doch gerade das, worauf es ankommt. Das ist gerade der Grund, warum mir die Dinge so rätselhaft gegenüberstehen: daß ich an ihrem Zustandekommen so unbeteiligt bin. Ich finde sie einfach vor; beim Denken aber weiß ich, wie es gemacht wird. Daher gibt es keinen ursprünglicheren Ausgangspunkt für das Betrachten alles Weltgeschehens als das Denken." fehlte bei genereller Unbewußtheit des gegenwärtigen Denkens jegliche Erfahrungsbasis. Wenn das tätige Denken unbewußt verläuft, dann sind wir gerade nicht mit unserem Ich dabei und noch viel weniger können wir dann wissen, wie es zustande kommt. Von einer einer gedanklichen Eingebung oder Assoziation weiß ich nicht genau, woher und warum sie kommt. Ich kann wohl, wenn sie da ist, ihren Inhalt angeben, doch über ihre Entstehung und ihren Weg lassen sich nur Mutmaßungen anstellen. Wäre mir die Erfahrung des tätigen Denkens nicht geläufig, dann wäre für mich mein Denken und das Assoziieren einerlei und die Herkunft meines Denkens nicht mehr als ein Rätsel unter vielen anderen. Es ist also nur einleuchtend, wenn Steiner viele Jahre nach Erstausgabe der Philosophie der Freiheit vortragsweise darauf hinweist, daß das prägnante Fazit aus dem dritten Kapitel aus dem "vollen Erleben der Aktivität des Denkens" heraus entstanden sei. (Siehe dazu GA-78, 1968, S. 38 ff, insbesondere S. 42. Vortrag vom 30. August 1921.  Zusatz 1 in dieser Arbeit ) Dieses volle Erleben der Aktivität des Denkens ist eine absolut notwendige Voraussetzung, um zu diesem folgenschweren philosophischen Resultat zu gelangen, daß wir "in dem Denken ... das Weltgeschehen an einem Zipfel" halten, "wo wir dabei sein müssen, wenn etwas zustandekommen soll." Denn wer Denkakte nicht unmittelbar erlebt, kann bestenfalls auf sie hinspekulieren und ein theoretisches Konstrukt namens Denkakt und theoretische Fiktionen über eine in diesem erreichte aktive Teihabe am Weltgeschehen generieren, ohne sie in empirischen Tatsächlichkeiten zu verankern. (Siehe hierzu auch auf dieser Homepage KritbrKommentar.html sowie Akt2.html) Freilich könnte man Steiner vorhalten, daß er diesen Sachverhalt in der ersten Ausgabe der Philosophie der Freiheit so wenig sichtbar gemacht hat, daß ihn augenscheinlich noch nicht einmal sein unmittelbarer Schüler, Walter Johannes Stein, im Rahmen seiner Dissertation klar erfaßt hat. (Ausführliches dazu siehe hier) In der Tat hat Steiner sich ja auch durch verschiedene Zusätze und Einschübe im dritten Kapitel in der zweiten Ausgabe von 1918 erkennbar darum bemüht, diesen wichtigen Aspekt etwas deutlicher hervortreten zu lassen.

Halten wir also fest: Beim Begriffspaar "Fremdgebung - Selbstgebung" handelt es sich um eine grundlegende und subtile erkenntnispsychologische Unterscheidung, von gänzlich undramatischem Charakter, obwohl sie - für Steiner zumal - außerordentlich folgenreich ist. Es ist eine Unterscheidung, die nur getroffen werden kann unter der Voraussetzung, daß die Selbstgebung auch Bestandteil bewußter Erfahrung ist oder sein kann. Oder um es noch einmal anders zu wenden: Eine Erfahrung der tätigen Selbstgebung des Denkens zu haben kann nur heißen, eine Erfahrung des aktuell tätigen Denkens zu haben. Denn nur das aktuelle Denken ist wirklich tätig. Ein Denken, das nicht aktuell ist, ist auch nicht tätig. Dann kann es das Denken von vorhin oder von nachher sein - ein Denken, das bereits getätigt wurde oder eines, das erst noch getätigt werden wird. Zur Tätigkeit jedoch gehört Aktualität. In der Vergangenheit »war« man schon tätig und in der Zukunft »wird« man es erst sein. Aber man »ist« es nur in der Gegenwart.

