Studien zur Anthroposophie
Michael Muschalle
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Michael Muschalle
Über den Zusammenhang von
Freiheitsfrage und Erkenntnisfrage
Ein Beitrag zum Verständnis des intuitiven
Denkens in Steiners Philosophie der Freiheit
(Stand 27. 09. 12 )
*
"Ein erkennendes Wesen kann nicht unfrei sein. "
Rudolf Steiner, Die Natur und unsere
Ideale, (1886) GA 30, Dornach 1989, S. 239
*
I.
Erkennen und Freiheit gehören für Steiner
zusammen. Freiheitsphilosophie wurzelt in der Erkenntnistheorie.
Der Philosoph Peter Bieri schreibt in seinem
Buch Das Handwerk der Freiheit (München/Wien 2001, S. 397) "In
dem Maße, in dem die Aneignung des Willens auf Artikulation und Verstehen
beruht, handelt es sich um einen Erkenntnisprozeß. Wachsende Erkenntnis bedeutet
wachsende Freiheit. So gesehen ist Selbsterkenntnis ein Maß für Willensfreiheit.
Dieser Zusammenhang gibt uns eine erste Lesart der intuitiven Idee, daß ein
freier Wille ein Wille ist, mit dem ich mich >indentifizieren< kann: Es ist
ein Wille, den ich mir zurechnen kann, weil ich ihn in seinen Konturen erkannt
und weil ich verstanden habe, wie er in die Geschichte und die gegenwärtige
Struktur des Wünschens eingebettet ist, die mich zu dieser bestimmten Person
machen."
Eine der Auffassung Bieris sehr verwandt klingende Überzeugung
drückt Steiner gegen Ende des ersten Kapitels der Philosophie der Freiheit
(GA - 4, Dornach 1978, S. 23) aus, wenn er sagt: "Daß eine Handlung
nicht frei sein kann, von der der Täter nicht weiß, warum er
sie vollbringt, ist ganz selbstverständlich. Wie verhält es sich aber
mit einer solchen, von deren Gründen gewußt wird?"
In beiden Fällen geht es darum, sich der Gründe seines
Handelns bewußt zu werden. Von Freiheit kann nicht die Rede sein, wenn ich
nicht weiß, was mich umtreibt. Ich muß Kenntnis haben von den Motiven
meines Handelns, um ernsthaft von freien Handlungen reden zu können. Und das
kann, wie Bieri in seinem Buch ausführlich darlegt, eine ziemlich verwickelte
Angelegenheit sein, weil sich diese Motive nicht so ohne weiteres zeigen, sondern
sich oft hinter Masken verbergen oder zunächst ganz und gar unsichtbar bleiben.
Auf jeden Fall aber gilt: Ohne den Willen zur Selbsterkenntnis, ohne die Erkenntnis
der Handlungsmotive keine Freiheit.
Es wäre reizvoll diese Gegenüberstellung erheblich auszuweiten.
Ich will mich hier auf einen einzelnen Punkt beschränken und demonstrieren,
daß Steiner mit seinen Gedanken in mancher Hinsicht doch konsequenter ist
als Peter Bieri. Deswegen konsequenter, weil er in einem viel umfassenderen Sinne
als Bieri die Freiheitsfrage mit der Erkenntnisfrage verknüpft und die Untersuchung
auch auf das Erkennen selbst ausdehnt. Dahingehend, sich zu fragen, was Denken
und Erkenntnis überhaupt ist, und ob denn das denkende Erkennen selbst auch
frei, oder von woher auch immer determiniert sei.
Steiner führt den eben zitierten Gedanken (S. 23 f) mit den
Worten fort: "Das führt uns auf die Frage: welches ist der Ursprung und
die Bedeutung des Denkens? Denn ohne die Erkenntnis der denkenden Betätigung
der Seele ist ein Begriff des Wissens von etwas, also auch von einer Handlung nicht
möglich. Wenn wir erkennen, was Denken im allgemeinen bedeutet, dann wird
es auch leicht sein, klar darüber zu werden, was für eine Rolle das Denken
beim menschlichen Handeln spielt. «Das Denken macht die Seele, womit auch
das Tier begabt ist, erst zum Geiste», sagt Hegel mit Recht, und deshalb
wird das Denken auch dem menschlichen Handeln sein eigentümliches Gepräge
geben."
Bei Steiner führt die Freiheitsfrage durch die ihr eigene
Sachstruktur mit Notwendigkeit auf die Erkenntnisfrage. Und zwar in einem dreifachen
Sinn. Einmal will im Grundsatz geklärt sein, was wir überhaupt tun, wenn
wir denken und erkennen. Zweitens geht sie darauf, welche Rolle das Denken und
Erkennen ganz speziell in unserem Handeln spielt. Und drittens schließlich,
- Steiner sagt das an dieser Stelle nicht ganz so explizit, aber es ist fast die
entscheidende Frage seiner ganzen Freiheitsphilosophie - geht sie darauf: Ist dieses
denkende Erkennen selbst frei oder nicht? Man muß, um bei Steiner die Bedeutung
dieser dritten Frage zu ermessen, sich die Zusätze zur Neuauflage von 1918
ansehen. Dort wird ausdrücklich hervorgehoben, daß es die Freiheit
des intuitiven Denkens ist, auf die sich jede Freiheit des Handelns stützt.
