Studien zur Anthroposophie

Michael Muschalle


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Michael Muschalle

Der Verfall der introspektiven Psychologie und das Methodenproblem der Anthroposophie

(Stand 10. 11. 12) Aktualisiert 17.03.22



Kapitel 4 + 5

Potentielle Konvergenzen von Anthroposophie und introspektiver Psychologie.

Eine so klare Scheidung erscheint aus der Retrospektive weniger einleuchtend, als sie vielleicht für Steiner selbst war, dem es hier mehr um die Akzentuierung der Differenzen als der Gemeinsamkeiten ging. Aus der historischen Distanz konturieren sich solche Berührungspunkte jedoch weit stärker als aus der unmittelbaren Gegenwart seiner Zeit. Steiner deutet auf den wesentlichen methodologischen Unterschied zu dieser, aus seiner Sicht "naturwissenschaftlich" genannten Psychologie hin: es geht ihm nicht darum, das gewöhnliche Denken, Fühlen und Wollen zu untersuchen, um auf diesem Wege Auskunft über die höheren Fragen des Seelenlebens zu erhalten, sondern er verändert diese Grundkräfte durch "Seelenübungen" in spezifischer Weise, damit sie das ihnen innewohnende Verborgene offenbaren, und erst dieses kann Auskunft über jene höheren Fragen geben. Steiner gebraucht nicht zufällig in diesem Zusammenhang das Bild einer chemischen Analyse. So wie eine solche Analyse erst nach einer gehörigen Scheidung der Stoffe, einer Reinigung und Verdichtung der Ausgangssubstanzen, den Charakter der beteiligten Elemente sichtbar macht, so muß in analogem Sinne das Seelische durch entsprechende Seelenübungen gereinigt und verdichtet werden, wenn dessen Wesen erkennbar werden soll. Es muß - um bei der Steinerschen Metapher zu bleiben - "labormäßig" zubereitet, aus seinem üblichen Milieu herausgearbeitet und der weiteren Beobachtung erst zugänglich gemacht werden. Die gezielte Veränderung der seelischen Grundkräfte in diesem Sinne ist zentraler Bestandteil der Steinerschen Methodologie.

An dieser Stelle scheinen sich die Wege von Anthroposophie und herkömmlicher Selbstbeobachtungspsychologie zu trennen. Doch diese Trennung, so meine ich, ist keine absolute, weder im Hinblick auf die Methode noch im Hinblick auf die Thematik. Für die Methode gilt, daß diese sich bei Steiner gemäß seiner besonderen Fragestellung verfeinert, weiter ausdifferenziert, womit aber die grundlegenden methodischen Bedingungen und Problemstellungen der gewöhnlichen Introspektion keineswegs obsolet werden. Im Gegenteil setzt die methodologische Verfeinerung der Anthroposophie die Lösung der basalen Probleme einer wissenschaftlichen Selbstbeobachtung voraus. Das heißt, sie hat es nach wie vor mit Fragen des Typs zu tun, die oben angeführt wurden und dazu gesellen sich jene besonderen, die ihr aus ihrer spezifischen Zielrichtung erwachsen.

Doch damit nicht genug. Steiner hat in seiner Schrift "Von Seelenrätseln" (GA-21, 1976, S. 170 f) im Zusatzkapitel 8. Ein oft erhobener Einwand gegen die Anthroposophie ausdrücklich auf die Bedeutung der Psychologie für die wissenschaftliche Grundlegung der Anthroposophie hingewiesen, und zwar in einer Eindringlichkeit, die kaum noch überboten werden kann. Er schreibt dort unter Anknüpfung an Franz Brentano: "Auf einem ganz anderen Felde als diese Forderung nach bequemen Experimentalbeweisen für die anthroposophischen Wahrheiten liegt, was Brentano wollte, indem er immer wieder darnach strebte, in ei­nem psychologischen Laboratorium arbeiten zu können. Die Sehnsucht, ein solches zur Verfügung zu haben, tritt in seinen Schriften oft zutage. Die Umstände haben tragisch in sein Leben eingegriffen, die ihm ein sol­ches versagt haben. Er würde gerade durch seine Stellung zu den psycho­logischen Fragen Wichtigstes durch ein solches Laboratorium geleistet haben. Will man nämlich die beste Grundlage schaffen zu anthropolo­gisch-psychologischen Ergebnissen, die bis an die «Erkenntnis-Grenzor­te» gehen, an denen sich Anthropologie mit Anthroposophie treffen muß, so kann dieses durch ein psychologisches Laboratorium geschehen, wie ein solches Brentano in Gedanken vorgeschwebt hat. Um die Tatsachen des «schauenden Bewußtseins» herbeizuführen, brauchten in einem solchen Laboratorium keine Experimentalmethoden gesucht zu werden; aber durch diejenigen Experimentalmethoden, die gesucht werden, würde sich offenbaren, wie die menschliche Wesenheit zu diesem Schauen veranlagt ist, und wie von dem gewöhnlichen das schauende Bewußtsein gefordert wird. Jeder, der auf dem anthroposophischen Gesichtspunkt steht, sehnt sich ebenso wie Brentano, in einem echten psychologischen Laboratorium arbeiten zu können, was durch die heute noch gegen die Anthroposophie herrschenden Vorurteile unmöglich ist."

Die Psychologie wird hier von Steiner als Vorbereitungswissenschaft verstanden. Als eine, die den Weg ebnet, auf dem die Anthroposophie weiterschreiten kann. Sie vermag dies, weil sich Anthroposophie und herkömmliche Psychologie notwendigerweise in einem Punkte treffen müssen, wie Steiner ausführt. Man kann es auch anders wenden und sagen: Die Psychologie ist natürlich noch keine Anthroposophie, aber sie kann, ja sie muß von einem bestimmten Punkt an zu ihr werden, wenn sie bis zu den Erkenntnis-Grenzorten geht, an denen sie sich mit der Anthroposophie treffen muß, weil dann die ihr immanente Logik ein Weiterschreiten zur Anthroposophie erfordert. Der gemeinsame Treff­punkt gehört dann konsequenterweise beiden Wissenschaftsrichtungen an. Steiners teils kritisches, teils affirmatives Aufgreifen einiger Frage­stellungen Franz Brentanos in der Schrift Von Seelenrätseln unterstreicht diesen Sachverhalt der Durchlässigkeit. Es gibt keine starren Grenzen zwischen einer Psychologie der inneren Beobachtung hier und der An­throposophie dort. Latent ist die Methode der Anthroposophie in der Psy­chologie der Selbstbeobachtung schon vielfach vorhanden. Die Anthro­posophie verfeinert und kultiviert allerdings etwas in besonderer Weise, das als methodische Möglichkeit und Forderung durchaus zutage tritt, wenn man nur genau genug hinschaut.

Der oben von Steiner geschilderte Sachverhalt wird von anthroposophi­schen Autoren gern übersehen oder in seiner Bedeutung arg verkleinert. Da werden dann lieber die Grenzen und Differenzen aufgezeigt anstelle von zwingenden Gemeinsamkeiten, die ja in der Natur der Sache liegen. So auch von Lorenzo Ravagli, nach dessen Bewertung in seiner Medita­tionsphilosophie (Schaffhausen 1993, S. 334 f) eine eingehendere Be­trachtung zeigt, "daß die von Steiner entwickelte Methode der geistigen Selbsterfassung mit der psychologischen Introspektion kaum mehr als die allgemeine Richtung der Aufmerksamkeit gemein hat." - Mit Steiners obi­ger Einschät­zung ist diese Beurteilung wohl kaum zu be­gründen. Ravag­lis Auffas­sung kann nicht für die Anthroposophie im all­gemeinen gelten, weil die­se zumindest an den von Steiner genannten Er­kenntnis-Grenzorten und Grundlagen sich in ihrer Methode nicht grund­sätzlich unterscheiden kann von derjenigen einer Psychologie, die dassel­be Feld bearbeitet. Sie gilt auch nicht für die Philosophie der Freiheit, auf die sich Ravagli im engeren Sinne bezieht, weil diese sich selbst me­thodisch im Bereich der von Steiner erwähnten Erkenntnis-Grenzorte be­wegt. - Und das muss sie auch! Denn die Philo­sophie der Freiheit ver­steht sich für Steiner ja nicht nur als Grundlegung der anthroposophi­schen Geistes­wissenschaft. Sondern von Wissenschaft schlechthin. Und da sie diese Grundlegung auf der Basis empirischer Tat­sächlichkeit von Erfahrungen des Denkens und nicht nur logischer Ana­lysen und Erörte­rungen durch­führt, kann es gar nicht anders sein, als dass sie damit einem Felde der Innenbeobachtung zuzurechnen ist, zu dem je­der Zugang hat, der sich um Grundlegung von Wissenschaft bemüht. Er ist, wenn man Steiner recht versteht, für wissenschaftliche Grundle­gungsbemühungen sogar ver­pflichtend. Um hier Verwirrung zu bremsen, die sich möglicherweise aus einer Kollision von empirischer Wissen­schaft und erkenntnistheoreti­schen Grundforderungen nach Vorausset­zungslosigkeit von empirischen Wissenschaften ergibt, möchte ich den Leser auch hier an ein wichtiges Werk von Johannes Volkelt verweisen, der diese Frage dort eingehend thematisiert. Mit der Bemerkung verse­hen, dass Volkelt in dieser Hin­sicht erkenntnistheoretisch und methodisch / psychologisch für Steiner vorbildlich war. Wofür Steiner sich in Wahrheit und Wissenschaft (Ein­leitung S. 7) später ausdrücklich noch bei Volkelt bedankte. Siehe dazu, Johannes Volkelt, Erfahrung und Denken, Leipzig, 1886. Im Internet alternativ hier zugänglich.

Und in einem, so meine ich, tut Ravagli der Philosophie der Freiheit gedanklich Gewalt an, die geeignet ist, die methodische Verbindung zwischen Anthroposophie und Psychologie der Selbstbeobachtung zu verschleiern: So geht er auf S. 335 ff in Abweisung jeder näheren Verwandtschaft zwischen Anthroposophie und introspektiver Psycholo­gie der für sich genommen durchaus berechtigten Frage nach, was denn vom Standpunkt der Grundlinien oder der Philosophie der Freiheit "als Innenschau und Selbstbeobachtung bezeichnet werden kann." Im engeren Sinne: "Was kann ... vom Standpunkt ... des im Denken tätigen Ich «in­nen» sein?" Wobei er allerdings außer Acht läßt, daß uns in der Philoso­phie der Freiheit Steiner im Kapitel IV. (S. 76 f) eine ganz andere metho­dologisch relevante Unterscheidung präsentiert: "Ich bin in der Lage, die Vorgänge in meinem Organismus bis zu den Prozessen in meinem Gehir­ne zu verfolgen, wenn auch meine Annahmen immer hypothetischer wer­den, je mehr ich mich den zentralen Vorgängen des Gehirn es nähere. Der Weg der äußeren Beobachtung hört mit dem Vorgange in meinem Gehirne auf, und zwar mit jenem, den ich wahrnehmen würde, wenn ich mit physikalischen, chemischen usw. Hilfsmitteln und Methoden das Ge­hirn behandeln könnte. Der Weg der inneren Beobachtung fängt mit der Empfindung an und reicht bis zum Aufbau der Dinge aus dem Empfin­dungsmaterial. Beim Übergang von dem Hirnprozeß zur Empfindung ist der Beobachtungsweg unterbrochen." (Anzumerken ist: Steiners Darlegung ist hier auf die spezielle Frage gerichtet, wie wir Kunde von den äußeren Gegenständen erhalten, daher reicht im vorliegenden Fall die innere Beobachtung bis zum "Aufbau der Gegenstände aus dem Empfindungsmaterial". Der genannte Aufbau der Gegenstände ist hier nicht im Sinne einer absoluten Grenze der inneren Beobachtung gemeint, sondern auf den sachlichen Kontext bezogen.)

Für die methodische Gliederung der Erkenntniswissenschaft in innere und äußere Beobachtung, so viel ist ersichtlich, ist im vorliegenden Fall für Steiner nicht die Frage re­levant, was vom Standpunkt des Ich innen oder außen ist, sondern: Wo liegt die Grenze zwischen naturwissen­schaftlicher und seelenwissen­schaftlicher Beobachtung? Ob die Empfin­dung auch vom Ich aus gese­hen innen liegt, d.h. der Innerlichkeit des Ich selbst angehört, oder ob sie vom Ich aus wie etwas relativ zum Ich Äuße­res angeschaut wird, ist eine durchaus ernstzunehmende Frage, ebenso wie die Frage, ob es relativ zum Ich eine geistige Außenwelt gibt und woran man das festmacht. Doch unabhängig davon wie man das beant­wortet, gilt: Die inneren Vorgänge des unmittelbaren Seelenlebens sind für das externe, na­turwissenschaftliche Verfahren nicht er­reichbar. Die physiologische Untersuchung des Gehirns stößt nie auf Empfindungen, geschweige denn auf Gefühle, Gedanken, Willensprozes­se oder gar auf ein «Ich». Sie findet stets materielle Vorgänge, bzw. deren Korrelate. Schon die Empfindung aber ist etwas Seelisches. Zwischen dem physio­logisch-materiellen Hirnprozeß und dem Seelenerlebnis der Empfindung liegt für die Naturwissenschaft eine unübersteigbare Grenze, die zugleich jene der äußeren und inneren Beobachtung ist. Und genau diese von Stei­ner ange­führte Grenzziehung zwischen äußerer und innerer Beobachtung ist es, die für die Introspektion entscheidend und wissenschaftlich für sie schicksalsbestimmend geworden ist. Und sie ist es auch für die Anthro­posophie.

Fazit: Die geistige Selbsterfassung des «Ich» kann überhaupt nur in der Form der inneren Beobachtung stattfinden. Soweit es also um diese Selbsterfassung geht ist die Anthroposophie apriori eine introspektive Wissenschaft. Aber die innere Beobachtung bleibt nicht auf die geistige Selbsterfassung des «Ich» beschränkt, sondern richtet sich auf sämtliche Erscheinungen des seelischen Innenlebens. Innerhalb dieser Erscheinun­gen liegt auch das «Ich» mit allem was sich daran knüpft. Wie das alles miteinander zusammenhängt, das zu klären ist eben Aufgabe ei­ner Wissenschaft der inneren Beobachtung, die demnach sehr verschiede­ne Teilbereiche dieses Innenlebens ins Auge fassen kann. Es kann dem­nach gar nicht um die Frage gehen, ob andere Vertreter einer Wissen­schaft der inneren Beobachtung auf dem selben Feld forschen wie die Anthroposo­phie oder nicht, sondern darum, ob ihre Methoden, wenn sie denn densel­ben Fragen nachgehen, dem Gegenstand adäquat und leis­tungsfähig ge­nug sind. Und was ihnen die Anthroposophie in dieser Hin­sicht mögli­cherweise voraus hat. Mit Ausgrenzungen ist hier überhaupt nichts ge­wonnen. Vielmehr muß konkret und nicht nur im allgemeinen gezeigt werden, worin denn die besondere Leistungsfähigkeit der anthroposophi­schen Methode besteht, und was einen Nichtanthroposophen dazu bewegen könnte sie sich zu eigen zu machen.

Ich möchte Ravagli, den ich im übrigen ja sehr schätze, hier weiter kei­nen Vorwurf daraus machen, daß er da etwas wichtiges übersehen hat. Vielleicht ist ja in der zweiten Auflage seiner Schrift die Sache anders dargestellt. Aber es scheint mir doch symptomatisch für den desolaten Stand der Steinerforschung insgesamt, wenn in einem so umfangreichen und anspruchsvollen Projekt, wie es sich Ravagli mit seiner Meditations­philosophie vorgenommen hat, eine so grundlegende Steinersche Begriff­lichkeit wie die von innerer und äußerer Beobachtung schlichtweg unge­klärt ist, und sich der Autor infolgedessen zu wissenschaftlichen Abgren­zungen versteigt, die wenigstens zum guten Teil Folge einer unzulängli­chen Begrifflichkeit sind. Während Steiner in der Schrift Von Seelenrät­seln (S. 11-33) und in allerlei weiteren Kapiteln dort vor allem auf die gemeinsame Grundlage und auf das gemeinsame Forschungsfeld von «Anthropologie und Anthroposophie» mit Nachdruck aufmerksam macht. Ravagli, darin sehe ich das Kernproblem, ist in gewisser Hinsicht auch ein Leidtragender der weltanschaulichen Schick­salsgemeinschaft, der er angehört. Und in dieser Schicksalsgemeinschaft ist eingehendere Forschung über derartige Sachverhalte nicht eben ange­sagt. Normaler­weise gehören offene Detailfragen dieser Art sicherlich nicht in Bücher wie die Meditationsphilosophie - da sollten sie längst ge­klärt sein - son­dern in Fachaufsätze. Und dafür braucht es Finanzmittel, Publikations­möglichkeiten und vor allen Dingen - Leser, die an solchen Fragen interessiert sind.