Kirns Interpretation hingegen läuft auf etwas anderes hinaus: das gegenwärtige Denken ist nicht erlebbar, sondern verläuft unbewußt. Das Denken als faktische und aktuelle Erfahrung ist nicht greifbar, sondern läßt sich nur noch im allgemeinen zum Gegenstand transzendentaler Reflexion machen. Was uns bleibt, sind paradoxe Erinnerungen an Unbeobachtbares und die Ereignisse fremden Denkens. So knüpft er auf S. 138 an Steiners Zitat an "«Das Denken, das beobachtet werden soll, ist nie das dabei in Tätigkeit befindliche, sondern ein anderes Ob ich zu diesem Zwecke meine Beobachtungen an meinem eigenen früheren Denken mache, oder ob ich den Gedankenprozeß einer anderen Person verfolge, oder endlich, ob ich, wie im obigen Falle mit der Bewegung der Billardkugeln, einen fingierten Gedankenprozeß voraussetze, darauf kommt es nicht an» ...). Die letztere Feststellung entfernt uns radikal von allen psychologischen Vorstellungen des «Unbewußten», die immer schon auf Versöhnung meiner mit dem in mir unterdrückten Bewußtseinsinhalt angelegt sind. Im Wesensbereich des Denkens gibt es nichts zu versöhnen, da hier nichts unterdrückt ist. Es gibt nur ein Gesetz der geistigen Produktion, welches besagt, daß etwas außerhalb der Reichweite meiner Denkbeobachtung entsteht, das ich zu erinnern habe. Dieses Unbeobachtete kann in mir (unbewußt) produziert sein, es kann aber auch aus dem Miterleben fremdproduzierter kleiner Denk-Ereignisse entstehen. In dem letzteren Fall sind es eben die Intuitionen anderer, die ich verinnerliche; aber auch dann stehen die Momente Produktivität und Erinnerung in dem bestimmten zeitlichen Verhältnis zueinander."

Wir sehen, daß Michael Kirn hier in ein ähnliches Dilemma gerät wie Herbert Witzenmann, wenn er uns erklärt: "Es gibt nur ein Gesetz der geistigen Produktion, welches besagt, daß etwas außerhalb der Reichweite meiner Denkbeobachtung entsteht, das ich zu erinnern habe. Dieses Unbeobachtete kann in mir (unbewußt) produziert sein, es kann aber auch aus dem Miterleben fremdproduzierter kleiner Denk-Ereignisse entstehen." Welchen Sinn sollen wir mit einer Erinnerung verbinden, der nichts konkret, ursprünglich Erfahrbares und Erfahrenes entspricht? Gegenüber einem nicht Erfahrenen ist der Begriff der Erinnerung unangemessen. Zum Erinnern gehört, daß einmal etwas in meinem Bewußtsein gegenwärtig war, das ich nach seinem Fortgang in Form eines Bildes neu belebe. Das könnten im Fall der eigenen Denktätigkeit aber nur Erfahrungen sein, die ich im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Denktätigkeit gemacht habe. Wenn mir diese nicht bewußt ist, dann gibt es im Zusammenhang damit auch nichts zu erinnern, sondern nur etwas hypothetisch zu erschließen.