Auf S. 253 f der Philosophie der Freiheit führt Steiner diese Sachlage
vor Augen. Und das intuitive Denken wiederum ist ist ein solches, das vorrangig
bei Erkenntnisvorgängen zur Geltung kommt. Es ist - wie Steiner auf S. 254
sagt - das Denken, durch das "eine jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit
erkennend hineingestellt wird."
Schon im Sendschreiben von 1886 Die Natur und unsere Ideale
(GA 30, Dornach 1989, S. 237 ff) betont Rudolf Steiner diesen engen Zusammenhang
zwischen Erkenntnisfähigkeit und Freiheit. "Oh, wir sollten doch endlich
zugeben, daß ein Wesen, das sich selbst erkennt, nicht unfrei sein kann!",
heißt es da. (S. 238.) Und weiter: "Indem wir die ewige Gesetzlichkeit
der Natur erforschen, lösen wir jene Substanz aus ihr los, die ihren Äußerungen
zugrunde liegt. Wir sehen das Gewebe der Gesetze über den Dingen walten, und
das bewirkt die Notwendigkeit. Wir besitzen in unserem Erkennen die Macht, die
Gesetzlichkeit der Naturdinge aus ihnen loszulösen und sollten dennoch die
willenlosen Sklaven dieser Gesetze sein? Die Naturdinge sind unfrei, weil sie die
Gesetze nicht erkennen, weil sie, ohne von ihnen zu wissen, durch sie beherrscht
werden. Wer sollte sie uns aufdrängen, da wir sie geistig durchdringen? Ein
erkennendes Wesen kann nicht unfrei sein."
Wenige Jahre später wird dieser Gesichtspunkt aus einer erkenntnistheoretischen
Perspektive erneut aufgegriffen und vertieft. Den Hinweis, beim denkenden Erkennen
handele es sich um einen Akt der Freiheit, gibt Steiner jetzt in seinem Vorspiel
zur Philosophie der Freiheit, der Schrift Wahrheit und Wissenschaft.
(Rudolf Steiner, Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer Philosophie der Freiheit.
GA-03, Dornach 1980.) Auf S. 11 dieser Schrift schreibt er, das Ergebnis seiner
Analyse vorwegnehmend: "Das Resultat dieser Untersuchungen ist, daß
die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von
irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt
nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten." Weiter
(S. 12) führt er aus: "Für die Gesetze unseres Handelns, für
unsere sittlichen Ideale hat diese Anschauung die wichtige Konsequenz, daß
auch diese nicht als das Abbild von etwas außer uns Befindlichem angesehen
werden können, sondern als ein nur in uns Vorhandenes. Eine Macht, als deren
Gebote wir unsere Sittengesetzte ansehen müßten, ist damit ebenfalls
abgewiesen. Einen «kategorischen Imperativ», gleichsam eine Stimme
aus dem Jenseits, die uns vorschriebe, was wir zu tun oder zu lassen haben, kennen
wir nicht. Unsere sittlichen Ideale sind unser eigenes freies Erzeugnis. Wir haben
nur auszuführen, was wir uns selbst als Norm unseres Handelns vorschreiben.
[...] Die Anschauung von der Wahrheit als Freiheitstat begründet somit auch
eine Sittenlehre, deren Grundlage die vollkommen freie Persönlichkeit ist."
Gegen Ende von Wahrheit und Wissenschaft (S. 83 f) greift
Steiner diesen Gedankengang noch einmal auf im Zusammenhang mit einer Erörterung
der Philosophie Fichtes, und führt aus: "Der Umstand, daß das Ich
durch Freiheit sich in Tätigkeit versetzen kann, macht es ihm möglich,
aus sich heraus durch Selbstbestimmung die Kategorie des Erkennens zu realisieren,
während in der übrigen Welt die Kategorien sich durch objektive Notwendigkeit
mit dem ihnen korrespondierenden Gegebenen verknüpft erweisen. [...] Das Wesen
der freien Selbstbestimmung zu untersuchen wird die Aufgabe einer auf unsere Erkenntnistheorie
gestützten Ethik und Metaphysik sein. Diese werden auch die Frage zu erörtern
haben, ob das Ich auch noch andere Ideen außer der Erkenntnis zu realisieren
vermag. [...] Daß die Realisierung des Erkennens durch Freiheit geschieht,
geht aber aus den oben gemachten Anmerkungen bereits klar hervor. Denn wenn das
unmittelbar Gegebene und die dazugehörige Form des Denkens durch das Ich im
Erkenntnisprozeß vereinigt werden, so kann die Vereinigung der sonst immer
getrennt im Bewußtsein verbleibenden zwei Elemente der Wirklichkeit nur durch
einen Akt der Freiheit geschehen."