Es wird also von Anthroposophen (vielleicht in der allerbesten Absicht) mitunter einiges getan, um nur ja den Eindruck nicht aufkommen zu las­sen, Steiners Anthroposophie habe sachlich irgend eine mehr als nur oberflächliche Verbindung zur introspektiven Psychologie. Mit der Fol­ge, daß die eigenen methodischen und erkenntniswissenschaftlichen Grundlagen auch für die eigenen Leute vollkommen verschleiert und un­sichtbar werden. Das führt wahrlich nicht weiter, sondern auch noch zur Blindheit gegenüber den methodischen Schwierigkeiten der Introspekti­on, aus dem trügerischen Glauben heraus, Anthroposophie sei keine in­trospektive Wissenschaft und daher von deren Schwierigkeiten nicht be­troffen. Man­cher auch hält sich lieber an Husserl und seine Phänomeno­logie und ist geneigt alles andere als psychologische Verirrung zu etikettieren. Ange­sichts des Umstandes, daß es im gesamten schriftlichen und Vortrags­werk Steiners keinen einzigen (!) sachlichen Verweis auf Husserl, wohl aber mannigfache Verweise auf die Psychologie der Selbstbeobachtung und ihre Methodenfragen gibt, ein erstaunlicher Fall von anthroposophischer Tatsachenverdrängung. - Mindestens ebenso er­staunlich wie das vollständige Übergehen Husserls durch Steiner. (Siehe hierzu auch "Zur Unbewusstheit des aktuellen Denkens, Vorwort")

Jene Wissenschaft, von der Steiner in diesem Zusammenhang spricht, jene Psychologie, welche die "inneren Erlebnisse des Denkens, Fühlens und Wollens" betrachtete, war damals weit entfernt von einem allgemeinen Konsens hinsichtlich ihrer Vorgehensweise und noch viel weiter entfernt von der Überwindung jener methodischen Hürden, die sich dem Selbstbeobachter zwangsläufig stellen - vermutlich waren ihr diese Probleme noch nicht einmal zur Gänze bewußt, weil sie einfach keine Zeit hatte, sie zu entdecken und zu benennen. Bezeichnenderweise verlangte Karl Bühler 1908 vor dem Hintergrund methodologischer Kontroversen mit Wilhelm Wundt ausdrücklich die Entwicklung einer psychologischen Quellenkritik, und zwar: "sowohl eine allgemeine, welche eine Theorie der Selbstbeobachtung überhaupt enthält, als eine individuelle, welche uns ein Maß der Zuverlässigkeit für das einzelne Protokoll einer bestimmten Versuchsperson zu bieten imstande ist."33

Die introspektive Psychologie stand noch ganz am Anfang der Entwick­lung und war tragischerweise von ihrem Beginn ebensoweit entfernt wie von ihrem vorzeitigen Ende. Bei allem Pluralismus an Methoden und Theorien war eines aber sehr bald klar: eine wissenschaftliche Selbstbe­obachtung, wenn sie mehr als nur oberflächliche Erkenntnisse über seeli­sche Zusammenhänge gewinnen will, muß den Beobachter in sehr geziel­ter Weise verändern, muß sein Denken, Fühlen, Wollen und Wahrneh­men schulen, stärken und sensibilisieren, damit eine solche Beobachtung überhaupt Aussicht auf Erfolg hat. Vieles, was in diesem Zusammenhang seinerzeit offen ausgesprochen wurde, findet sich bei Steiner schon vor­weggenommen. Ich habe dies an anderer Stelle ausgeführt.34 Aus den spezifischen Bedingungen der Selbstbeobachtung heraus kommt man ganz naturgemäß zu der Frage: Was muß alles am Beobachter geschult und verändert werden? Wie umfassend können und sollen diese Verände­rungen sein, wie macht man das und was stellt sich möglicherweise in der Folge einer solchen Schulung als Beobachtungsresultat ein?

Obwohl es spekulativ klingen mag: ich halte es nicht für abwegig, hier analogisierend auf die evolutionäre Verzahnung von naturwissenschaftli­cher Erkenntnis und technologischer Entwicklung zu verweisen. Eine technologische Kultivierung und Steigerung der externen Beobachtungs­möglichkeiten bleibt bekanntermaßen nicht folgenlos für den Erkennt­nisstand der Naturwissenschaften und vice versa. Das aktuellste und spektakuläre Beispiel solcher Verzahnung bietet zur Zeit das Hubble Weltraumteleskop mit seinen außerordentlichen optischen Möglichkei­ten. Die technisch verfeinerte Wahrnehmungsfähigkeit dieses Instru­ments führt gerade zu einer Neubestimmung der Hubble-Konstante mit allen sich daraus ableitenden Folgerungen für die Theorie der Kosmogenese, der Sternentstehung und des Weltalters.

Die Instrumente des Selbstbeobachters sind seine seelischen Fähigkeiten, sein Denken, Fühlen, Wollen und Wahrnehmen ebenso wie die ihm zur Verfügung stehende Begrifflichkeit. Was hindert uns daran anzunehmen, daß eine Revision dieses Instrumentariums nicht analoge Erkenntnisschü­be nach sich zieht wie die technologische Verfeinerung des naturwissen­schaftlichen Instrumentariums?

Steiner zielt sehr konsequent auf eine solche Revision hin und sieht man sich zeitgenössische Abhandlungen zur introspektiven Methode an, so stößt man auch dort allenthalben auf die Forderung einer Beobachter­schulung: da wird expressis verbis auf die Notwendigkeit einer guten Ausbildung hingewiesen, wie etwa bei Külpe, oder aber man kommt an Grenzen der inneren Wahrnehmungsfähigkeit, die sich im Prinzip durch ein entsprechendes Training hinausschieben lassen. Die Grundkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens stellen solche Grenzen dar und lassen sich durch entsprechende Maßnahmen erweitern. Äußerungen in dieser Richtung finden sich etwa bei Külpe und Müller. Grenzen anderer Art liegen im Bereich sprachlicher Kennzeichnung und der Begrifflichkeit vor. Was man nicht benennen und denken kann, darüber läßt sich schlecht reden und man übersieht es eben in der Regel. Deswegen hält Müller auch den Fachpsychologen für den erfolgreicheren Beobachter und für Dodge ist völlig klar, daß es in der Selbstbeobachtung nicht an­ders zugeht als in anderen Wissenschaftsbereichen. Anfänger und Laie sehen in einem Mikroskop und bei der Introspektion nur Belangloses, wo sich dem Fachmann eine höchst bedeutsame Welt auftut. (Siehe Anm. 18)

Die Forderung nach Beobachterveränderung geht verständlicherweise noch nicht so weit wie bei Steiner und wird auch nicht mit dessen Entschlossenheit vorangetrieben. Der grundlegende Sachverhalt ist bekannt, was fehlt ist die folgerichtige Umsetzung dieser Einsicht. Gibt es nicht, wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, einen natürlichen Ort der Konvergenz zwischen der Anthroposophie und ihrer wissen­schaftlichen Nachbarin? Muß aus der Sicht der introspektiven Psycholo­gie die anthroposophische Methode nicht als eine sachgemäße Weiterent­wicklung ihres eigenen Vorgehens erscheinen? Und müßte die Anthropo­sophie in dieser Psychologie nicht so etwas wie einen noch unvollständi­gen Vorläufer ihrer selbst sehen können?

Daß diese Veränderungen des Beobachters bei der Selbstbeobachtungs­psychologie zunächst nicht so weit gingen wie beim Steinerschen Ver­fahren und zum Teil auch nur als explizite wissenschaftliche Forderun­gen fern von ihrer praktischen Realisierung im Raum standen, mag aus der einfacheren Fragestellung heraus einleuchten, aber auch aus dem Umstand, daß natürlich auch in dieser Hinsicht die Dinge Zeit brauchten. Institutionalisierte Wissenschaft läßt sich schwerlich innerhalb weniger Jahre umorganisieren, zumal dann nicht, wenn wesentliche Fragen ihrer Vorgehensweise kaum über das reine Stadium der Exploration hinausge­kommen sind. Ich möchte den grundsätzlichen Sachverhalt jedenfalls als deutliches Indiz dafür werten, daß es einen Strang der Kontinuität von dieser Psychologie zur Anthroposophie geben muß und daß die letztere sich durchaus sachlogisch in den Kontext der introspektiven Psychologie eingliedern läßt. Die Konturen dieses Stranges der Kontinuität können noch deutlicher werden, wenn man sich vor Augen hält, wie einer der führenden Psychologen, Oswald Külpe, die weitere methodische Ent­wicklung seiner Disziplin einschätzte und zu methodischen Kategorien von einer Offenheit kommt, die immerhin eine Verständigungsmöglich­keit über das anthroposophische Vorgehen sichtbar werden läßt.

Ein Beispiel dafür ist der Külpesche Terminus des "inneren Experi­ments".35 "Unter einem Experiment" erläutert Oswald Külpe in seinen Vorlesungen über Psychologie von 1922, S. 57 ff "verstehen wir die willkürliche Herstellung eines Phäno­mens zum Zwecke seiner Beobach­tung. ... Beim inneren Experi­ment ruft der Beobachter in sich selbst das zu bestimmende Phänomen hervor. Es gibt ja eine willkürliche Repro­duktion von Vorstellungsbil­dern und Gedanken und deren Verläufen: man kann sich optische, akusti­sche u.a. Sinneseindrücke willkürlich ver­gegenwärtigen, ebenso Gedan­ken, die bei bestimmten Gelegenheiten auf­getreten sind. Man kann sich aber auch phantasiemäßig Vorgänge vor­stellen, die noch nie erlebt wa­ren, z.B. anschauliche Gebilde räumlicher und qualitativer Art, man kann Urteile erzeugen, Schlüsse bilden und an ihnen studieren, was für Eigen­schaften sie haben. Alle Betätigungen fer­ner, wie das Beachten, Wollen, Erwarten lassen sich durch das innere Ex­periment hervorbringen, auch in affektive Zustände, wie Mitleid, Zorn, Freude kann man sich willkürlich hineinversetzen. ... Schon in der alten Psychologie hat das innere Experi­ment eine Rolle gespielt, wenn es auch nicht als besonderes Hilfsmittel anerkannt worden ist. Man darf es als ein Verfahren bezeichnen, das auch für die praktische Menschenkenntnis sei­ne Bedeutung hat. Denn das Nacherzeugen eines berichteten oder beob­achteten Vorganges läßt ihn und damit seine Träger besser verstehen. Der Schauspieler, der sich in ei­nen Charakter und seine Äußerungen hinein­versetzt, der Seelenarzt, der sich den Krankheitszustand seines Patienten verdeutlicht, der Verteidiger, der die Tat seines Klienten aus dessen Seele herausentwickelt, der Beob­achter einer Statue in ungewöhnlicher Haltung, der diese nachahmt, um sich ihre Wirkung nahezubringen, der Seelsorger, der die Geständnisse aus bekümmertem Herzen völlig begreifen will - sie alle bedienen sich eines solchen Verfahrens. Aber freilich zum psychologischen Experi­mente wird es nur durch den Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Er­kenntnis, dem es dient. Hier wird man sich auch des Hilfsmittels der Wiederholung gern bedienen, um durch häufigere Beobachtung eine genauere und sichere Beschreibung herbeizuführen." 36

Diese Ausführungen zeigen einen außerordentlich freilassenden und weitgefaßten Begriff des inneren Experiments, der sich im Gegensatz zum Wundtschen Beobachtungs- und Experimentalbegriff schon sehr weitgehend von naturwissenschaftlichen Vorbildern emanzipiert hat und der hinreichend geschmeidig erscheint, sich dem psychischen Gegen­stand anzupassen. Er scheint mir auch für ein Vorgehen wie das Steiner­sche offen genug zu sein. Die systematische Anwendung der Introspekti­on war freilich ein noch junges Verfahren und so bedauert Külpe denn auch, daß es eine eigentliche Theorie des inneren Experimentes und sei­ner Möglichkeiten noch nicht gäbe: "Die vielgeübten Vorgänge des Sich­hineinversetzens, der willkürlichen Beeinflussung des eigenen Seelenle­bens sind noch viel zu wenig erforscht. Und doch hat das innere Experi­ment zweifellos eine große Bedeutung für die Psychologie der höheren Prozesse,...". 37

Külpes Vorlesungen erschienen posthum 1922, sieben Jahre nach Külpes Tod, zu einer Zeit, als die Steinersche Methodologie längst vorlag, und zu dieser Zeit gab es - was Külpe ausdrücklich bedauert - keine hinrei­chenden Erfahrungen mit inneren Experimenten, so daß man daraus hätte zukunftsweisende methodische Folgerungen ziehen oder gar die Umrisse eines anthroposophischen Weges sich abzeichnen sehen können. Man darf vielleicht konstatieren, daß Steiner seiner Zeit voraus war, daß aber seine Vorgehensweise durchaus im Bereich dessen liegt, was Külpe hier als Denkmöglichkeit andeutet. Die methodologischen Denkformen waren bei Külpe gewissermaßen schon angelegt, um die anthroposophische Verfahrensweise wenn nicht vom Grundsatz her schon vollständig zu erfassen, so doch wenigstens eine sinnvolle Verständigung darüber in den Bereich des Möglichen zu rücken.

In einem ganz analogen Sinn wie Külpe, allerdings ohne explizit den Terminus des "inneren Experiments" einzuführen, spricht G. E. Müller elf Jahre früher, faktisch aber annähern zeitgleich wie Külpe auf S. 72 ff von will­kürlich und zu Beobachtungszwe­cken erzeugten Bewußtseinsin­halten, sog. "gezwungenen" Bewußtseins­zuständen und man hat auch bei ihm den Eindruck, er sei auf dem Wege zu einer Begrifflichkeit, die eine sinnvolle Verständigung über die Schrit­te der Anthroposophie erlaubt. 38 Müller wendet sich S. 77 ff in diesem Zusam­menhang gegen die pau­schale Ansicht Wilhelm Wundts, die Beobach­tungsabsicht müsse immer den Vorgang der inneren Beobachtung durch­kreuzen. Müller kommt da­gegen zur Auffassung, dies sei nur bei "natür­lichen" Bewußtseinszustän­den der Fall, bei solchen, die von selbst kom­men und gehen und ganz ih­rer eige­nen Dynamik folgen. Bei jenen dage­gen, die zum Zwecke der Be­obachtung willkürlich evoziert werden, sei die Beobachtungsabsicht nicht an­ders wirksam als bei externen Beobach­tungen. Bei äußeren Be­obachtungen, so Müller, "dient die Absicht der Beobachtung eines äuße­ren Objek­tes dazu, die verschiedenen Teile des Objekts überhaupt erst zur Wahr­nehmung zu bringen oder wenigstens zu deutlicherer Wahrneh­mung ge­langen zu lassen. Oft hat sie die Wirkung, daß sich die Aufmerk­samkeit gewissen Seiten oder Eigenschaften des Objektes... besonders zuwendet. Außerdem pflegt sie die eintretenden Apperzeptionen des Objektes da­durch in ihrem Sinne zu beeinflussen und zu fördern, daß sie einen Kreis geeigneter Vorstellungen in Bereitschaft setzt. Ganz Analoges finden wir in den obigen Fällen, wo es sich um die Selbstwahr­nehmung bei gezwun­genen psychischen Zuständen handelt. Auch in die­sen Fällen dient die Beobachtungsabsicht dazu, den zu beurteilenden Zu­stand überhaupt erst eintreten zu lassen oder wenigstens mit größerer Deutlichkeit auftreten zu lassen. Auch in diesen Fällen macht sie sich oft dahin geltend, daß sich die Aufmerksamkeit einer bestimmten Seite oder Eigenschaft des auftre­tenden Bewußtseinszustandes ... besonders zuwen­det." 39

Müller sieht sehr klar, daß wesentliche qualitative Aspekte des seelischen Beobachtungsgegenstandes überhaupt erst auf dem Wege solcher gezielten Bewußtseinsakte greifbar werden und Müller ist neben Külpe auch einer derjenigen, die nachhaltig für eine Schulung des Beobachters eingetreten sind. Die gezielte Anwendung solcher Bewußtseinsakte for­dert eine systematische Ausbildung geradezu heraus. Für Külpe würden die von Müller erwähnten "gezwungenen" Bewußtseinszustände aus­nahmslos unter die Kategorie "inneres Experiment" fallen, da sie zum Zwecke der Beobachtung planmäßig hervorgerufen werden. Andererseits sind auch Steiners Gedanken- und Seelenübungen keine "natürlichen" Bewußtseinszustände im Müllerschen Sinne sondern es handelt sich um solche, die ebenfalls absichtlich (zu Beobachtungs- oder Erlebniszwe­cken) evoziert werden. Dies gilt für sämtliche Meditationsinhalte und in besonderer Weise für solche gedanklicher Art. Schon eine einfache Ge­dankenübung gehört diesem Typ von experimentellen Innenerlebnissen an, insbesondere dann, wenn die Aufmerksamkeit auch auf jene subtilen Vorgänge und Wandlungen gerichtet wird, die sich im Zuge solcher Seelenübungen zunehmend deutlicher einstellen. Man kann sehr genau den Erlebnisunterschied daran studieren, der besteht zwischen selbsttäti­gem Denken und einem assoziativ hin- und herschweifenden. Man kann daran studieren, wie sich das ganze Seelenleben nach solchen Übungen klarer, sicherer und konzentrierter darstellt als vorher, wie das Denkver­mögen als solches kräftiger, sachgemäßer und präziser wird. Und was hier für eine simple Gedankenübung gilt, gilt in analoger Weise auch für alle anderen Seelenübungen. Es wird da tatsächlich experimentiert und Külpe hat völlig recht, wenn er dem inneren Experiment eine große Bedeutung für die "Psychologie der höheren Prozesse" beilegt.