Sehen wir uns ein weiteres Beispiel an, das uns zeigen wird, daß die Unbewußtheit des tätigen Denkens bei Kirn keineswegs auf das "alltägliche" oder "gewöhnliche" Geistesleben beschränkt bleibt. Es gilt - und das ist das Entscheidende an seiner Arbeit - auch für den Fall eines direkt auf das Denken gerichteten Erkenntnisbemühens. Dieser Gesichtspunkt ist deswegen der beunruhigendste an seiner Interpretation, weil er so grundlegend ist und im völligen Gegensatz zu Steiners eigener Auffassung steht, wie wir oben schon ausgeführt haben und noch weiter darlegen werden.

Auf S. 137 spricht Kirn über die Unbewußtheit des tätigen Denkens, und zwar diesmal im direkten Zusammenhang mit der Steinerschen Behauptung von der Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens. Da Steiner dort erklärt, das aktuelle Denken sei niemals beobachtbar, und Kirn diese Unbeobachtbarkeit explizit gleichsetzt mit Unbewußtheit des aktuellen Denkens, wird konsequenterweise das aktuelle Denken entsprechend der Kirnschen Lesart niemals zum Gegenstand bewußter Erfahrung. Und das liegt ganz auf der Linie dessen, was wir bereits zu dieser Angelegenheit ausgeführt haben.

So schreibt Kirn im Hinblick auf die Ursache der von Steiner behaupteten Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens beziehungsweise der Persönlichkeitsspaltung: "Auch im transzendentalen Bewußtsein kann das Licht der Zeiterweiterung nicht die Finsternis der Zeittilgung einfach durchlichten und den urphänomenalen Charakter der letzteren auslöschen. Auch hier vollzieht sich die Denktätigkeit in der Weise, daß ich etwas davon für meinen geistigen Körperbau (für die Ernährung meiner ideellen Lebensgewohnheiten) verbrauchen muß, ohne diesen Prozeß zugleich in das Bewußtsein heben zu können. Wollte ich jene Durchlichtung und diese Verfinsterung meines Denkens gleichzeitig beobachten, müßte ich mich «in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht». Ich müßte dann also selbst wiederum eine dritte Persönlichkeit sein, welche diese beiden Tätigkeiten zugleich «sieht»".

Kirn spricht hier davon, daß ich auch im Ausnahmezustand etwas von meiner Denktätigkeit "verbrauchen muß", und ich daher den Prozeß des Denkens nicht zugleich "ins Bewußtsein heben kann". Daß beides nicht zutrifft, davon könnte uns schon ein aufmerksam durchgeführter Selbstbeobachtungsversuch überzeugen. Und auch für Steiners Auffassung gilt: die Unbeobachtbarkeit ist weder eine Folge von "Verbrauch", noch ist sie auch nur entfernt gleichbedeutend mit "Unbewußtheit" des aktuellen Denkprozesses. Mit dem Ausdruck des "Verbrauchens" deutet Kirn an, die Unbeobachtbarkeit liege an einer gewissen Schwäche oder Minderung der Denkkraft. Davon kann ernsthaft aber nicht die Rede sein. Selbst wenn wir imstande wären, die Denkkraft ins Unbegrenzte zu steigern, würde sich am Sachverhalt der Unbeobachtbarkeit nichts ändern. Denn Anlaß der Unbeobachtbarkeit ist bei Steiner nicht die prinzipielle Unbewußtheit des aktuellen Denkens oder ein Verbrauch, sondern vielmehr der Umstand, daß diese Beobachtung in einer "gegenüberstellenden Betrachtung" des Denkens besteht, und zwar einer Betrachtung, die vom Denken selbst ausgeführt wird. Damit ergibt sich von selbst, daß der Aspekt von Minderung, Verbrauch oder Unbewußtheit für den fraglichen Sachverhalt keinerlei Bedeutung hat. Stattdessen liegt es im Wesen dieser Gegenüberstellung, daß das Denken zuerst einmal etwas erzeugen muß, bevor es dieses gegenüberstellend betrachten kann. Es muß sich selbst etwas geben, einen zu beobachtenden Erfahrungs-Inhalt schaffen, ganz gleich, wie dieses zu beobachtende Etwas im Einzelfall aussehen mag, ob uns mehr an der begrifflichen oder der Tätigkeitseite des Denkens gelegen ist. Und aus diesem Sachverhalt der Selbstgebung folgt trivialerweise, daß es praktisch nichts zu beobachten hätte, wenn es sich auf seinen aktuellen Vollzug richten wollte. Denn es wäre so gut wie nichts vorhanden, beziehungsweise zunehmend weniger vorhanden, je kleiner wir den Moment der »Gegenwart« zeitlich dimensionieren.