Insbesondere wenn man sich die von ihm erwähnten Schwächen des in­neren Experimentierens vor Augen hält, wird die Folgerichtigkeit des Steinerschen Vorgehens deutlich, zeigt sich, wie sehr der Steinersche Weg dieses wissenschaftlich-experimentelle Prädikat verdient, weil er konsequent auf die offenkundigen Schwierigkeiten der Selbstbeobach­tung reagiert. "Die Nachteile des inneren Experiments", so Külpe, "sind namentlich folgende: Zunächst sein Versagen gegenüber dem ganzen Ge­biet der Sinneswahrnehmung, ferner gegenüber feineren Variationen, den Versuch, den Vorgang längere Zeit konstant zu erhalten und simultan ei­nen gewissen Umfang von Gegenständen zu überschreiten. ... Endlich spielt beim inneren Experiment die Abhängigkeit von der Individualität, insbesondere von dem Willen des Beobachters und seinem Wissen um den Zweck des Experiments und seine Bedingungen eine entscheidende Rolle. Diese Abhängigkeit aber bringt erstens die individuellen Unter­schiede übermäßig zur Geltung und erschwert zweitens die Wiederho­lung desselben Versuchs durch andere Beobachter. Gelingt es einem an­deren nicht, dasselbe zu finden, so kann das einfach daran liegen, daß es ihm nicht gelungen ist, das Experiment in derselben Weise auszuführen. Und so ergibt sich denn drittens daraus ein Mangel an hinreichender Kontrolle, die auf das kritische Bewußtsein der Vpn selbst beschränkt bleibt. Sie selbst muß untersuchen, und niemand kann ihr dabei helfen, ob sie den zu beobachtenden Vorgang wirklich so erzeugt hat, wie das Ziel des Versuches es erfordert." 40

Die Einsamkeit und Selbstverwiesenheit beim inneren Experiment ist es, die Külpe auch die Forderung nach moralischer Qualifikation des Selbst­beobachters stellen läßt: "Neben den intellektuellen Anforderungen wer­den in psychologischen Untersuchungen nicht selten auch beträchtliche moralische Anforderungen an die Vpen gestellt. Grundbedingung für das Gedeihen aller menschlichen Leistungen ist ja der gute Wille, die Bereit­schaft, übernommene Aufgaben auch sachgemäß zu Ende zu führen; psy­chologische Versuchsreihen erfordern meist eine große Ausdauer und Regelmäßigkeit, wenn sie zu guten Resultaten führen sollen. Auch die ganze Lebensweise muß unter Umständen streng geregelt und ihnen an­gepaßt werden; das verlangt Pflichtbewußtsein und Herrschaft über sich selbst." 41

Es macht keine Schwierigkeiten, Steiners Verfahren vor diesem Hinter­grund ein experimentalwissenschaftliches zu nennen, schon wenn man nur die speziellen Rahmenbedingungen seines Vorgehens ins Auge faßt. Schaut man sich an, wie er innere Bedingungen des seelischen Erlebens herstellt, die für introspektive Beobachtungsverhältnisse ungemein klar, begrenzt und präzise sind, so fühlt man sich unwillkürlich an das Vorge­hen eines experimentierenden Naturwissenschaftlers erinnert, der die Randbedingungen seines Versuchs möglichst exakt definieren möchte, um das fragliche Phänomen übersichtlich und rein vor sich zu haben. Die außerordentliche Inanspruchnahme des Beobachterwillens und der Kon­zentration, um Bewußtseinsfluktuationen durch assoziativ hin- und her­huschende Gedanken- und Erinnerungsfragmente abzustellen, die Schaf­fung eines Zustandes völliger innerer Ruhe, die sorgfältige Fokussierung eines willkürlich ins Bewußtsein gerückten Erlebnisgegenstandes bei ma­ximal konzentrierter Aufmerksamkeit. Die entsprechend langfristige und systematische Ausbildung (Schulung) der entscheidenden Bewußtsein­sparameter: Gedanken-, Willens- und Gefühlskontrolle, des inneren Gleichgewichts, der Unbefangenheit gegenüber neuen Erfahrungen, der Urteilssorgfalt und Wahrheitsliebe - all dies unterstreicht diesen Experi­mentalcharakter vollends und fügt sich sehr gut zu der von Külpe implizit und explizit gegebenen Charakterisierung des "inneren Experimentie­rens" und seiner Voraussetzungen.

Steiner selbst hat gelegentlich zur Kennzeichnung seiner Seelenübungen den Terminus "Seelenexperiment" verwendet 42, freilich eher en passant und nicht in einem systematisierenden Sinn, doch eine genauere Untersu­chung könnte diesen "experimentellen" Charakter vermutlich minutiös nachzeichnen, wenn sie sich am Sprachgebrauch der zeitgenössischen Fachpsychologie und an deren methodischen Kategorien orientiert. Ein solcher Ausdruck ist nicht notwendig eine Metapher und die Art, wie Steiner die "Seelenübungen" durchgeführt wissen will, rechtfertigt ihn allemal.

Kapitel 5


Oswald Külpe und die Entdeckung des intuitiven Denkens (Stand 10.11.12) Ergänzt 17.03.22


Vielleicht zum Schluss noch ein Fallbeispiel von besonderem histori­schem Reiz, um die Reihe abzuschliessen. Historisch ist es deswegen in­teressant, weil es einerseits um die Frage geht, ob Anthroposophen evtl. eine realistische Möglichkeit gehabt hätten, mit ihren Methodenvorstel­lungen auf den Gang der Psychologie Einfluss zu nehmen. Aber nicht nur deswegen ist es interessant. Sondern, wie ich meine, vor allem auch, weil die Denkpsychologie Oswald Külpes in dieser Zeit etwas gefunden hat, was für die Anthroposophie ganz entscheidend ist: Die Fähigkeit des Menschen zum sinnlichkeitsfreien Denken. Und diese Fähigkeit, das betont Steiner immer wieder, ist die elementarste Stufe dessen, was er die übersinnliche Wahrnehmung nennt. Dieses reine oder sinnlichkeitsfreie Denken nennt er in der Philosophie der Freiheit auch gelegentlich das intuitive Denken. Und es ist in seinen Augen eine ganz naturhaft verbreitete Eigenschaft jedes begrifflich den­kenden Menschen in unserer Zeit. Mit der Auffassung eines existieren­den anschauungslosen oder sinnlichkeitsfreien Denkens stand Steiner freilich in der Psychologie seiner Zeit auf einigermassen verlorenem Pos­ten, denn in den wissenschaftlichen Vorstellungen herrschten damals ganz überwiegend andere Ansichten. Umso bemerkenswerter ist: Dieses intuitive Denken, und für diese Annahme gibt es sehr gute Gründe, hat auch Oswald Külpe in denkpsychologischen Versuchen mit seinen Insti­tutsmitarbeitern für die allgemeine, nichtanthroposophische Wissenschaft entdeckt. Ein in der damaligen Psychologie des Denkens ganz ausserge­wöhnlicher, unerwar­teter und entsprechend kontrovers diskutier­ter Sachverhalt. In Külpes Institut wurde folglich etwas entdeckt, was Rudolf Steiner in der Schrift Von Seelenrätseln die Veranlagung zum Schauen genannt hat, die in einem psychologischen Laboratorium gefun­den werden könne. (Von Seelenrätseln, GA 21, 1976, Kap. 8., Ein oft er­hobener Einwand gegen die Anthroposophie, S. 171.) Külpes Psycholo­gie des Denkens und Stei­ners Geisteswissenschaft, so lässt sich resümie­ren, kamen sich damals in mehrfacher Hinsicht erstaunlich nahe - aber sie berührten sich noch nicht.

Zu den Pionieren der modernen Denkpsychologie zählt die Würzburger Schule um Oswald Külpe, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhun­dert erstmalig experimentelle Selbstbeobachtungsversuche über das Den­ken im größeren Stil durchführte. Zu den beruflichen Eigentümlichkeiten dieses Psychologen zählte, daß er zugleich Philosoph war, denn die Psy­chologie war damals noch ein Zweig der Philosophie. Ein Umstand, der enorme Doppelbelastungen mit sich brachte, worunter Külpe schwer ächzte: " ... die Verbindung von Philosophie und Psychologie ist kaum mehr zu leisten. Ich habe deshalb eine Abhandlung geschrieben, die den Vorschlag der Trennung macht und begründet. Anfang Januar soll sie herauskommen und Ihnen natürlich auch vorgelegt werden. Man kann in der Psychologie nicht auf dem Laufenden bleiben, wenn man nicht wirk­lich mitarbeitet, d. h. namentlich an Einzeluntersuchungen selbst teil­nimmt, und dann bleibt für andere Aufgaben auf philos. Gebiet wenig Zeit übrig - wenigstens bei einem Ordinariat, das Staats- und Doktorprü­fungen, Seminar- und Vorlesungstätigkeit, Fakultäts- und Universitätsge­schäfte an sich kettet." (An Wilhelm Wundt am 24.12.1911. Zitiert nach Steffi Hammer, Denkpsychologie - Kritischer Realismus. Eine wissen­schaftshistorische Studie zum Werk Oswald Külpes. Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt/M, 1994, S. 254)

Einer der philosophischen Schüler Külpes war Friedrich Rittelmeyer, der 1903 bei diesem in Würzburg mit dem Thema Nietzsche und das Er­kenntnisproblem promovierte (Siehe S. Hammer, S. 216) und zu ihm so­gar, wie er (Friedrich Rittelmeyer, Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner, Stuttgart 1983, S. 71) schreibt, in einer sehr nahen menschlichen Beziehung stand. Rittelmeyer war es auch, der 1915 Steiner dazu beweg­te, den wissenschaftlichen Kontakt zu Külpe aufzunehmen, was leider über das Anfangsstadium nicht hinauskam.

Nicht nur sachlich, sondern auch menschlich war also die Anthroposo­phie der Psychologie seinerzeit sehr nahe. Was in einer Phase der wissen­schaftlichen Prägung der Psychologie nach Wissenschafts- und Metho­denverständnis und angesichts der führenden Rolle, die Külpe in dieser Wissenschaft damals innehatte, folgenreich für die Zukunft dieser Diszi­plin hätte sein können. Külpe wiederum war als Wissenschaftler unge­wöhnlich freilassend und für viele Fragen aufgeschlossen. Man hätte, wie Rittelmeyer (S. 71) schreibt, in der damaligen Zeit als Anthroposoph kei­nen besseren für einen wissenschaftlichen Austausch bekommen können: "Wer Oswald Külpe kannte, weiß, daß man einen Universitätsprofessor, der philosophisch besser durchgebildet, psychologisch gründlicher geschult, dem Charakter nach reiner, vorurteilsloser und offener gewesen wäre, im damaligen Deutschland kaum finden konnte." Ein Eindruck, der durch die eben erwähnte wissenschaftshistorische Studie Steffi Hammers volle Bestätigung findet. Für eine Begegnung zwischen Anthroposophie und Psychologie war die Konstellation geradezu idealtypisch.

Nun ging es in dem von Rittelmeyer anvisierten Forschungskontakt nicht darum, ein psychologisches Experiment durchzuführen, sondern einen Mann der Wissenschaft mit Steiners "außerordentlichen Fähigkeiten" zu konfrontieren. Rittelmeyer schreibt (S. 71 f): "Nicht an ein psychologi­sches Experimentieren im üblichen Sinne dachte ich. Vielmehr sollte der Versuch gemacht werden einen möglichst unbefangenen Mann der ge­genwärtigen Wissenschaft den außerordentlichen Fähigkeiten Rudolf Steiners gegenüberzustellen und mit ihm in freiem Gespräch darüber zu reden, wie vielleicht Methoden gefunden werden könnten, mit denen sich die Wissenschaft auf ihre Weise überzeugen kann, ohne sich selbst etwas zu vergeben - aber auch ohne der Eigenart der Phänomene ungerecht zu werden. Es lebte in mir das Gefühl: Rudolf Steiner darf nicht sterben, ohne daß dieser Versuch gemacht ist; eine würdige Auseinandersetzung zwischen der heutigen Wissenschaft und den heraufkommenden mensch­lichen Fähigkeiten müßte für die ganze Menschheit von unersetzlicher Bedeutung sein."

Diese ganze Strategie Rittelmeyers scheint mir wenig realitätsverankert und mußte sich früher oder später als Totgeburt erweisen, weil sie auf ei­nen der Hauptakteure und seine Belange wenig Rücksicht nimmt. (Bei Lichte besehen steht sie den Belangen beider Hauptakteure ziemlich ver­ständnislos gegenüber.) Denn: - Wie überzeugt man einen unbefangenen, anspruchsvollen, gewissenhaften und von Arbeit überhäuften Mann der psychologischen Wissenschaft von den "außerordentlichen Fähigkeiten" eines Menschen den er gar nicht kennt, ohne auf psychologische Experi­mente in irgend einem Sinne zurückzugreifen?

Irgendwie hätte sich Külpe als ernsthafter Psychologe ja erst einmal ein Bild von diesen "außerordentlichen Fähigkeiten" Steiners machen müs­sen. Die kann er ja nicht apriori auf Treu und Glauben voraussetzen. Er wäre also, um seinen wissenschaftlichen Anspruch und Sachverstand zu befriedigen, um psychologische Experimente gar nicht herumgekommen. Und das ist eine Angelegenheit, der selbst Steiner in der Schrift Von See­lenrätseln weit mehr ablehnend als nur skeptisch gegenübersteht: "Es wird oft ein Einwand gegen die Anthroposophie erhoben, der ebenso be­greiflich aus der Seelenstimmung der Persönlichkeiten heraus ist, von de­nen er kommt, wie er unberechtigt ist gegenüber dem Geiste, aus dem heraus das anthroposophische Forschen angestellt wird. Mir erscheint er deshalb ganz unbeträchtlich, weil die Widerlegung für jeden nahe liegt, der mit wirklichem Verständnisse den vom anthroposophischen Gesichts­punkte gegebenen Darstellungen folgt. Nur weil er immer von neuem auftritt, sage ich hier einiges über ihn, wie ich es auch schon in der 6. Auflage meiner «Theosophie», am Schlusse, 1914 getan habe. - Es wird, um diesen Einwand aufzustellen, gefordert, daß die geistigen Beobach­tungsergebnisse, die von der Anthroposophie vorgebracht werden, im Sinne der rein naturwissenschaftlichen Experimentiermethode «bewie­sen» werden sollen. Man stellt sich etwa vor, einige Personen, die be­haupten, sie können zu solchen Ergebnissen kommen, werden einer Anzahl anderer Personen in einem regelrecht angeordneten Experiment gegenübergesetzt, und die «Geistesforscher» hätten dann anzugeben, was sie an den zu untersuchenden Personen «geschaut» haben. Ihre Angaben müßten dann übereinstimmen, oder doch wenigstens in einem genügend großen Prozentsatze sich ähnlich sein. Man kann begreifen, daß, wer Anthroposophie nur kennt, ohne sie verstanden zu haben, eine solche Forderung immer wieder erhebt, denn durch deren Erfüllung würde ihm erspart, sich zu dem richtigen Beweiswege durchzuarbeiten, der in der Aneignung des jedem erreichbaren eigenen Schauens besteht. Wer aber Anthroposophie wirklich verstanden hat, der hat auch die Einsicht, daß ein in der angedeuteten Art angestelltes Experiment zur Gewinnung wahrhaft geistiger Anschauungsergebnisse ungefähr ebenso geeignet ist wie zur Beobachtung der Zeit an einer Uhr die Stillesetzung der Zeiger. Denn zur Herbeiführung der Bedingungen, unter denen Geistiges ge­schaut werden kann, führen Wege, die aus den Verhältnissen des seeli­schen Lebens selbst sich heraus ergeben müssen." So Steiner dort (GA-21, 1976, S. 169 f).

Man vergleiche auch, was Steiner am Ende seiner Theosophie (GA-09) im Kapitel Einzelne Bemerkungen und Ergänzungen ausführlich zu diesem Thema sagt. 42a Desgleichen einiges dazu im Kapitel Charakter der Geheimwissenschaft in seiner Geheimwissenschaft im Umriss (GA-13, 1977, S. 40 f). Insgesamt ist es schon erstaunlich genug, daß Steiner selbst, wie Rittelmeyer (S. 72) sagt "zu Experimenten in gewissem Sinn bereit war." Denn die Bandbreite an Möglichkeiten zu derartigen Tests war unter den von Steiner genannten Beschränkungen - vor allem wenn man sich seine diesbezüglichen Ausführungen in der Theosophie vor Augen hält - außerordentlich schmal. Ein wenig davon schimmert durch Rittelmeyers Worte hindurch, wenn er (S. 72) schreibt: "Nur sollte es nicht so sein, daß ein beliebiger Wissenschaftler ihn in seinem Institut einer »Prüfung« unterzieht und ihn dabei womöglich behandelt wie einen zu entlarvenden Verbrecher. Vielmehr sollte es so geschehen, daß ein für die Sache aufgeschlossener Geist seine Fragen stellt und in freier Weise eine Verständigung darüber herbeizuführen sucht, wie die Wissenschaft forschend an die Phänomene herankommen kann." Und Külpe wiederum, mit einigen Schriften Steiners versehen, sah sich außerstande, in einer an­gemessenen Zeit ein seriöses Projekt ins Leben zu rufen, ohne seine übri­ge Arbeit gründlich zu vernachlässigen. Die Sache schien ihm einfach zu kompliziert.

Ohne Experimente also wäre es aus der Sicht des Psychologen nicht ge­gangen, und aus der Sicht Steiners wären Experimente, wenn überhaupt, dann nur in sehr begrenztem Umfang möglich gewesen. Man versetze sich nun weiter in Külpes Lage: Was hätte eine derartige experimentelle Überprüfung ihm als Psychologen geben können außer vielleicht einigen unerwarteten Resultaten? Er hätte ja nicht die leiseste Ahnung gehabt, warum sie so ausfielen. Außer der bekannten Einsicht, daß es zwischen Himmel und Erde mehr gibt als sich die Schulweisheit träumen läßt, hät­te er wissenschaftlich nichts davon mitnehmen können. D. h.: der psy­chologische Detailzusammenhang, auf den es eigentlich ankommt, wird bei derartigen Versuchen gar nicht sichtbar, wie ja auch Steiner in der Schrift Von Seelenrätseln schreibt. Und aus der Sicht des Psychologen leisten Experimentalbeweise in Fragen übersinnlicher Wahrnehmung zu­nächst herzlich wenig, denn die Zahl der möglichen Erklärungen geht für ihn schier ins Grenzenlose. Wissenschaftstheoretisch gesehen haben sie allenfalls den Charakter von Anomalien: Sie offenbaren eine Diskrepanz zwischen unseren sachlich begründeten Erwartungen und dem, was tat­sächlich eintritt, so wie das Leuchten von Röntgens Schirm als er es gar nicht sollte, und damit die Entdeckung der Röntgenstrahlen erst initiierte, aber noch nicht war. Die Arbeit fängt mit der Anomalie erst richtig an. Was im vorliegenden Fall für den Untersucher bleibt, ist allenfalls ein Überraschungsmoment - aber wie geht man weiter damit um? Sollte Külpe sich Steiners Erklärungen zu eigen machen, wo er doch dessen Bücher ohnehin schon nicht verstand? Die gesamte Veranstaltung hätte für ihn nicht sehr viel mehr Aussagekraft als irgend eine spiritistische Sitzung. Bestenfalls ein interessantes Spektakel, und die waren zu Külpes Lebzeiten schon hinreichend bekannt. Die eigentliche Arbeit wäre, ohne apriorische Aussicht auf seriöse und befriedigende Resultate, erst noch vor ihm gelegen und zwar mit einem immensen Zeitbedarf. Und Zeit hatte er nicht. Folglich lehnte er ab, und zwar, wie mir scheint, aus sehr vernünftigen Gründen. Damit war dieses Zeitfenster für den direkten und nachhaltigen Forschungskontakt von Anthroposophie und Psychologie ein für allemal geschlossen, denn Külpe verstarb kurz darauf (1915) unerwartet.

Soweit das hier in der Kürze darstellbar ist, haben wir eine eigentümlich widersprüchliche und spannungsgeladene Konstellation:

  • Einmal Friedrich Rittelmeyer, der aus menschlich vielleicht ver­ständlichen Gründen danach strebt, daß sich die zeitgenössische Wissenschaft mit den einzigartigen Fähigkeiten Rudolf Steiners befaßt. Wobei ihm einerseits wenigstens ahnungsweise klar sein mußte, daß Rudolf Steiner diesem seinem Vorgehen keinen be­sonderen Stellenwert beimessen konnte; ja, es eher ablehnte als ihm zuzustimmen. Und ihm ferner auch klar sein mußte, daß es ein naturwissenschaftlich orientiertes experimentelles Verfahren, sich mit Steiners persönlichen Bewußtseinseigenarten mit Gewinn und Verständnis vertraut zu machen, weder unter den wissen­schaftlichen Voraussetzungen der Anthroposophie, noch unter de­nen der zeitgenössischen Psychologie geben konnte, das die An­sprüche beider Wissenschaftsrichtungen gebührend abzudecken in der Lage war. Die einzige tatsachen- und wissenschaftsadäquate Möglichkeit, die ein Psychologe damals (und heute) zwecks Überprüfung von Steiners Aussagen gehabt hätte, wäre die gewe­sen, sich selbst auf den inneren Weg zu begeben: "Was die Geis­teswissenschaft zu erfüllen hat, ist, anzugeben, auf welchem Wege der Mensch zum Schauen der Aura kommt; auf welchem Wege er sich also selbst die Erfahrung von ihrem Vorhandensein verschaffen kann. Es kann also die Wissenschaft dem, der erken­nen will, nur erwidern: wende die Bedingungen des Schauens auf deine eigene Seele an, und du wirst schauen." (Theosophie a.a.O., S. 160)

  • Wir haben weiter einen - sagen wir ruhig: mit Fähigkeiten begna­deten - Menschen (Rudolf Steiner), der wohl Interesse an einer sachlichen Begegnung mit der nichtanthroposophischen Wissen­schaft haben mußte und konnte, aber keines an einer Durchleuch­tung seiner Hellseherfähigkeiten, die an den experimentellen Me­thoden der Naturwissenschaft orientiert war. Und das letztere nicht etwa aus persönlichen Gründen, sondern aus Gründen, die in der Eigenart der übersinnlichen Phänomene wurzelten. Und um diese Beschränkungen wissend, läßt er Rittelmeyer in der Kon­taktanbahnung mit Külpe mehr oder weniger nach dessen eige­nem Geschmack schalten und walten.

  • Schließlich haben wir mit Oswal Külpe einen hervorragenden und führenden Psychologen seiner Zeit, der sich sachlich als idealtypischer Gesprächspartner für die Anthroposophie erweisen könnte, und auch in einer engen menschlichen Beziehung zu ei­nem exponierten Vertreter der Anthroposophie steht. Darüber hin­aus ein ausgesprochenes Forschungsinteresse an den höheren See­lenfähigkeiten des Menschen hat, über die er in langen denkpsy­chologischen Forschungsreihen gearbeitet, publiziert, und ent­sprechende Forschungsvorhaben ihm verbundener Forscher initi­iert und betreut hat. Auf diesen engeren sachlichen Kontext seiner Arbeit im Hinblick auf das Gespräch mit der Anthroposophie aber offenbar gar nicht zielgerichtet angesprochen wird.

Rittelmeyer schreibt (S. 73), daß nicht Steiner in diesem Fall versagt habe. Ich meinerseits erhebe hier nicht den Anspruch allen Beteiligten historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen - dazu ist meine Material­basis zu dünn. Aber wenn es denn so war wie Rittelmeyer schreibt, dann sehe ich mich zur Frage gedrängt, ob Rittelmeyer Külpe nicht vielleicht ein falsches Stichwort gegeben und eine sich bietende Gelegenheit ein wenig verschlafen hat? Will sagen: Mit diesem Ansinnen sah sich der Mann mit Recht überfordert, denn was von ihm erwartet wurde, war viel zu hoch gegriffen und nahm auf seine existentiellen Bedingungen im allgemeinen und die Bedingungen seiner Wissenschaft im speziellen wenig Rücksicht. Steiner war ihm weitgehend unbekannt, und dessen Schriften machten auf ihn nach flüchtiger Durchsicht nicht den Eindruck, daß man hier sofort hätte zugreifen müssen. Es war über­haupt nur das Vertrauen und die menschliche Beziehung zu Rittelmeyer, die ihn bewogen sich näher mit der Angelegenheit zu befassen, wie Rit­telmeyer schreibt. Ein bescheideneres, einfühlsameres und zeitlich län­gerfristig angelegtes Vorgehen, das sich in Külpes Interessenlage ein­klinkt und nicht verlangte, daß dieser sich aus seinen Angelegenheiten ausklinkt, hätte da wohl mehr Aussicht auf Erfolg gehabt. Zum Beispiel ein Projekt auf rein methodologischer Ebene. Denn Külpe war auch für methodische Fragen außerordentlich aufnahmefähig. Und Anlaß dazu gab es in einer Zeit, in der methodische Fragen der inneren Beobachtung öffentlich und breit diskutiert wurden, reichlich genug. Also wenn über­haupt, dann hätten die Vertreter der Anthroposophie hier die Chance ge­habt, ihre methodischen Vorstellungen und deren Überlegenheit mit Ver­tretern der Fachwissenschaft zu diskutieren und faktisch unter Beweis zu stellen. Gelegenheiten dazu hätten sich unter den gegebenen Bedingun­gen bei Vermittlung Rittelmeyers mit Sicherheit herstellen lassen, denn Külpe schätzte auch den Dialog mit entlegeneren Richtungen. Die Pflege geistiger Geselligkeit und des Gedankenaustausches auch im Külpeschen Hause, außerhalb des unmittelbaren Universitätsbetriebes, hatte Traditi­on. Külpe hatte für philosophische Außenseiter ein Ohr - sogar für Ok­kultisten (Siehe Hammer, S. 23 f), wenn es denn eine sachliche Verbin­dung gab. Seine sprichwörtliche Offenheit ging so weit, daß schließlich Rittelmeyer in Verkennung der Verhältnisse glaubte, er könne ihm fern von jedem fachlichen Bezug allein mit Steiners Fähigkeiten kommen. Und damit hat er sich verkalkuliert. Hätte er weniger verlangt, so hätte er vielleicht vieles bekommen. Er aber verlangte zu viel - und bekam nichts.

Rittelmeyers Zugang zur Anthroposophie bahnte sich erst seit 1910 an. Insofern muß man natürlich den Zeitbedarf dieses Annäherungsprozesses hinreichend würdigen. Aber Külpe kannte er 1915 schon seit mehr als zwölf Jahren und hätte vielleicht ahnen können, daß diesem mit dem Hinweis auf Steiners "außerordentliche Fähigkeiten" fachlich nicht geholfen war.

Wie dem auch sei: Als Unbeteiligter kommt man angesichts solcher Umstände unweigerlich ins Grübeln darüber, wieso ein Mann wie Rittelmeyer sich etliche Jahre Zeit nimmt, den nach seiner Auffassung einzigen zugänglichen und ihm auch noch nahestehenden Menschen der Wissenschaft mit der Anthroposophie in Berührung zu bringen, und dabei ausschließlich auf Steiners Fähigkeiten fixiert vorzugehen, anstatt sich an Sachfragen der damaligen Psychologie zu orientieren. Denn die hätten einen Mann wie Külpe weit mehr motivieren können. Und zwar aus guten Gründen. Damit war er nämlich tagtäglich konfrontiert. Das hätte eine persönliche Einbeziehung Steiners ganz und gar nicht ausgeschlossen. Aber sie wäre sachorientiert vorbereitet gewesen. Man hätte Külpe, einem pädagogischen Prinzip folgend, da abgeholt, wo er selbst stand, anstatt ihn mit spektakulären Fähigkeiten zu konfrontieren, zu denen er keinen operationalisierbaren fachlichen Zugang hatte. Vor diesem Hintergrund mutet es primadonnenhaft selbstgerecht an, wenn Rittelmeyer in diesem Kontext (S. 74) Klage darüber erhebt, daß sich die Wissenschaft nie um Rudolf Steiner gekümmert habe. Vielleicht hätte man sich nur ein wenig mehr und ein wenig tatsachenorientierter auf die­se Wissenschaft zubewegen müssen, anstatt darauf zu bauen, daß diese kommt und Steiners Fähigkeiten entdeckt. Eine realistische Aussicht zu einer solchen Begegnung auf Sachebene hat zu Külpes Lebzeiten zwei­fellos bestanden. Vielleicht hat Rittelmeyer recht wenn er schreibt, daß nicht Steiner derjenige gewesen sei, der in diesem Fall versagt habe - aber war es Külpe mit seiner blassen Aura? (S. 72)

Die Sachlage verdient sicherlich eingehender (und wohl auch angemessener) untersucht zu werden als wir das an dieser Stelle tun können. Ein Eindruck, der sich allerdings aufdrängt wenn man Külpes Schaffen ein wenig kennt, ist der: Külpe war sich auf grund seiner fachlichen Erfahrung der explorativen Dimension des Rittelmeyerschen Anliegens in einer Deutlichkeit bewußt, die Rittelmeyer offenbar nicht nur damals fehlte, sondern auch noch Jahre später, als er seine Lebenserinnerungen in Buchform brachte. Külpe war alles andere als ein Oberflächling. Und bei seiner Zugänglichkeit war es sicherlich nicht der esoterische Aspekt allein, der ihn zurückschrecken ließ. Vielmehr hätte ihn die Aufgabe, so wie sie gestellt war, bei seinen Ansprüchen schlicht überfordert. Es war offensichtlich Rittelmeyers Strategie, ihn mit Steiners Fähigkeiten zu konfrontieren und von dort ausgehend mit ihm gemein­sam nach gangbaren Wegen zu suchen, "wie die Wissenschaft forschend an die Phänomene herankommen kann", wie Rittelmeyer es auf S. 72 be­schreibt, was ihn letztlich zum ablehnenden Entschluß führte. Denn das ist - vorausgesetzt man nimmt sie wirklich ernst - eine ungeheuer kom­plexe Aufgabe für einen Psychologen von Külpes Format. Und sie ist nicht nur für den Psychologen schwer zu erfüllen, sie ist ja auch für Stei­ner selbst alles andere als ein Mittel erster Wahl, sich mit der Anthropo­sophie vertraut zu machen. Das letztere vor allem führt zur Verwunde­rung angesichts der Rittelmeyerschen Ausführungen, die immer wieder in den Gestus des anklagenden Bedauerns zurückfallen, die Wissenschaft hätte sich mehr um das Phänomen Rudolf Steiner kümmern müssen - obwohl Steiner selbst dieser Form der Begegnung weder einen tieferen Sinn noch irgend eine Art von nennenswerter wissenschaftlicher Frucht­barkeit beimißt.

Vielleicht hat dieser Fehlschlag einen oder einen letzten Anstoß dazu ge­geben: In der bald danach erschienenen Schrift Von Seelenrätseln jeden­falls scheint Steiner den Realitäten mehr Rechnung getragen zu haben, indem er einen vermittelnden Weg vorschlägt, der sich auch bei Külpe als gangbarer erwiesen hätte: Er besteht im explizit geäußerten Wunsch oder der Forderung in einem psychologischen Laboratorium arbeiten zu können, um zu zeigen wie das menschliche Wesen zum Schauen veran­lagt ist. Wenn man weiß, daß bei Steiner das reine respektive sinnlich­keitsfreie Denken schon zum schauenden Bewußtsein gehört, und Külpe wiederum in der Untersuchung von Denkvorgängen vor allem in den Jah­ren zuvor einen ausgesprochenen Forschungsschwerpunkt hatte, dann braucht es nicht viel Phantasie um sich auszumalen, was bei einer ent­sprechenden Anreicherung des Külpeschen Forschungsprogramms mit Fragen und Ideen seitens der Anthroposophie unter Umständen hätte er­reicht werden können.

Man muss sich dazu vorstellen, was in Külpe eigentlich lebte, als Rittel­meyer ihn auf Rudolf Steiner ansprach: Noch im Jahre 1912 hatte Külpe in einem Aufsatz, Über die moderne Psychologie des Denkens, (hier ab S. 297) überblicksartig die Resultate aus den vergangenen Ver­suchen zur Beobachtung des Denkens publiziert. Und was er dort voller Enthusias­mus vorträgt, hätte jeden Anthroposophen eigentlich hellhörig machen müssen. Er beschreibt dort die Entdeckung des sinnlichkeitsfrei­en, an­schauungslosen Denkens in seinem Würzburger Institut. Und zwar zu ei­ner Zeit, als die übrige zeitgenössische Psychologie des Denkens zu­meist weit davon entfernt war, so etwas zu erwarten oder ernsthaft in Er­wägung zu ziehen. Was Külpe letztlich dort - aus Steiners Sicht gesehen - beschreibt, und was ihn förmlich begeistert, wie man seinem Text unmit­telbar ablesen kann, ist wohlgemerkt: aus Steiners Sicht gesehen, die ele­mentare Stufe der Hellsichtigkeit, der übersinnlichen Wahrnehmung! - Das sinnlichkeitsfreie Denken! Das alles war zu dieser Zeit in Külpe aus­serordentlich virulent. Und so schreibt er 1912: "Es ist dem Denken in der früheren Psychologie meist nicht die genügende Beachtung geschenkt worden. Und die experimentelle Richtung hatte zunächst so viel in dem massiveren Hause der Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle Ordnung zu schaffen, daß sie sich erst spät der luftigen Gedanken annehmen konnte. Die robusten Sinnesinhalte der Drücke und Stiche, der Geschmäcke und Gerüche, der Töne und Farben fielen zuerst im Bewusstsein auf, ließen sich am leichtesten wahrnehmen, nächst ihnen die Vorstellungen von ihnen und die Freuden und Leiden. Daß es außerdem noch etwas gab, ohne die anschauliche Beschaffenheit dieser Gebilde, entging dem dafür nicht geschulten Auge der Forscher. Von der naturwissenschaftlichen Erfahrung her waren sie auf Sinnesreize und Empfindungen, auf Nachbilder, Kontrasterscheinungen und phantastische Veränderungen der Wirklichkeit eingerichtet. Was solchen Charakter nicht an sich trug, schien einfach nicht vorhanden zu sein." (Oswald Kül­pe, Über die moderne Psychologie des Denkens. In, Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, 6, 1912. Wiederabdruck in Paul Ziche, Herausgeber, Instrospektion, Texte zur Selbstwahrnehmung des Ichs, Springerverlag, Wien New York, 1999, S. 45).

Külpe dann (Ziche a.a.O., S. 52) später weiter: "Es ist bezeichnend, daß eines der ersten Ergebnisse unserer Denkpsychologie negativ war: die von dem bisherigen Begriffsmaterial der experimentellen Psychologie zur Verfügung gestellten Termini der Empfindung, des Gefühls, der Vor­stellung und ihrer Verbindungen gestatteten nicht, die intellektuellen Pro­zesse zu erfassen und zu bestimmen. [...] Schon die Untersuchung primi­tiver Leistungen des Denkens zeigte alsbald, daß auch Unanschauliches gewußt werden kann, daß die Selbstbeobachtung ungleich der Naturbe­obachtung wahrzunehmen, als vorhanden und in bestimmter Beschaffen­heit ausgeprägt und festzustellen vermag, was weder farbig noch tönend, was weder bildhaft noch gefühlsmäßig gegeben ist. Die Bedeutungen abstrakter und allgemeiner Ausdrücke sind auch dann im Bewusstsein nachweisbar, wenn sich außer den Worten nichts Anschauliches entde­cken läßt, und werden selbst ohne Worte oder andere Zeichen erlebt und vergegenwärtigt. [... ] Die experimentelle Psychologie ist damit vor neue Erfahrungen gestellt, die nach allen Seiten hin große Perspektiven eröff­net." Külpe wusste wovon er redet, denn er war ja selbst als Versuchsper­son, und natürlich auch als wissenschaftlicher Gesprächspartner und in seiner Funktion als Institutsleiter an den Versuchen direkt beteiligt. - Und mit Blick auf Steiner und die Bedeutung des reinen Denkens in dessen Weltanschauung kann man zu seinem abschliessenden Resüme nur sagen: Wie wahr!