Das vorangehende Schaffen ist also die unerläßliche Bedingung des Betrachtens. Auf diesen Umstand weist Steiner im dritten Kapitel eigens an zwei Stellen hin, die nicht zu übersehen sind. Auf S. 43 f: "Zwei Dinge vertragen sich nicht: tätiges Hervorbringen und beschauliches Gegenüberstellen. Das weiß schon das erste Buch Moses. An den ersten sechs Welttagen läßt es Gott die Welt hervorbringen, und erst als sie da ist, ist die Möglichkeit vorhanden, sie zu beschauen: «Und Gott sahe an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut.» So ist es auch mit unserem Denken. Es muß erst da sein, wenn wir es beobachten wollen." Desgleichen auf S. 49 in Verbindung mit Schelling: "Was bei der Natur unmöglich ist: das Schaffen vor dem Erkennen; beim Denken vollbringen wir es. Wollten wir mit dem Denken warten, bis wir es erkannt haben, dann kämen wir nie dazu. Wir müssen resolut darauf losdenken, um hinterher mittels der Beobachtung des Selbstgetanen zu seiner Erkenntnis zu kommen. Der Beobachtung des Denkens schaffen wir selbst erst ein Objekt. Für das Vorhandensein aller anderen Objekte ist ohne unser Zutun gesorgt worden."

Ich habe im letzten Jahrbuch in diesem Zusammenhang von einer "Gegebenheitsbedingung der Beobachtung" gesprochen, die genau den vorliegenden Sachverhalt zum Ausdruck bringt. Das Denken kann nur beobachtet werden, nachdem es getätigt d.h. gegeben ist. Und da es von ihm selbst beobachtet wird, kann das aktuelle Denken niemals »beobachtet«, sondern nur »erfahren« werden. Dieses Gesetz ist unhintergehbar - es gilt absolut. Selbst wenn wir einmal unterstellen, das Denken wäre in der Lage, blitzartig zwischen Produktions- und Beobachtungstätigkeit hin und her zu oszillieren, so hätte - abgesehen davon, daß wir damit zu keinem nennenswerten Ertrag kämen - keine Beobachtung in (Echtzeit( stattgefunden, da die Beobachtungstätigkeit infolge der Doppelfunktion des Denkens als Subjekt und Objekt der Beobachtung seinem Beobachtungsgegenstand notgedrungen nachfolgen muß. Herbert Witzenmann hat, wenn ich ihn recht verstehe, den vorliegenden Tatbestand unter den Titel des "Zeitigungsgesetzes" gebracht. 5 Das ist im Prinzip richtig gesehen. Dieses "Zeitigungsgesetz" besteht tatsächlich. Und zwar gilt es ausschließlich für die "Beobachtung" des Denkens. Witzenmann hat allerdings in seiner Analyse nicht beachtet, daß das Denken nicht nur »beobachtet«, sondern auch »erfahren« werden kann. Und für die »Erfahrung« des Denkens gilt dieses Zeitigungsgesetz nicht. Wir können, wenn wir uns ernsthaft darum bemühen, nicht nur das fertige Produkt des Denkens zum Erlebnis machen, sondern auch den Fertigungsprozeß selbst. Es gibt keine prinzipiellen Schranken dieser Erfahrbarkeit, sondern allenfalls subjektive Grenzen unserer individuellen Wahrnehmungsfähigkeit. Steiners Forderung aus "Wahrheit und Wissenschaft", das "Hervorbringen" von reinen Begriffen und Ideen müsse "unmittelbar gegeben" sein, ist keine Leerformel. Würde indessen das Zeitigungsgesetz auch für die Erfahrung des tätigen Denkens gelten, dann gäbe es gar kein Bewußtsein dieses tätigen Denkens mehr. Das Denken wäre uns dann nicht mehr im Stadium des Hervorbringens sondern nur noch im Stadium seiner Gewordenheit gegeben. Daß er über ein Bewußtsein des Hervorbringens aber verfügt, davon kann sich jedermann anhand seiner eigenen Denktätigkeit überzeugen. Er muß sich dieses Bewußtsein nur nicht wegphilosophieren und wegtheoretisieren lassen.

Nun ist der Umstand, daß vor der Gegenüberstellung erst ein Gegenüberzustellendes vorhanden sein muß nicht der einzige Grund für die Unbeobachtbarkeit des aktuellen Denkens. Es gibt noch einen zweiten, ebenso basalen, aber einen Anlaß methodischer Art. Dieser wird von Steiner sogar an erster Stelle genannt, was wohl auch eine Bevorzugung in der Gewichtung bedeutet. Die Selbstgebung des Denkens hat sozusagen zwei Seiten hinsichtlich der gegenwärtigen Unbeobachtbarkeit. Die erste Seite ist die des "Schaffens" oder tätigen Erzeugens, und die zweite Seite ist die des "Betrachtens" oder "Beobachtens". Weil diese Betrachtung vom Denken selbst ausgeführt wird, ergibt sich auch hier trivialerweise, daß das aktuelle Denken sich nicht selbst betrachten kann - es ist nämlich gerade anderweitig beschäftigt, und zwar mit dem Erzeugen seiner Inhalte. "Ich müßte mich in zwei Persönlichkeiten spalten", wie Steiner auf S. 43 sagt, "in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht, wenn ich mein gegenwärtiges Denken beobachten wollte. Das kann ich nicht. Ich kann das nur in zwei getrennten Akten ausführen." Für den Ausdruck "Zusehen" können wir mit Steiner auch sagen "Betrachten" oder "Beobachten". Und von den "zwei Akten", die er hier erwähnt, ist der erste der Akt des Schaffens oder der Erzeugung und der zweite der Akt der Betrachtung oder Beobachtung. Da ich diese beiden Akte nicht gleichzeitig erbringen kann, es sei denn, ich spalte meine Persönlichkeit, ist auch von dieser Seite die Beobachtung des gegenwärtigen Denkens nicht möglich. Die Spaltung der Persönlichkeit hat damit einen methodischen Anlaß, nämlich den der gegenüberstellenden Betrachtung. Dieser Grund ist gänzlich anders gelagert als der zuvor beschriebene Gegebenheitsanlaß, obwohl beide in der Selbstgebung des Denkens wurzeln. Die Unbeobachtbarkeit des gegenwärtigen Denkens hat demnach zwei Gründe, die ebenso eine Folge der Selbstgebung des Denkens sind wie der qualitativen Identität von Beobachtungsgegenstand und Beobachtungstätigkeit. Mit "Verbrauch" und "Unbewußtheit" der Denktätigkeit jedenfalls hat das alles nichts zu tun.