Mit den Worten: "Die Bedeutungen abstrakter und allgemeiner Ausdrü­cke sind auch dann im Bewusstsein nachweisbar, wenn sich ausser den Worten nichts Anschauliches entdecken lässt, und werden selbst ohne Worte oder andere Zeichen erlebt und vergegenwärtigt." legt Külpe den Finger auf die empirische Schlüsselstelle der Steinerschen Weltanschau­ung: Begriffe existieren im Bewusstsein in einer Form, die mit herkömm­lichen sinnlichen Wahrnehmungen jedweder Beschaffenheit nichts ge­mein hat. Für Rudolf Steiner liegt darin der Erfahrungsbeweis dafür, dass der Mensch mit seinem begrifflich denkenden Bewusstsein in den Be­reich des Übersinnlichen, des Geistigen, schon in seinem gewöhnlichen Leben hineinragt.


Um nur zwei Beispiele unter vielen anderen möglichen dafür zu bringen. Dieses erläutert Steiner vortragsweise 1913 in Helsingfors sehr eindring­lich: "Aber dieses [logisch abstrakte, MM] Denken, das der Mensch so entwickelt, dieses Denken, das nimmt man zwar heute als etwas ganz Na­türliches, aber man hat die schiefesten, unnatürlichsten Ansichten über dieses Denken. Und gerade die westländischen Philosophen haben über dieses Denken die allerschiefsten Anschauungen, denn man hält gewöhn­lich dieses Denken für eine bloße Photographie der äußeren sinnlichen Wirklichkeit, man glaubt, die Begriffe, Ideen entstehen im Menschen, dieses ganze innere Denken überhaupt entstehe im Menschen von der physischen Außenwelt herein." (S. 33f) [...] " Hier komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der ganz und gar wichtig ist gerade für diejenigen, die mit der eigenen Seele eine okkulte Entwickelung durchmachen wollen. ... So ist es nämlich, wenn auch nicht mit dem Goldmachen, so ist es mit dem Hellsehen. Kein Mensch könnte eigentlich zu wirklichem Hellsehen kommen, wenn er nicht zunächst ein Winziges an Hellsehen in der Seele hätte. Wenn es wahr wäre, was ein allgemeiner Glaube ist, daß die Men­schen, wie sie sind, nicht hellsichtig seien, dann könnten sie überhaupt nicht hellsichtig werden. Denn wie der Alchimist meint, daß man etwas Gold haben muß, um viele Mengen Goldes hervorzuzaubern, so muß man unbedingt etwas hellsehend schon sein, damit man dieses Hellsehen immer weiter und weiter bis ins Unbegrenzte hinein ausbilden kann." [...] "Es gibt wirklich keinen unter Ihnen, der nicht - wenn er sich dessen auch nicht bewußt ist - diesen Ausgangspunkt hätte. Sie haben ihn alle. Keiner von Ihnen ist in der Not, weil Sie alle ein gewisses Quantum Hellsehen haben. Und was ist dieses Quantum? Das ist dasjenige, was gewöhnlich gar nicht als Hellsehen geschätzt wird." [...] "Niemand könnte abstrakt denken, wirkliche Gedanken und Ideen haben, wenn er nicht hellsichtig wäre, denn in den gewöhnlichen Gedanken und Ideen ist die Perle der Hellsichtigkeit von allem Anfang an. Diese Gedanken und Ideen entstehen genau durch denselben Prozeß der Seele, durch den die höchsten Kräfte entstehen. Und es ist ungeheuer wichtig, daß man zunächst verstehen lernt, daß der Anfang der Hellsichtigkeit etwas ganz alltägliches eigentlich ist: man muß nur die übersinnliche Natur der Begriffe und Ideen erfassen. Man muß sich klar sein, daß aus den übersinnlichen Welten die Begriffe und Ideen zu uns kommen, dann erst sieht man recht. Wenn ich Ihnen erzähle von Geistern der höheren Hierarchien, von den Seraphim, Cherubim, von den Thronen herunter bis zu den Archangeloi und Angeloi, so sind das Wesenheiten, die aus geistigen, höheren Welten zu der Menschenseele sprechen müssen. Aus eben diesen Welten kommen der Seele die Ideen und Begriffe, sie kommen geradezu in die Seele aus höheren Welten herein und nicht aus der Sinnenwelt." [...] "Es wurde als ein großes Wort eines großen Aufklärers gehalten, das dieser gesagt hat im 18. Jahrhundert: Mensch, erkühne dich, deiner Vernunft dich zu bedienen. - Heute muß ein größeres Wort in die Seelen klingen, das heißt: Mensch erkühne dich, deine Begriffe und Ideen als die Anfänge deines Hellsehertums anzusprechen. - Das, was ich jetzt ausgesprochen habe, habe ich schon vor vielen Jahren ausgesprochen, ausgesprochen in aller Öffentlichkeit, nämlich in meinen Büchern <<Wahrheit und Wissenschaft>> und <<Philosophie der Freiheit>>, wo ich gezeigt habe, daß die menschlichen Ideen aus übersinnlichem, geistigen Erkennen kommen. Man hat es dazumal nicht verstanden; das ist ja auch kein Wunder, denn diejenigen, die es hätten verstehen sollen, die gehörten, nun ja, halt zu den Hühnern" (34 ff) (GA-146, Dornach 1992, Vortr. Helsingfors, 29. Mai 1913, S. 33 ff)

Und Steiner an anderer Stelle: "Wer dasjenige, was ich als Forschungsmethode meiner anthroposophischen Geisteswissenschaft zugrunde lege, Hellsehen nennt, der muß auch schon das gewöhnliche reine Denken, das durchaus aus dem Alltagsleben heraufströmt in das menschliche Bewußtsein, das hineinströmt in das menschliche Handeln, Hellsehen nennen. Ich selber sehe qualitativ keinen Unterschied zwi­schen dem reinen Denken und demjenigen, was ich als Hellsehen be­zeichne. ... Dann aber, wenn man den Vorgang kennt, durch den man zu solchem reinen Denken kommt, kann durch das, was wahre tiefergehende Philosophie gibt, etwas ausgebildet werden, was ich dann in der verschie­densten Weise als Erkenntnismethode für die höheren Welten dargestellt habe in meinem Buch << Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>> und in meiner <<Geheimwissenschaft>>. Geradeso, wie aus den gewöhnlichen Alltagsbetätigungen der menschlichen Seele zuletzt das reine Denken hervorgeht, zu dem man keine besondere Schulung braucht, kann man, wenn man diesen Vorgang weiter ausbildet, zu dem kommen, was ich in dem genannten Buch und im zweiten Teil meiner <<Geheimwissenschaft>> die Stufen der höheren Erkenntnis - also Ima­gination, Inspiration, Intuition - genannt habe. Was sich im reinen Den­ken äußert, das wird uns Menschen einfach eigen dadurch, daß wir gebo­ren sind; es ist uns in unserem jetzigen Stadium der Menschheitsent­wicklung vererbt." (GA 255b, Dornach 2003, Vortr. Stuttgart, 25. Mai 1923, S. 300 f)

Angesichts der Külpeschen Charakterisierung des Denkens wird sich mancher heute, zumal aus dem anthroposophischem Umfeld, vielleicht wundern, warum ich diese Parallelität hier so hervorhebe. Denn so aus­sergewöhnlich und spektakulär scheint das auf den ersten Blick ja gar nicht zu sein, was Külpe oben ausführt. Das Aussergewöhnliche tritt erst hervor, wenn man sich die Zeitverhältnisse und die vorherrschenden wis­senschaftlichen Ansichten über das Denken vor Augen führt. Es fällt in der heutigen Zeit dem Nichtfachmann in der Regel schwer, den Fund Külpes realistisch einzuordnen, weil zumeist die psychologiegeschichtli­chen Detailkenntnisse fehlen. Deswegen ist es erhellend Külpes Über­blick über die Methoden und Ansichten seiner Zeit zu studieren. Als Wissenschaftler hatte er diese Entwicklung von den Anfängen an schon als Assistent im psychologischen Institut bei Wilhelm Wundt hautnah miterlebt. Umso beachtlicher ist es, dass er jetzt, eingebunden in das aka­demische Wissenschaftsleben seiner Zeit, und zwar ganz unabhängig von Steiner, und entgegen dem psychologischen mainstream seiner Zeit, zu Auffassungen über das Denken kommt, die in den basalen Kennzeichen denen Steiners aufs Haar gleichen. Man kann diese sachliche Annähe­rung angesichts der damaligen Zeitverhältnisse gar nicht hoch genug würdigen. Zumal diese Dinge ja heute noch ihre Gültigkeit haben. Denn Külpes Ansichten waren nicht nur damals, sondern sie sind auch heute noch weitgehend unbeachtet, und keineswegs allgemein anerkannt. Das Gegenteil dürfte wohl eher der Fall sein. Dies aus einem naheliegenden Grund, auf den Külpe auch aufmerksam macht: Alle Theorien des Den­kens, und das gilt wohl fast ausnahmslos für die Zeit Külpes und auch für unsere heutige Gegenwart, hatten und haben ein Riesenproblem auf der empirischen Ebene. Es fällt den Untersuchern kolossal schwer das Den­ken überhaupt in den Fokus der empirischen Aufmerksamkeit zu bekom­men, um darüber brauchbare und realistische Ansichten zu formulieren. Aus diesem Grunde ist es ebenso erklärlich wie bemerkenswert, dass Külpe den Fund seines Instituts vor allem an methodischen Veränderun­gen fest macht. Und zwar ganz ausdrücklich. Wenn man ihm folgt, so be­steht eines der Hauptprobleme in der empirischen Beobachtung des Den­kens darin, etwas zu bemerken, das gar nicht da zu sein scheint, weil es sich nicht in den Formen und Eigenschaften des sinnlichen Lebens darstellt. Da geht es dem Wissenschaftler kaum anders als dem Laien: Er ist auf dieses sinnlichkeitsfreie Nichts nicht eingerichtet und vorbereitet. Und weil er nur nach sinnlichen Parallelen und Verhältnissen sucht, wird er im Zweifel dort, beim Gröbsten seine Zuflucht suchen und sich im Bedarfsfall, weil er nicht anders kann und weil er ja nicht weiss, wie es um die Sache tatsächlich steht, ein phantastisches Hypothesengebäude zurecht zimmern, das ihm ein pseudorealistisches Modell davon liefert, wie es um die Sache stehen könnte. Das nennt er dann je nach wissen­schaftlichem Geschmack und Zeitgeist Assoziationstheorie, Sprachtheo­rie, Rechen- bzw Computertheorie des Denkens, oder neuronales Zusam­menspiel. Wie auch immer. Der wissenschaftlichen Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Oder er wird vielleicht gar zu der Auffassung neigen, über das Denken lasse sich überhaupt nichts empirisch Gesichertes aussa­gen, weil es als Prozess nicht zugänglich ist. Auch diese Position ist vor­handen. Der Beobachter muss, will er in dieses unrealistische Prozedere nicht verfallen, daher ein Verfahren entwickeln, mit dem er dieses scheinbare Nichts bemerken und kategorisieren kann, ohne dabei in blin­de Spekulation oder Hypothesenbildung zu verfallen. Und weil das alles so furchtbar schwierig ist, darum ist das meiste, was heutzutage gleicher­massen wie zu Külpes Zeit aus dem mainstream an populären und wis­senschaftlichen Veröffentlichungen die Welt überflutet, nichts weiter als eine Ausgeburt an hypothesenbildender Phantasterei, die sich ihren Ge­genstand nie gründlich angesehen hat. Denn darauf ist - vor allem unsere Zeit - gar nicht eingerichtet. Noch weit, weit weniger als die Zeit Külpes. Und weil das alles so furchtbar schwierig ist, darum ist auch die Frage angebracht, was denn unsere Altvorderen für ein Verständnis vom Den­ken hatten, und worauf sie diese ihre Ansicht stützten. Was ist, wenn wir den Blick in das Zeitalter Kants richten, und vielleicht noch viele Jahr­hunderte darüber hinaus in die Vergangenheit? Ist, was wir dort unter dem Stichwort Denken in der Literatur vorfinden, überhaupt vergleichbar mit dem, was wir, oder vielleicht besser: ein Rudolf Steiner darunter versteht? Aber das nur am Rande.

Nicht nur menschlich stand also die Anthroposophie in jener Zeit der in­trospektiven Psychologie ausgesprochen nahe, sondern auch im Hinblick auf die Einschätzung ganz entscheidender erkenntniswissenschaftlicher Grundtatsachen der Anthropo­sophie - der empirischen Anerkennung des anschauungslosen respektive intuitiven oder sinnlichkeitsfreien Denkens. Man braucht sich also nicht zu wundern, wenn Steiner dann wenig später in der Schrift Von Seelen­rätseln den Blick so sehr hinlenkt auf die Arbeit in einem psychologi­schen Laboratorium, wo die Veranlagung zum Schauen so exzellent nachgewiesen werden könne. Denn das hatte ja, wenn man Külpes Auf­satz liest und die entsprechenden Arbeiten der Würzburger studiert, dort längst stattgefunden. Es wartete nur darauf me­thodisch angereichert, wei­ter vertieft und verfeinert zu werden. Auch in eine Richtung hin, an die Steiner vielleicht in diesem Zusammenhang be­sonders denkt, wenn er die Aufmerksamkeit in diesem Kontext sehr auf Franz Brentano richtet. Und es wartete auch darauf als empirischer Befund in die allgemeine und nicht nur anthroposophisch orientierte philosophische Reflexion aufgenommen zu werden.

Auf der anderen Seite muss man sich angesichts von Külpes Charakteri­sierung der zu seiner Zeit weithin üblichen Methoden der Denkpsycholo­gie fragen, was denn heutzutage da überhaupt möglich wäre. Schon zu Külpes Zeit dominierte die Naturwissenschaft diesen Bereich. Und das in einer Zeit, als man weit mehr als gegenwärtig bereit war, sich Fragen der inneren Beobachtung überhaupt akademisch zuzuwenden. Selbst in die­ser Zeit also war Külpes Standpunkt in der Psychologie des Denkens ab­solut revolutionär. Was auch die dadurch ausgelösten heftigen akademi­schen Debatten, etwa mit Wilhelm Wundt, erklärt. In der Gegenwart existiert kaum noch eine Kultur der inneren Beobachtung im akademi­schen Leben. Die Psychologie ist inzwischen weit mehr veräusserlicht als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Tradition Külpes bestand nach des­sen Tod 1915 nicht dauerhaft fort, und den Rest erledigten in Deutsch­land auf brutale Weise die Nazis. Karl Bühler floh auf Umwegen nach Amerika, um seine Frau Charlotte vor dem Zugriff der nationalsozialisti­schen Rassenideologen zu schützen. Und Otto Seltz, einer der führenden Vertreter der Denkpsychologie, obwohl der Würzburger Schule nur assoziert, flüchtete, im Zuge der "Arisierung" deutscher Hochschulen um seine berufliche Existenz gebracht, zunächst in die Niederlande, und starb dann bald darauf nach der Vereinnahmung der Niederlande durch die Hitlerdiktatur auf dem Weg ins Konzentrationslager. (Diese Dinge sind im Internet für jeden Leser leicht zu recherchieren, deswegen ver­zichte ich hier auf eingehende Literaturangaben und Quellenhinweise. Man muss sich nur einmal klar machen, wie viele hoffnungsvolle Wis­senschaftsvertreter in dieser Zeit aus Deutschland geflohen sind, wenn es ihnen überhaupt gelang den Schergen der Nazidiktatur zu entkommen.) Einiges Wenige dazu siehe hier: http://introspektion.net/Introspektio­n4Phasen.pdf Von den in den Jahren 1933 bis 1945 angerichteten, ver­wüsteten Verhältnissen hat sich der geistige Wissenschaftsbetrieb in Deutschland jedenfalls bis heute nicht erholt. Es wäre daher blauäugig zu erwarten, diese Sachlage würde sich in kurzer Zeit drastisch ändern. Wenn überhaupt, dann ist nur mit einer ganz allmählichen Öffnung des etablierten Wissenschaftslebens für Fragen der inneren Beobachtung des Denkens zu rechnen. Und hier und da gab und gibt es ein paar hoffnungsvolle Knospen. Siehe etwa hier: http://introspektion.net/

Und die Anthroposophen? - Da scheint sich inzwischen ein positiver Wandel in der Rezeptionsbereitschaft anzubahnen. So weit es allerdings das oben erwähnte Buch Ravaglis betrifft muss man zumindest für die 1990er Jahre konstatieren (inzwischen mag das auch anders sein): Sie kultivieren die erwähnte nationalsozialistische Verwüstung unbewusst auch noch, wenn und indem sie die Verbindung zur introspektiven Psy­chologie weitgehend leugnen. Und zwar, auch das ist zumindest im Falle von Ravaglis Buch oben zu sagen, ohne auch nur den leisesten Beleg da­für beizubringen, dass sie sich mit dem, worüber sie urteilen - die intro­spektive Psychologie im allgemeinen und die Denkpsychologie der Steinerzeit im besonderen - überhaupt im nennenswerten Umfang ver­traut gemacht haben.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß in zeitlicher Nähe zu die­sem mißglückten Versuch Walter Johannes Stein unter direkter Teilhabe Steiners seine Dissertation schrieb und eben das tat, was Rittelmeyer of­fensichtlich unterließ - nämlich an Methoden- und Sachfragen anzuknüp­fen und nicht an "außerordentlichen Fähigkeiten" einer Ausnahmepersön­lichkeit. Er thematisierte die Methode der Meditation als Mittel der Be­obachtung des Denkens. (Siehe: Thomas Meyer, Walter Johannes Stein/Rudolf Steiner. Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens. Dornach 1985, S. 191) Freilich tat er das auch nur in homöopathischer Verdünnung ohne wirklich konkret zu werden, so daß man im Rahmen eines Forschungsprojektes davon hätte Gebrauch machen oder sich davon zu konkreten Schritten hätte anregen lassen können. Und als Steins Dissertation erschien war Külpe längst verstorben. Doch immerhin, es gab die Möglichkeit über Methoden der Anthroposophie auch im akade­mischen Umfeld zu reden. Und Külpe, um wieder an Rittelmeyer anzu­knüpfen, hatte einen ausgesprochenen Interessenschwerpunkt gerade in diesen Dingen (siehe oben). Hatte auch hinreichende Erfahrungen mit unzulänglichen Methoden der Denkbeobachtung in den Jahren zuvor ge­sammelt, die dann breit in der Welt der Psychologen und Philosophen diskutiert wurden. Man war ja selbst bei diesen früheren Versuchen schon darauf gekommen, daß die Beobachtung des Denkens spezifische methodische Vorkehrungen in Richtung "Urwüchsigkeit" des Denkens verlangt um seiner erlebnismäßig hinreichend habhaft zu werden. Hier hätte sich vielleicht ein fruchtbarer Gesprächsfaden zu Külpes Zeit aufnehmen lassen.

So schreibt Karl Bühler, ein Külpeschüler, im Jahre 1907: "Es entspricht durchaus den hergebrachten Anschauungen über die Denkvorgänge, wenn man sie für etwas sehr Kompliziertes hält und glaubt, die Schwierigkeit ihrer Analyse liege hauptsächlich in dieser ihrer komplexen Natur. Daraus ergibt sich aber von selbst die Konsequenz, daß man sich, wenn man an eine solche Analyse herangeht, zunächst an die anscheinend einfachsten unter ihnen, alltägliche Urteile oder einfache Subsumptionen hält. Diese waren es denn auch, die man zuerst untersuchte. Dabei hat man aber, wie ich glaube, nicht genügend mit der Tatsache gerechnet, daß unsere seelischen Vorgänge mechanisiert werden können und dann aus dem Bewußtsein fast vollständig verschwinden. Nun ist es jedoch von vornherein klar, daß ein Vorgang der Beobachtung umso leichter zugänglich sein wird, je urwüchsiger er im Bewußtsein auftritt. Wenn das für das Denken der Fall sein soll, dann muß der Denkstoff dem Denkenden einige Schwierigkeiten bieten und ihm auch ein gewisses sachliches Interesse ablocken." (Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1. Über Gedanken = Archiv für die gesamte Psychologie 9, 1907, S. 300 ff. )

Bühler glaubte sicherlich nicht zu unrecht, man könne dieses urwüchsige Erleben des Denkens dadurch erreichen, indem man der Versuchsperson interessante und relativ schwierige Fragen stellt, weil dann die Denkvor­gänge nicht mechanisiert werden können. Denn das Denken hat dann et­was zu tun. Das liegt durchaus schon auf der Linie Steiners. Das gilt für das Grundsätzliche. Und im Grundsätzlichen ist Steiner durchaus bereit so einem Verfahren beizupflichten. Nämlich dort, wo es in den Grenzbe­zirken darum geht die Veranlagung zum schauenden Bewusstsein in ei­nem psychologischen Laboratorium nachzuweisen. Man kann, wie ich oben sagte, auch die Thematik der Philosophie der Freiheit, soweit in ihr Fragen des empirischen Denkens behandelt werden, diesem Bereich zu­ordnen. Denn sie ist ja per se eine erkenntniswissenschaftliche Grenzwis­senschaft, und als solche aber zugleich über die Grenze hinausweisend. Diese Bereich lassen sich der herkömmlichen Psychologie oder besser, um systematischen Konflikten zu entgehen: der erkenntniswissenschaftli­chen Bewusstseinsphänomenologie zuordnen.

Darüber hinaus, jenseits dieses Grenzbereichs, geht Steiner in diesen Dingen allerdings sehr, sehr viel weiter als Bühler. Steiner war der Auffassung, man könne ein weit tiefgründigeres Erleben des Denkens dadurch erreichen, indem man Meditationen macht - vor allem Sinnbildmeditationen. Man darf aus Steiners Sicht, wenn man tieferen Aufschluss über das Denken erhalten will, nicht bei dem stehen bleiben, was das gewöhnliche Denken der Untersuchung bietet. Sondern man muss es stärken, vertiefen und intensivieren in einer Art und Weise, die das gewöhnliche Bewusstsein gar nicht kennt. Auch nicht das Bewusstein des akademischen Psychologen. Das Mittel, dies zu erreichen, stellen für Steiner neben verschiedenen anderen Übungen eben die Meditationen dar. Und eben diese werden auch von Walter Johannes Stein aufgeführt. Aber wie gesagt: auf eine Weise, daß für den Außenstehenden kaum klar zu erkennen ist, wovon er überhaupt spricht, geschweige denn daß man sie methodisch einsetzen könnte. Dabei hat die Sache einen vollkommen durchsichtigen und methodisch-rationalen Kern, der sich mit den Intentionen Bühlers durchaus deckt. Über den man sich auch vernünftig und fachbezogen unterhalten kann. Denn es geht in diesen Meditationen vor allem darum, die Kraft des Denkens zu verstär­ken. Das ist ein Punkt, der sich in den methodischen Überlegungen Karl Bühlers noch nicht findet. Der aber einem an methodischen Fragen inter­essierten Denkpsychologen unmittelbar einleuchten wird.

Gewiß ist es auch in manchen anderen Forschungsfeldern aussichtsreich, den trainierten Geist zu untersuchen, wie es in einem Spiegelartikel vom 09. Juni 1905 unter Hinweis auf entsprechende Überlegungen im Wis­senschaftsmagazin Science hieß. 42b Bei der tiefer gehenden Untersu­chung von Denkvorgängen spielt dieses Training für Steiner eine Schlüs­selrolle. Bei Steiner wird Urwüchsigkeit des Denkens also nicht bloß mit­telbar erreicht durch eine die Denktätigkeit belebende interessante und ausgewählte Fragestellung im Denk-Experiment, sondern sie wird er­reicht, indem die Denk-Kraft schon weit im Vorfeld direkt und nachhaltig befördert und verstärkt wird. Was ohne Frage von erheblicher qualitati­ver Bedeutung für ein Denk-Experiment ist. Das empirische Feld des er­lebten Denkens wird dadurch in einer ganz anderen und gesättigteren Weise zugänglich, als dies in den bisherigen akademischen Laborexperi­menten möglich war. Darauf beziehen sich anthroposophische Autoren natürlich mit einem gewissen Recht, wenn sie davon sprechen, (siehe Ra­vagli oben), dass das anthroposophische Forschungsverfahren mit dem der introspektiven Psychologie relativ wenig zu tun habe. Nur blenden sie dazu unberechtigterweise den gesamten Kontext der erkenntnistheore­tischen Fundierung aus, der dieses Ver­fahren erst wissen­schaftlich ver­ständlich und begründbar macht. Und der ist laut Steiner, Volkelt und vielen anderen nun einmal im Bereich einer Wissenschaft der inneren Beobachtung beheimatet.

Bühler etwa bescheinigt seinen psychologischen Zeitgenossen: Eure Versuchsverfahren taugen nichts, um über das faktische Denken Aufschluss zu erhalten. Denn ihr erlebt ja gar nichts infolge eurer experimentellen Vorgehensweise, und ihr habt nur nichtssagende mechanisierte Prozesse im Bewustsein. Und Külpe bestätigt das auf seine Weise (Ziche, S. 47) dahingehend, dass sowohl die inadaequate Methode als auch die bisherige begrifflich fundierte Erwartungshaltung dazu führt, entscheidene Dinge nicht zu sehen - in diesem Fall die unanschaulichen, sinnlichkeitsfreien Charakterzüge des Denkens: "Und so haben denn auch die ersten experimentellen Psychologen, die über Bedeutungen von Worten Versuche angestellt haben, nur dann etwas angeben können, wenn anschauliche Repräsentanten oder Begleitphänomene auftraten. In anderen zahlreichen Fällen, namentlich wenn die Worte Abstraktes oder Allgemeines bezeichneten, hatte man <<nichts>> gefunden. Daß ein Wort verstanden werden konnte, ohne Vorstellungen auszulösen, daß ein Satz beurteilt und begriffen werden konnte, obwohl nur seine Laute im Bewußtsein nachweisbar zu sein schienen, gab diesen Psychologen keine Veranlassung, unanschauliche Inhalte neben anschaulichen anzunehmen und festzustellen." Und fügt dann wenig später (Ziche, S. 48) hinzu: "Was uns in der Psychologie zu einer anderen Theorie schließlich geführt hat, ist die systematische Anwendung der Selbstbeobachtung gewesen. Früher war es üblich, nicht nach jedem Versuch über alle Erlebnisse während desselben Bericht erstatten zu lassen, sondern gelegentliche Aussagen der Versuchspersonen über auffällige oder abnorme Erscheinungen einzuholen, und sich etwa erst nach einer ganzen Reihe zusammenfassende Auskunft über die noch erinnerlichen Haupttatsachen zu erbitten. So trat nur das Gröbste ans Licht. Auch verhinderte der Anschluß an die herkömmlichen Begriffe der Empfindungen, Gefühle und Vorstellungen ein Bemerken und Benennen dessen, was weder Emp­finung noch Gefühl noch Vorstellung war. Sobald man nun anfing, in der Selbstbeobachtung geübte Personen über die Erlebnisse eines Versuchs unmittelbar nach dessen Ablauf vollständige und unbefangene Mitteilung machen zu lassen, wurde die Notwendigkeit einer Erweiterung der bishe­rigen Begriffe und Bestimmungen offensichtlich. Man entdeckte in sich Vorgänge, Zustände, Richtungen, Akte, die sich dem Schema der älteren Psychologie nicht fügten."

Was nicht in irgendwelchen Formen des Sinnlich-Anschaulichen gege­ben war, so Külpe, das existierte einfach für seine wissenschaftlichen Zeitgenossen nicht. Die Forschung seines Instituts richtete sich nun ganz betont auf dieses Nichts, das frei war von sinnlich anschaulichen Eigen­schaften. Und fand ziemlich rasch durch eine beträchtliche Variation und Veränderung der Methode heraus, dass dieses Nichts eine Fülle von klar zu beobachtenden Eigenschaften in sich barg. Vor allem legt er hier Wert auf die Feststellung, dass es vorrangig die Ablösung und Befreiung von bislang üblichen Methoden und Begriffen der Denkpsychologie war, die den Würzburgern ein völlig neues Gebiet mit völlig neuen Einsichten er­schloss. Diese herkömmlichen Methoden und Begriffe waren allenfalls geeignet nur das "Gröbste" zu bemerken. Der entscheidende Rest war an­ders als gedacht, und darauf war man nicht vorbereitet und bemerkte in­folgedessen nichts. Dies sagt Külpe, Bühlers Institutsleiter, der als erfah­rener wissenschaftlicher Selbstbeobachter auch in Bühlers Versuchen als Versuchsperson fungierte. Und was er sagt zeugt von einer grossen Be­reitschaft, sich auf Neues und Ungewohntes einzulassen, wenn es denn sachlich zu begründen war. Und Steiners methodisches Motto hinsicht­lich des Denkens geht noch viel weiter in der Ablösung von gebräuchli­chen Methoden und Begriffen und lautet: Üben, üben und noch einmal üben! Damit ihr überhaupt etwas Essentielles im Denken vorfindet, wor­über ihr urteilen könnt. Denn eine nebulose Erfahrungsbasis führt zwangsläufig zu nebulosen Theorien. Das heisst, die Übung und Schu­lung des Selbstbeobachters, auf die Külpe oben ausdrücklich mit den Worten hinweist: "Sobald man nun anfing, in der Selbstbeobachtung ge­übte Personen über die Erlebnisse eines Versuchs unmittelbar nach dessen Ablauf vollständige und unbefangene Mitteilung machen zu lassen, wurde die Notwendigkeit einer Erweiterung der bisherigen Begriffe und Bestimmungen offensichtlich.", sie tritt jetzt in den Fokus der methodischen Aufmerksamkeit. Bei Külpe ist es nicht so sehr der wissenschaftliche Versuchsleiter oder Organisator, auf den es ankommt, sondern viel mehr auf den in der inneren Beobachtung erfahrenen Erlebenden. Denn was der nicht bemerkt, das kann der Organisator und Versuchsleiter auch nicht thematisieren. Und so ist es auch bei Steiner, indem er dieses Erleben in einem bis dahin in der Psychologie unbekannten Ausmass steigert und kultiviert. Also bei dem ansetzt, der die entscheidende qualitative Grösse bei den Versuchen ist. Wobei bei ihm der wissenschaftliche Organisator und Versuchsleiter dieselbe Person ist, wie der Erlebende. Was freilich bei Külpe, der in seiner Funk­tion als Institutsleiter und wissenschaftlicher Gesprächspartner auch Ver­suchsperson war, nur geringfügig anders ist. Wieder sind es die veränder­ten Methoden und Begriffe, die ein neues Gebiet, beziehungsweise ein altes in neuer Form und in unerwarteten Aspekten und Eigenschaften zugänglich machen. Man möchte meinen: mit so einer Vorstellung hätte Steiner in dieser Zeit und angesichts dessen Wissenschafthaltung und -erfahrung bei Külpe einige Aussicht gehabt, offene Türen einzurennen.

Auf einen anderen Punkt möchte ich an dieser Stelle noch hinweisen, auf den Külpe in seiner Arbeit aufmerksam macht, und der eher bewusst­seins- und wissenschaftsgeschichtlicher Natur ist. Anthroposophische Le­ser möchten sich vielleicht auch in diesem Falle wundern, warum ich dies tue, weil ihnen einige Fragestellungen dieser Art eventuell etwas fremd sind. Und einige andere Tatsachen, von denen Külpe spricht, in den Ohren von Anthroposophen vielleicht etwas abgedroschen klingen. Ich denke die Sache wird verständlich, indem man Külpe im folgenden zuhört, wenn er von einer beträchtlichen Erweiterung des Gebietes der Selbstbeobachtung spricht. So schreibt er (Ziche, S. 53): "Die Unabhän­gigkeit der Gedanken von den Zeichen, in denen wir sie ausdrücken, ebenso wie die eigentlichen, freien, von den Gesetzen der Vorstellungs­assoziation nicht beeinflussten Beziehungen, die sie mit einander einge­hen, haben uns die Selbständigkeit der Gedanken als einer besonderen Klasse von Bewußtseinsinhalten dargetan. Damit erweitert sich nun auch das Gebiet der Selbstbeobachtung in beträchtlichem Umfange. Nicht nur das Anschauliche, Sinnenfällige und dessen Beschaffenheiten und Fär­bungen gehören zu unserem Seelenleben, sondern auch das Gedachte, Gewußte, an dem wir keine Farbe oder Gestalt, keine Annehmlichkeiten oder Unannehmlichkeiten wahrnehmen können. Wir wissen, wie schon die alltägliche Erfahrung lehrt, daß wir über eine große Spontaneität im Suchen, Aufnehmen und Erfassen von Gegenständen, in der Beschäfti­gung mit ihnen, in der Wirkung auf sie verfügen. Auch von dieser Akti­vität der Seele hatte die Psychologie bisher nur wenig Notiz genom­men. [Hervorhebung, MM ] F. A. LANGE hatte das Wort von der wissenschaftlichen Psychologie ohne Seele geprägt, in der die Empfin­dungen und Vorstellungen mit ihren Gefühlstönen die alleinigen Be­wusstseinsinhalte seien und die Physiologie darüber zu wachen habe, daß sich keine mystischen Kräfte wie etwa ein Ich in diese psychologische Welt einschlichen. Man dürfte exakterweise nur noch sagen: es denkt, nicht aber: ich denke, und das Spiel solchen Denkens bestand in nichts anderem, als in dem durch Assoziationsgesetze geregelten Kommen und Gehen der Vorstellungen. Es gibt noch heute Psychologen, die sich über diesen Standpunkt nicht erhoben haben. Ihnen gilt der Vorwurf, daß ihre Psychologie wirklichkeitsfremd ist, ..."


Wer von meinen Lesern einmal Rudolf Steiners Grundlinien einer Er­kenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (GA - 02, Dornach 1979), insbesondere dort das Kapitel 18, Psychologisches Erkennen (S. 119 ff) studiert hat, dem wird manches an Külpes Bemerkungen vertraut vorkommen. Insbesondere ist es die Aktivität des Individuums in seinem Innenleben, die Steiner dort hervorhebt und eigentlich zur Richtschnur der Psychologie macht, wenn er sagt: "Man ersieht aus alledem, daß man eine wahrhafte Psychologie nur gewinnen kann, wenn man auf die Be­schaffenheit des Geistes als eines Tätigen eingeht. Man hat in unserer Zeit an die Stelle dieser Methode eine andere setzen wollen, welche die Erscheinungen, in denen sich der Geist darlebt, nicht diesen selbst, zum Gegenstande der Psychologie macht. Man glaubt die einzelnen Äußerun­gen desselben ebenso in einen äußerlichen Zusammenhang bringen zu können, wie das bei den unorganischen Naturtatsachen geschieht. So will man eine "Seelenlehre ohne Seele" begründen. Aus unseren Betrachtun­gen ergibt sich, daß man bei dieser Methode gerade das aus dem Auge verliert, auf das es ankommt." (S. 121f)


Nicht nur Steiner, auch Külpe spricht von dieser Aktivität, die von der wissenschaftlichen Psychologie bislang nur wenig beachtet worden sei. Über weite Strecken sogar gänzlich vernachlässigt. Külpe nennt diesen Standpunkt "wirklichkeitsfremd" und hält (Ziche, S. 53) den entspre­chenden Wissenschaftlern vor, "Steine statt Brotes" zu bieten. Bündelt diese Bemerkungen dann voller Emphase in den Worten: "Wahrlich ein eigentümliches Schauspiel, daß diejenigen, die ex professo ausgehen, das Seelenleben zu erforschen und zu erkennen, an dessen Außenwerken ste­hen bleiben und sich mit dem Hallerschen Spruch trösten: ins Inn`re der Natur dringt kein erschaff`ner Geist."