Was nun Kirns Gedankengang angeht, das aktuelle Denken könne nicht "ins Bewußtsein gehoben" werden, so können wir über das weiter oben Ausgeführte hinaus folgendes sagen: Kirn ist hier demselben Trugschluß erlegen wie Herbert Witzenmann. In ihrer Konsequenz führt diese Überlegung geradewegs ins Absurde. Hätten wir nämlich grundsätzlich keine Wahrnehmung oder Erfahrung unserer aktuellen Denktätigkeit, so könnten wir wahrhaftig nicht erklären, wie wir überhaupt ein Wissen von unseren tätigen Denkvorgängen erlangen sollten. Wir stünden dann vor der paradoxen Frage, wie aus Unwahrnehmbarem Erinnerungen werden können. Denn angenommen, lediglich das »gegenwärtige« Denken sei durch fehlende Bewußtheit gekennzeichnet, so gäbe es selbstverständlich auch keine Erinnerungen an tätige Denkvorgänge. Der Fluß des Denkens in der Zeit ist doch zunächst nichts anderes als eine kontinuierliche Reihung von gegenwärtigen Denk-Momenten - ein Integral von Denkaugenblicken. Betrachten wir einmal so ein zeitliches Kontinuum vom Beginn bis zum Abschluß unserer kognitiven Operation: Wenn der aktuelle Denkakt grundsätzlich unbewußt verlaufen sollte, so gilt dies notwendig für sämtliche aktuellen Zeitpunkte, die wir nacheinander durchlaufen. Damit wird logischerweise der gesamte Denkprozeß zu einem unbewußten Geschehen, gleichgültig, wie lange er andauert. Dann ist nämlich der Zeitpunkt T1 zu Beginn unseres Denkprozesses ebenso von Unbewußtheit geprägt, wie es alle unmittelbar nachfolgenden aktuellen Zeitpunkte T2, T3, T4 ... Tn der ganzen Reihe sind, bis einschließlich dem Abschluß unserer Denkoperation. Es kann aber die Gesamtheit einer entsprechenden Reihung unbewußter Momente schwerlich bewußter sein als die jeweiligen Einzelmomente, aus der die Reihe oder das Integral besteht, wie die beliebige Addition von Null und Nichts am Ende auch nur Null und Nichts ergeben kann. Wir hätten folglich von dem gesamten Vorgang des Denkens kein Bewußtsein, womit es sich erübrigt, überhaupt weiter von tätiger Selbstgebung des Denkens zu reden. Womit und mit welchem Recht sollten wir die Bewußtseinslücke ausfüllen?

Schließlich und endlich will mir schwerlich einleuchten, wie Steiner angesichts der Unbewußtheit des aktuellen Denkens auf die Idee verfallen konnte, "daß nur in der Betätigung des Denkens das «Ich» bis in alle Verzweigungen der Tätigkeit sich mit dem Tätigen als ein Wesen weiß" (GA-4, S. 54). Wie könnte das wohl gehen, wenn das Ich von der entscheidenden Phase dieser Tätigkeit kein unmittelbares Bewußtsein haben sollte? Wie sollte ein unbewußt verlaufender Vorgang eine "überschaubare Tätigkeit" sein, wie Steiner auf S. 56 Eduard von Hartmann gegenüber geltend macht? Zumindest braucht es dazu eine Kontinuität der bewußten Erfahrung, die an keiner Stelle dieses Vorgangs unterbrochen sein darf. Das Entscheidende des Unbewußten ist aber gerade, daß ihm diese Überschaubarkeit mangelt. Das heißt: Der Ausdruck "überschaubare Tätigkeit des Denkens" gilt in zweierlei Richtung: In Richtung seiner Inhalte ebenso wie in Richtung ihrer Herkunft. Die Resultate unbewußter Denkvorgänge aber sind wie das Produkt eines Assoziationsprozesses oder einer Eingebung nur auf der inhaltlichen Seite zu überblicken und nicht auf der Herkunftsseite. Genau darauf pocht Eduard von Hartmann. Und wie sollte ich den ganzen Begründungsaufwand verstehen, den Steiner treibt angesichts der Hartmannschen Überzeugung von der Unbewußtheit des Denkens? Die Steinersche Polemik wäre doch ins Leere gelaufen bei einer diesbezüglich bestehenden Geistesgemeinschaft. Wogegen Steiner sich richtet ist der Hartmannsche Assoziationismus, für den nur das Gewordene übersichtlichlicher Inhalt des Bewußtseins sein kann, aber nicht das Werden. 6

Ende Kapitel 3.1


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