In Steiners Philosophie der Freiheit wird diese von vielen wissenschaftli­chen Zeitgenossen übersehene Aktivität dann zum Kernanliegen, das sie ja schon in den Grundlinien … war, über­haupt im Rahmen der Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung des Denkens. Und auch hier ist eine Parallele zu Külpe unübersehbar. Külpe lenkt (Ziche, S. 54 f) auch hier den Blick wiederum auf den historischen Kontext der Tatsache, war­um die innere Aktivität des Ich oft so hartnä­ckig übersehen worden ist, und macht methodische Gründe dafür nam­haft. Es liegt an der Beobach­tungsveranstaltung, die dieses Übersehen begünstigt hat: "Nun erkannte man abermals, warum die bisher ange­wandte Beobachtungsweise das Denken und andere Äußerungen unserer Aktivität nicht zu finden wußte. Das Beobachten selbst ist ja ein eigenes Tun, ein mit Hingabe zu übendes Verhalten des Ich. Daneben ist eine an­dere Betätigung zur gleichen Zeit unausführbar. Unsere psychische Leis­tungsfähigkeit ist begrenzt, unsere Persönlichkeit ist eine Einheit. Aber nach Ablauf einer Funktion kann je­derzeit die Beobachtung einsetzen und sie zum Gegenstande der Selbst­wahrnehmung machen. So wurden nun viele Akte wahrgenommen, die für die Psychologie bisher nicht exis­tiert hatten: das Beachten und Erken­nen, das Wollen und Verwerfen, das Vergleichen und Unterscheiden und vieles andere. Sie alle entbehrten des anschaulichen Charakters der Emp­findungen, Vorstellungen und Gefüh­le, obwohl sie von solchen begleitet werden konnten. Und es ist bezeich­nend für die Hilflosigkeit der früheren Psychologie, daß sie diese Akte durch solche Begleiterscheinungen defi­nieren zu können glaubte. So be­trachtete sie die Aufmerksamkeit als eine Gruppe von Spannungs- oder Muskelempfindungen, weil die sogenannte gespannte Aufmerksamkeit solche Empfindungen auftreten ließ. Ebenso wurde das Wollen in Bewegungsvorstellungen aufgelöst, weil diese einer äußeren Willenshandlung vorauszugehen pflegten. Diesen Konstuktio­nen, deren Künstlichkeit sofort einleuchten sollte, war der Boden entzo­gen, sobald man die Existenz besonderer psychischer Akte eingesehen, und damit die Empfindungen und Vorstellungen ihrer Alleinherrschaft im Bewußtsein beraubt hatte."

Dass die Beobachtung von (Denk) Akten zwei getrennte Akte verlangt, bzw im Nachhinein zu erfolgen hat, war offensichtlich für viele psychologische Zeitgenossen eine sehr befremdliche Vorstellung. Deswegen, so Külpe kamen sie nicht darauf, und entdeckten ensprechend auch nichts in der Richtung, in der Külpe dann in seinem Institut fündig wurde. Man muss als Aussenstehender sagen: weil Külpe ein Beobachtungsverfahren anwandte, wie es Rudolf Steiner im dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit beschreibt - beobachtet wird in zwei getrennten Akten und aus der Retrospektive - deswegen, und nur deswegen findet er Eigenschaften und Vorkommnisse im Bewusstsein, die man sonst nicht hat erkennen können. Das sind die Worte Külpes, die ich hier wiedergebe. Und er bringt im Kern die selben Gründe vor, wie sie auch Steiner in der Philosophie der Freiheit im dritten Kapitel an­führt. Gedanken lassen sich nicht betrachten wie die sinnlich anschauli­chen Dinge, so Külpe (Ziche, S. 54): "Man machte die Erfahrung, daß sich das Ich nicht trennen ließ. Denken, mit einer gewissen Hingabe und Vertiefung denken und die Gedanken gleichzeitig beobachten - das ließ sich nicht durchführen. Zuerst das eine und dann das andere, so hieß dar­um die Losung der jungen Denkpsychologie. Und das gelang überra­schend gut."

Steiner spricht von einer "Spaltung" und Külpe von einer "Trennung" des Ich, die sich nicht durchführen lasse. Und es ist einleuchtend, warum dies so ist: Das Beobachten des Denkens und der Gedanken verlangt dieselbe Aktivität des Ich, wie das Denken selbst. Denn es geht bei dieser Beob­achtung um die erkennende Reflexion von Erfahrungen oder Erlebnissen des Denkens und über diese Erfahrungen. Und diese Reflexion solcher Erfahrungen kann schlechterdings erst dann stattfinden, wenn die Erfah­rungen bereits gemacht worden sind. Vorher nicht, und auch nicht gleichzeitig!

Sofern diesbezügliche Reflexionen vorher stattfinden sind es allenfalls theoretische Vorüberlegungen, die durchaus auch Sinn haben. Zahlreiche Beispiele solcher vernünftigen Vorüberlegungen finden sich etwa in oben bereits genannten Schrift Erfahrung und Denken von Johannes Volkelt. Siehe: Johannes Volkelt, Erfahrung und Denken, Leipzig, 1886. Solche Vorabüberlegungen sind kaum anders zu bewerten und kaum weniger nützlich als theoretische Vorüberlegungen zu naturwissenschaftlichen Versuchen jedweder Art. Sie haben in erster Linie einen prognostischen aber auch problematisierenden Charakter. Man reflektiert dann, was sinn­vollerweise anhand bisheriger Theorien und Annahmen in der Erfahrung zu erwarten ist. Im Rahmen solcher Reflexionen kann man sich selbstver­ständlich, wie Volkelt dies S. 336 ff tut, auch Gedanken dazu machen, welchen Bedingungen oder logischen Forderungen das rein begriffliche Denken genügen müsse. Und was dort gegebenenfalls dann bewusst­seinsphänomenologisch in den Denkerlebnissen zu erwarten ist. Und an der Erfahrung überprüfen lassen sich solche Vorausüberlegungen freilich ebenfalls nur, - und da geht es im faktischen Betrieb der empirischen Wissenschaft des Denkens in der Reihenfolge der Schritte prinzipiell nicht anders zu als in den Naturwissenschaften -, wenn man auch wirk­lich denkt, das heisst: empirische Erfahrungen damit macht. Und dann diese empirischen Erfahrungen des Denkens mit dem vergleicht, was die prognostischen Vorüberlegungen haben erwarten lassen, und ob die er­lebten Tatsachen eventuell anders sind als prognostiziert oder vermutet.

Im Falle der Beobachtung des Denkens - und das ist eben die Besonder­heit hier - ist die nachträgliche empirische Reflexion (Beobachtung) von derselben Art wie die Tätigkeit selbst, auf die anschliessend wissen­schaftlich reflektiert wird. Und diese Aktivität, so sagt es Külpe nachfol­gend, ist ein unverwechselbarer und höchster Ausdruck des Ich, oder: des im Bewusstsein anwesenden Monarchen, der dort regiert.


Die Entdeckung von seelischen Akten infolge eines gewandelten Beob­achtungsverständnisses, so Külpe (Ziche S. 55) nämlich weiter, hatte er­hebliche Konsequenzen für die gesamte Psychologie des Menschen. Es fand etwas statt, was man im Rahmen der Psychologie bezeichnen möch­te als Umwertung aller Werte, um dieses von Nietzsche geprägte Schlag­wort zu bemühen: "Die Aktivität wurde zur Hauptsache, die Rezeptivität und der Mechanismus der Vorstellungen zur Nebensache." Külpe dazu ausführlicher: "Mit der Erkenntnis dieser Akte stellte sich bald noch eine wichtige Neuerung ein. Der Schwerpunkt des Seelenlebens mußte sich verschieben. Bisher konnte es heißen: wir sind aufmerksam, weil unsere Augen sich auf einen bestimmten Punkt des Sehfeldes einstellen und die sie in dieser Lage haltenden Muskeln stark gespannt sind. Jetzt wurde uns klar, daß diese Auffassung die Sache ganz verkehrt darlege, und daß es vielmehr heißen müsse: wir stellen unsere Augen auf einen gewissen Punkt ein und spannen die Muskeln dabei an, weil wir auf ihn achten wollen. Die Aktivität wurde zur Hauptsache, die Rezeptivität und der Mechanismus der Vorstellungen zur Nebensache. Die monarchische Ein­richtung unseres Bewußtseins tritt zutage. Das Ich sitzt auf dem Thron und vollzieht Regierungsakte. "

Külpe, das muss man hier - leider - in Parenthese hinzufügen, steht Ru­dolf Steiner in den grundlegenden methodischen Fragen viel näher, als diesem bis heute dessen eigene Anhänger aus der Anthroposophie häufig selber stehen. Die vielfach bis in die Gegenwart das Beobachtungsproze­dere der Philosophie der Freiheit nicht begriffen haben. Die auch wenig Neigung erkennen lassen, sich mit der Problemstellung etwas ausführli­cher zu befassen. Und infolgedessen über allerlei Veränderungen in Stei­ners Beobachtungsbegriff sinnieren, offensichtlich ohne die Dinge jemals selbst gründlich in Augenschein genommen zu haben - weder die Stei­nersche Quelle, noch das Verfahren selbst, noch die historisch wissen­schaftliche Diskussion darüber. Sondern sich, davon ziemlich unberührt, allerlei wirklichkeitsfremde und haltlose Hypothesen darüber zusammen phantasieren. Und vor allem ohne sich bei den Psychologen der Stein­erzeit darüber etwas Rat zu holen. Ich darf den Leser hierzu an vier mei­ner übrigen Arbeiten auf meiner Website verweisen, die das eingehend thematisieren. (1, 2, 3 , 4)

Külpes eben von ihm selbst skizzierte Beobachtung von (Denk) Akten läuft, das ist sehr zu betonen, nach dem selben Muster ab, wie es Steiner im dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit für das Denken skizziert. Ich habe auch schon häufig darauf hingedeutet, dass dies von Steiner sachlich sehr begründet so gesehen wird. Begründeter übrigens, als es Külpe im vorliegenden Vortrag erläutert, von dem man sich wünscht, dass er in diesen entscheidenden Fragen etwas ausführlicher ausgefallen wäre. Präziserweise müsste Külpe nämlich von einem nachträglichen Er­kennen, und nicht von einem nachträglichen Wahrnehmen von Akten sprechen, denn das Wahrnehmen (Erleben) des Aktes hat ja während des Aktes in Form des Akterlebnisses bereits stattgefunden. Sonst liesse sich hinterher darüber nichts Detailliertes und empirisch Tatsachenhaltiges sa­gen. Die spezifische Natur und die charakteristischen Eigentümlichkeiten der Erlebnisse könnten dann nicht auf den Begriff gebracht werden. Das geht natürlich nur unter der Voraussetzung, dass sie auch stattgefunden haben. So wird es von Bühlers Versuchspersonen in dessen Versuchspro­tokollen auch dargestellt. Was aber nicht stattgefunden haben kann während des Aktes ist sein gleichzeitiges Erkennen. Und das kann auch gar nicht anders sein. Die Erlebnisse des Denkens bleiben eben so lange reine Denkerlebnisse, die nicht näher begrifflich spezifiziert worden sind, bis der nachfolgende begriffliche Bestimmungsvorgang erfolgt ist. Meri­jn Fagard hat das in einem Artikel auf meiner Website noch einmal in praktischer Anwendung sehr ausgiebig und für den Leser nachvollzieh­bar durchexerziert. Es ist lohnend sich vor dem Hintergrund der Ausfüh­rungen Külpes diese Dinge einmal anzusehen. Ich kann Ihnen, lieber Le­ser nur die dringende Empfehlung geben, in Ihrem eigenen Bewusstsein nach solchen Tatsachen wie Aktivitätserlebnissen zu suchen. Und seien Sie versichert, wir reden hier nicht über Fragen, die weit jenseits Ihrer praktischen Möglichkeiten oder Ihres theoretischen Fassungsvermögens lägen. Sondern zunächst über äusserst triviale Dinge des alltäglichen Be­wusstseins, über die man auch nicht sachlich urteilen kann, wenn man sie nicht selbst erlebt und seine eigenen Gedanken dazu formuliert hat. Mir scheint nämlich sehr bezeichnend zu sein, dass Külpe auch ein unzuläng­liches Verständnis von Beobachtung dafür verantwortlich macht, dass seine Zeitgenossen all die Vielfalt an Akten und sinnlichkeitsfreien Vor­kommnissen im Bewusstsein nicht bemerkt haben. Und dies, das sage ich hier noch einmal in aller Offenheit und aller Deutlichkeit, ist für mich auch der naheliegende Grund dafür, warum Herbert Witzenmann sich bis an sein Lebensende mit dem Verständnis der Beobachtung von aktuellen (Denk) Akten so verzweifelt schwer tat, während Külpe und seine Leute dieses Problem mit derselben methodischen Lösung klärten, wie es Stei­ner im dritten Kapitel der Philosophie der Freiheit erläutert, und infolge­dessen auf Anhieb eine Fülle solcher Akte und vieles andere mehr fan­den. Welche Folgen das für Witzenmanns Schüler hatte, können Sie an einem exemplarischen Beispiel hier beim Witzenmannschüler Marcelo da Veiga studieren. Die ganze Hilflosigkeit der jüngeren Anthroposophie wird daran, am Schüler und seinem Lehrer augenfällig, methodisch mit der Frage der Beobachtung von Denkakten umzugehen. Eine Hilflosig­keit, die wahrlich nicht geringer ist, als jene seiner wissenschaftlichen Zeitgenossen, von denen Külpe spricht. Näheres zu diesem Thema siehe auch hier. Man darf sich weiter fragen, welche mittelbaren Folgen das wohl für Hartmut Traub hatte, der speziell über diese Dinge, wie mir scheint, ebenfalls wenig Sinnhaltiges schreibt, worüber wir uns später an anderer Stelle noch ausführlicher äussern werden. Und dessen steinerkri­tisches Buch Philosophie und Anthroposophie, Stuttgart 2011 (siehe die einleitenden Worte dort) immerhin über weite Strecken im Umfeld und in der Diskussion mit der Alanushochschule gewachsen ist. Offensicht­lich war in diesem Umfelde niemand imstande, die Sachverhalte hinrei­chend zu verdeutlichen. Nebenbei gesagt kann man sich auch überlegen, wie weit Eduard von Hartmann, mit dem Steiner am Ende des dritten Ka­pitels der Philosophie der Freiheit in deren Zweitauflage 1918 eine Art Debatte darüber führt, wie weit das Denken beim Beobachten seiner selbst getäuscht werden könne, als ausdrücklicher Assoziationpsychologe auch ein methodischer Gefangener seiner eigenen Denktheorie war? Die­ser Assoziazionismus nämlich, das sagt Külpe weiter oben, war eigent­lich ganz unfähig, die Aktivitäten und die die unanschaulichen Bestand­teile des Denkens überhaupt zu bemerken. Und wer unanschauliche Bewusstseinsanteile nicht zu bemerken vermag, der muss zwangsläufig glauben, diese nicht bemerkten Anteile seien generell unbewusst. Dazu einiges hier. Dies alles wie gesagt in Parenthese angemerkt.


Eine völlige Umkehrung der bisherigen mechanistischen Betrachtungs­weise des Seelenlebens findet laut Külpe statt, wenn man beginnt auf die Aktivität des innerlich handelnden Ich zu achten. Zutage tritt, was er als "Monarchische Einrichtung unseres Bewußtseins" be­zeichnet. "Das Ich sitzt auf dem Thron und vollzieht Regierungsakte." Auch so ein Bild wird anthroposophischen Lesern vielleicht nicht unver­traut vorkommen. Was ihnen vielleicht weniger vertraut ist: Dieses Bild, das gilt zumindest für die modernere Psychologie, aber vielfach auch für die Philosophie, ist erst neueren Datums. Darauf deutet Külpe hin, wenn er von dieser Umwertung spricht. Davor gab es das in dieser Form nicht. In der Philosophie immerhin, so kann man sagen, gab es dafür Vorläufer wie J.G. Fichte, Kant, vielleicht auch Descartes, die auf eine Art Monar­chen ihre gedankliche Aufmerksamkeit gerichtet haben. In der modernen psychologischen Wissenschaft im engeren Sinne war man allerdings meist weit davon entfernt, dies in den Fokus des wissenschaftlichen Blickfeldes zu bekommen. Külpe macht das an dieser Stelle an methodi­schen Problemen fest, warum der Monarch und seine Akte nicht aufge­fallen sind. Meine Frage dazu ist hier: ist das nur die Folge einer, wenn man so will: mehr wissenschaftsmethodischen Entwicklung dahingehend, dass eine bestimmte Methodologie der inneren wissenschaftlichen Beobachtung erst relativ spät in der Neuzeit begann, sich durchzusetzen? Oder liegt es (auch) an der Bewusstseinsverfassung der Menschen selbst, dass sie dieser inneren Aktivität eines Ich als Einheit der Persönlichkeit so lange keine erkennende Aufmerksamkeit schenkten? Denn es ist ja klar: wer selbst keine Eigenaktivität im Bewusstsein erlebt, sondern über­wiegend Fremdaktivität - eigendynamische Vorstellungen, Assoziationen und Gedankenbilder, die unkontrolliert auf- und wegtauchen, ungebremst flutende Emotionen und Affekte, und leibliche Bedürfnisse aller Art, die ihn umtreiben, das heisst: einen weitgehenden Automatismus des Seelen­lebens, dem er ziemlich hilflos ausgeliefert ist und dem er ständig zu­sieht, - der hat gar keine sachliche Veranlassung dazu, seine eigene inne­re Aktivität besonders zu thematisieren, weil er sie eben viel zu selten oder nie bewusst in all diesem Treiben bemerkt. Wer sollte innere Eigenaktivität zum philosophischen oder psychologischen Kernthema machen, wenn er permanent nur umgetrieben wird? Er wüsste ja gar nichts darüber zu sagen. Das moderne Ich-Bewusstsein mit seinem Aktivitätsakzent scheint vielleicht nicht von Gestern zu sein. Ich sage das hier auch speziell mit Blick auf Spinoza, der eine vollständig mechanistisch-deterministische Auffassung des Seelenlebens vertrat, und wo von einem Ich als Monarchen, der in diesem Seelenleben regiert, wahrlich nicht die Rede sein kann. Bei ihm tritt das besonders eindrucksvoll in Anlehung gar an Bilder der Sklaverei zutage. In mancherlei Hinsicht kann man bei ihm geradezu den Idealtypus einer antimonarchistischen Seelenlehre beobachten. Das völlige Gegenteil dessen, was Külpe als eigene psychologische Einsicht seinem Leser vorträgt. Siehe dazu meine Gedankenskizze zu Spinoza auf meiner Website. So scheint es mir nicht ganz zufällig zu sein, dass Steiner im ersten Kapitel der Philosophie der Freiheit die freiheitsphilosophische Debatte ausgerechnet so ausführlich mit Spinoza, dem förmlichen Antipoden der von Külpe skizzierten seelischen Monarchie, beginnt. Insbesondere wird dies augenfällig, wenn man sich Spinozas empirische Belege von psychologischer Relevanz in seiner Ethik anschaut. Und in die heutige Gegenwart gewendet: Ist dieser von Külpe gemeinte Monarch derzeit wirklich schon entdeckt und entsprechend allgemein gewürdigt? Wenn man sich manche geläufigen Theorien vom denkenden Gehirn und allerlei Vergleichbares ansieht, dann scheint das doch eher nicht der Fall zu sein. Und die Gründe dafür sind wohl teilweise die selben, die schon zu Külpes Zeit galten: Man sieht den Monarchen nicht, weil er sinnlich nicht sichtbar ist. Vielleicht erlebt man ihn aus den eben genannten Grün­den auch nicht wirklich. Und daher bleibt man nur an den Außenwerken stehen. Deswegen gilt wohl auch in der Jetztzeit, vermutlich weit mehr als zu seiner Zeit noch Külpes Urteil hinsichtlich der realitätsblinden Vorstellungen über die mechanistische oder biologistische Verfassung des Seelenlebens: "Es gibt noch heute Psychologen, die sich über diesen Standpunkt nicht erhoben haben. Ihnen gilt der Vorwurf, daß ihre Psy­chologie wirklichkeitsfremd ist ..." Und so geben sie denn "Steine statt Brotes". Man könnte hier, angesichts der heutigen Abneigung der akade­mischen Welt, sich auf Fragen der inneren Beobachtung überhaupt nur einzulassen (s. o.), geradezu von einer wirklichkeitsfremden Diktatur der Wissenschaft sprechen. Zum Verständnis des Denkens und der tieferen Wesenheit des Menschen ist das ungefähr so hilfreich und zielführend, als wollte der Papst in Rom darüber spekulieren, was Gott am liebsten zu Mittag isst.

Philosophisch, so sagt Steiner 1921 einmal vortragsweise, sei es alles andere als ein Kinderspiel, die Aktivität des Denkens zu erfassen: "Dennoch ist es außerordentlich schwierig, auf diesem Wege rein philosophisch hinzukommen zu der Erfassung der Aktivität des Denkens, und ich kann es vollständig verstehen, daß Geister wie Richard Wahle, der sich einmal klar vor die Seele gestellt hat, wie das Wahrnehmen eigentlich nur Chaotisches vor unsere Seele hinsetzt, und wie solche Denker, die wirklich nur dasjenige vor sich haben, was Johannes Volkelt mit Recht genannt hat die einzelnen nebeneinandergesetzten Fetzen des äußeren Wahrnehmens, die das Denken erst ordnen muß - ich kann es verstehen, wie solche Denker dann, weil sie sich ganz einleben in das Wahrnehmen, nicht dazu kommen, sich auch einleben zu können in die aktive Wesenheit des Denkens, sich nicht aufschwingen können dazu, anzuerkennen, daß wir, indem wir die Aktivität des Denkens erleben, in einer Tätigkeit ganz drinnenstehen, und weil wir ganz drinnenstehen, sie mit unserem Bewußtsein völlig verbinden können. Ich kann mir gut vorstellen, wie unbegreiflich es solchen Denkern ist, wenn man ihnen aus dem vollen Erleben dieser Aktivität des Denkens die Worte entgegnet: Im Denken haben wir das Weltgeschehen selber an einem Zipfel erfaßt! -, wie ich es in meiner «Philosophie der Freiheit» ausgesprochen habe." ( GA-78, Dornach 1986, S. 41 f. Vortrag vom 30. August 1921.) Die von ihm betonten Schwierigkeiten, philosophisch die Aktivität des Denkens in den Blick zu bekommen, decken sich auffallend mit dem, was Külpe seiner Zeit aus psychologischer Sicht bescheinigt. Und man hat vor diesem Hintergrund allen Anlass sich zu fragen: Woran liegt das eigentlich? - Psychologiegeschichtlich und methodisch kann Oswald Külpe eine plausible Antwort darauf geben.


Bei Külpe, um dies noch einmal zusammenzufassen, ist es vor allem die Methode, die zu einer völligen Umwandlung der Ansichten über das menschliche Seelenleben führt. Und dies gilt in ganz besonderer Weise hinsichtlich der Auffassungen über das Denken. Vielleicht sollte man, um der philosophischen Feinheit der Betrachtung willen, noch darauf hinweisen, dass Külpe von einem Monarchen, nicht aber von einem Despoten oder Diktator spricht. Und das stark idealisierte Bild vom Monarchen - eigentlich ist es ja eine Zukunftsvision - ist sicherlich in mancherlei Hinsicht der Realität noch um einiges anzupassen, weil sein Thron doch ziemlich häufig wackelt, und die Regierungsgeschäfte meist nicht ganz so reibungslos vonstatten gehen, wie es das Bild suggeriert. Die sachlogische Weiterentwicklung seiner methodischen Ambitionen indessen liegt in meinen Augen ganz naturgemäss in einer systemati­schen Anwendung eines meditativen Verfahrens, welches die Kräfte des Seelenlebens nicht so belässt, wie sie durch Biologie, Erziehung und So­zialisation eben zufällig geworden sind, sondern in dem, was der Mon­arch gezielt daraus macht. Denn das liegt in der Logik des von Külpe ge­meinten seelischen monarchischen Verhaltens. Und darauf setzt Rudolf Steiner. Der Kern der monarchischen Seelenäusserungen, seine Eigenak­tivität im Denken und im übrigen Seelenleben sind in einer sehr spezifi­schen Weise zu schulen und zu pflegen, damit der Beobachter nicht nur die seelischen Erscheinungen in der Qualität des gewöhnlichen Alltags­bewusstseins in Augenschein nimmt, sondern in einer viel aussagefähige­ren - eben monarchischen - Prägnanz, die das gewöhnliche Alltagsbe­wusstsein nicht bietet. Das heisst, wer innere Aktivität nicht sehr ein­drucksvoll erlebt (siehe oben), der kann darüber auch nicht viel sagen, auch wenn er im übrigen ein guter Selbstbeobachter wäre. Also muss er zusehen, dass er die entsprechende empirische Basis qualitativ auf ein höheres Niveau bringt, als es ihm das gewöhnliche Leben im Normalfall gestattet. Und das gilt vergleichbar für alle übrigen Erscheinungen des Seelenlebens. Bleibt das Erleben flach, so werden es auch die deskripti­ven wissenschaftlichen Aussagen darüber sein. Und das gilt nicht weni­ger für die unanschaulichen Aspekte des Denkens, seien sie willenshaf­ter, begrifflicher oder sonstiger Natur. Wer nicht wirklich denkt, der wird auch die anschauungslosen Aspekte des Denkens nie in den Blick bekommen. Und wer nicht wirklich liebt, leidet und mitleidet, dem werden auch dafür die angemessenen Worte und Begriffe abgehen.

Auf diesen methodischen Gesichtspunkt der Meditation - Verstärkung der Denk-Kraft - weist Steiner so häufig hin, daß ich mir hier einen ausführlicheren Beleg spare. Einiges dazu findet der Leser an anderer Stelle auf dieser Homepage. Sehr prägnant wird dieser Aspekt auch angesprochen im gemeinschaftlich von Ita Wegmann und Rudolf Steiner herausgegebenen Band Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst (GA-27, Dornach 1977, S. 8 ff. Ferner in den Gesamtausgaben GA-84 und GA-25, um nur wenige zu nennen). Man könnte ebenso den ganzen Bereich der sogenannten Nebenübungen methodisch ins Gespräch bringen, denn die sind nicht minder interessant und bedeutsam für die Psychologie des Denkens. (Siehe dazu Steiners "Geheimwissenschaft im Umriss", (GA-13), weiter auch die Schriften GA-10; GA-12) Es gibt also reichlich Anlass und Gelegenheit mit Denkpsychologen ins methodische Gespräch zu kommen, ohne in irgend einen nebulösen Mystizismus oder nur ins abstrakt Philosophische abgleiten zu müssen. Man muß nur kon­kret werden, das ist eine Forderung, die sich aus dieser methodischen Verwandtschaft ableiten läßt. Und konkret werden könnte etwa heißen, daß eine Einrichtung wie das Friedrich von Hardenberg Institut in Hei­delberg sich einmal mit dem Institut für Sozialpsychologie der Universi­tät Hamburg (im Internet erreichbar unter www.introspektion.net\in­dex.html ) in Verbindung setzt und sondiert, ob und wie weit Möglich­keiten einer Zusammenarbeit bestehen. Denn in diesem Hamburger Insti­tut versucht man unter anderem experimentell an die Überlegungen der Würzburger anzuknüpfen. Das wäre also ein passender Gesprächspartner.

Vielleicht ist es nur ein Zufall ohne innere sachliche Verbindung, wenn Walter Johannes Stein in seiner Dissertation schreibt: "Und so kann man auch die Wirklichkeit des Denkens nicht erfassen, wenn man bloß das Logische am Denken beachtet. Das Denken, das für das gewöhnliche Be­wußtsein unbeobachtetes Element ist, muß nicht bloß gedacht, sondern auch beobachtet werden. Das Denken selbst muß wahrgenommen wer­den. Mit dieser Forderung deuten wir auf ein Zweifaches im Denken. Einmal auf das, was jeder kennt, das in der Erinnerung anschaubare Den­ken, von dem zum Beispiel Husserl spricht. Dann auf das aktuell gegen­wärtige Denken, das völlig unanschaulich ist für das gewöhnliche Be­wußtsein." (Thomas Meyer, a.a.O., S. 195) Eben auf dieses gegenwärtige und nicht bloß vergangene logische Denken hatten die Würzburger unter Külpe, namentlich Bühler in seinen Versuchen, ihre Aufmerksamkeit ge­richtet. Und das Vorhandensein völlig unanschaulicher, aber substantiell tragender Elemente, war gerade eines der bedeutendsten und spektakulärsten Resultate ihrer Untersuchung.

Wer sich von anthroposophischer Seite eingehender mit Steiners Begriff des intuitiven Denkens befaßt, der kommt sehr bald darauf, daß dieses intuitive Denken dasselbe bedeutet wie das reine oder sinnlichkeitsfreie Denken. Was so viel heißt wie: dieses intuitive Denken ist von seiner wesentlichen Erfahrungsseite her anschauungslos oder sinnlichkeitsfrei. Und diese Sinnlichkeitsfreiheit wiederum ist das entscheidende Merkmal des schauenden Vermögens für Rudolf Steiner. Anders gesagt: die Wüz­burger haben (siehe oben) eigentlich dasjenige entdeckt, was Steiner in Wahrheit und Wissenschaft die intellektuelle Anschauung genannt hat. Und was dann in der Philosophie der Freiheit unter anderem unter dem Ausdruck intuitives Denken firmiert. Und das ist für Steiner die element­artse Stufe des rein geistigen Erlebens respektive der übersinnlichen Wahrnehmung. (Näheres siehe hier) Diese Gemeinsamkeit verdient nä­her betrachtet zu werden. Solange man nur philosophisch-distanziert über diese Dinge redet oder sich gedanklich in einen Kokon anthroposophischer Selbstgenügsamkeit einspinnt, wird man die Frage, ob hier nur eine äußerlich-zufällige Koinzidenz oder ein innerer sachlicher Zusammenhang besteht, nicht klären können. Man muß sich schon konkret darauf einlassen.

Nun berichte ich diese Episode nicht um nur etwas mit Rittelmeyer oder Walter Johannes Stein auszufechten, sondern weil die Zeiten inzwischen so sind, daß früher oder später eine analoge Konstellation wie die zwi­schen Rittelmeyer und Külpe mit einiger Wahrscheinlichkeit eintreten kann. Denn Fragen der Bewußtseinspsychologie, die man lange tabuisiert hatte, sind wieder vermehrt Gegenstand des wissenschaftlichen Interes­ses. (Siehe dazu das oben angeführte Buch von Paul Ziche, Herausgeber, Instrospektion, Texte zur Selbstwahrnehmung des Ichs, Springerverlag, Wien New York, 1999) Sie kommen allmählich aus ihrem Nischendasein wieder ans Freie. Es ist daher nur eine Frage der Zeit, wann sich eine ähnlich günstige Gelegenheit für den Forschungskontakt neuerlich bietet. Und darauf sollten die Anthroposophen vorbereitet sein.

Leider, so muß man festhalten, war es der introspektiven Psychologie nicht vergönnt, sich so weit zu entfalten, daß sie in den Weg hätte ein­münden können, den die Anthroposophie beschreitet, oder wenigstens soweit, daß sich die Konturen eines solchen Weges hinreichend deutlich abgezeichnet hätten, so daß man ihm im Rahmen eines Forschungspro­gramms vielleicht nachgegangen wäre. Angelegt scheint diese Möglich­keit im Prinzip gewesen zu sein, wenn man sich an die Überlegungen Oswald Külpes erinnert.

Nach der heutigen Lage der Dinge ist es für die Anthroposophie ganz un­verzichtbar, sich unter Einbeziehung des psychologischen Umfeldes mit dem Begriff der Selbstbeobachtung neu und weitläufig auseinanderzuset­zen, wenn sie nicht der fundamentalen und vernichtenden Kritik an ihrer Grundlage und an ihrer Methode ebenso hilflos ausgeliefert sein will wie seinerzeit die introspek­tive Psychologie. Das ist ein Resultat, das sich bei entsprechender Be­schäftigung mit dem Werdegang der introspektiven Psychologie ableiten läßt. Hält man sich zudem die potentiellen Entwick­lungsmöglichkeiten dieser Psychologie vor Augen, dann dürfte das allein schon Anlaß genug sein, sich mit ihr eingehender zu befassen und es kann auch nicht überra­schen, daß Steiner selbst auf die Notwendigkeit eines unabhängigen psy­chologischen Zugangs zur Anthroposophie eindringlich hingewiesen hat. Er war überzeugt von der Realisierbarkeit eines vermittelnden Wissen­schaftsweges zur Anthroposophie, der die letztere nicht immer schon voraussetzt, sondern die Verfahren der nicht-anthroposophischen Psychologie aufgreift. Was ihm in dieser Hinsicht unentbehrlich schien, war ein psychologisches Laboratorium, wie wir es bereits oben angeführt haben: "Will man nämlich die beste Grundlage schaffen zu anthropologisch-psychologischen Ergebnissen, die bis an die <Erkenntnis-Grenzorte> gehen, an denen sich Anthropologie mit Anthroposophie treffen muß, so kann dies durch ein psychologisches Laboratorium geschehen, wie ein solches Brentano in Gedanken vorgeschwebt hat. Um die Tatsachen des <schauenden Bewußtseins> herbeizuführen, brauchten in einem solchen Laboratorium keine Experimentalmethoden gesucht zu werden, aber durch diejenigen Experimentalmethoden, die gesucht werden, würde sich offenbaren, wie die menschliche Wesenheit zu diesem Schauen veranlagt ist, und wie von dem gewöhnlichen das schauende Bewußtsein gefordert wird. Jeder, der auf dem anthroposophischen Gesichtspunkt steht, sehnt sich ebenso wie Brentano, in einem echten psychologischen Laboratorium arbeiten zu können, was durch die heute noch gegen die Anthroposophie herrschenden Vorurteile unmöglich ist." 43. Dem wäre weiter nichts hinzuzufügen als die Bemerkung, daß eine solche Arbeit sich zweifellos in den Kontext der zeitgenössischen Psychologie eingefügt und sich deren Sprachgebrauch, methodologische Kategorien und Problembewußtsein zu eigen gemacht hätte.

Ende Kapitel 5


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