Was Rudolf Steiner hier ankündigt, "das Wesen der freien
Selbstbestimmung zu untersuchen" und zugleich der Frage nachzugehen, "ob
das Ich auch noch andere Ideen außer der Erkenntnis zu realisieren vermag",
das findet statt in der Folgeschrift Die Philosophie der Freiheit, auf die
in ihrem Vorspiel Wahrheit und Wissenschaft wiederholt hingedeutet wird.
Und entsprechend weist Steiner seinen Leser dort (S. 254) auch darauf hin, daß
der zweite Teil dieses Buches " ... seine naturgemäße Stütze
in dem ersten" finde. "Dieser stellt das intuitive Denken als erlebte
innere Geistbetätigung des Menschen hin. Diese Wesenheit des Denkens
erlebend verstehen, kommt aber der Erkenntnis von der Freiheit des
intuitiven Denkens gleich."
In der Philosophie der Freiheit geht es folglich, wenn
man beide Schriften aufeinander bezieht, sowohl darum näher zu untersuchen,
wie die Verwirklichung der Idee des Erkennens sich vollzieht und worauf sich dieser
Akt der Freiheit im einzelnen gründet - was Steiners Bemerkung in der Philosophie
der Freiheit zufolge im ersten Teil des Buches verhandelt wird. Und sich ferner
zu fragen: " ... ob das Ich auch noch andere Ideen außer der Erkenntnis
zu realisieren vermag." Letzterem ist der zweite Teil der Schrift gewidmet.
Beiden Fragestellungen wird nachgegangen, wie Steiner 1917 an anderer Stelle ausdrücklich
betont, "durch rein philosophische Forschung". Mit den "Denkmitteln"
und der "Methodik allein", "die man gewöhnt ist, in philosophischen
Arbeiten zu finden." (Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische
Erkenntnistheorie. Persönlich-Unpersönliches. In: GA-35, 1984, S. 319).
Die Idee des Erkennens wird, so können wir festhalten, durch
einen Akt der Freiheit realisiert. Bezogen auf die Philosophie der Freiheit:
Das intuitive respektive erkennende Denken verwirklicht oder vollzieht
im Erkennen diesen Akt der Freiheit. Und nur weil es dieses vermag, also selbst
frei ist, ist auch Freiheit des Handelns denkbar und möglich. Der Auffassung
eines freien oder freiheitsfähigen menschlichen Individuums liegt demnach
fundierend zugrunde die Einsicht vom Erkennen als einer Freiheitstat des Menschen.
Der Umstand, daß Steiner dieses erkennende Denken später in der Zweitauflage
der Philosophie der Freiheit, - und auch dort nur an wenigen Stellen - ,
ein intuitives Denken nennt, hat viel zur allgemeinen Verwirrung bei seinen
Rezipienten beigetragen. Ich meine aber, daß die Sachlage verständlich
sein sollte, wenn man die Materialien hinreichend berücksichtigt. Wenn also
Steiner in der Zweitauflage der Philosophie der Freiheit (S. 254) betont,
das freie Handeln gründe in der Freiheit des intuitiven Denken, dann
gibt es unter Berücksichtigung seiner dortigen Bemerkungen zu diesem intuitiven
Denken und unter Einbeziehung dessen, was er in den vorausdeutend programmatischen
Hinweisen in Wahrheit und Wissenschaft zum Erkennen als Freiheitstat ausführt,
mehr als Anlaß genug, vom intuitiven Denken als einem erkennenden
Denken zu sprechen. Denn die Philosophie der Freiheit versteht sich als
Programm, das in ihrem Vorspiel angekündigt wird.
I I.
Probleme mit dem intuitiven Denken
Vielen Lesern der Philosophie der
Freiheit wird es wahrscheinlich ähnlich gehen wie mir am Beginn meiner
Studien vor rund 25 Jahren: Wenn vom intuitiven Denken die Rede ist, dann
assoziieren sie damit eher Ungewöhnliches, Besonderes - Ausnahmesituationen
des Denkens. Falls sie philosophisch vorgeprägt sind, dann werden sie sich
vielleicht an Kants Unterscheidung diskursiv - intuitiv in der Kritik
der Urteilskraft erinnern, wo der intuitive Verstand (intellectus archetypus)
nur als schiere, spekulative Möglichkeit genannt wird. Eine für Kant
rein theoretische Größe ohne praktische Bedeutung und ohne tatsächliche
Realität im Bewußtsein. Und als Anthroposophen, die mit Steiners Werk
etwas vertraut sind, werden sie sich an die Intuition genannte höchste
Form der höheren Erkenntnis erinnern. Ebenfalls für den normalen Sterblichen
eine rein theoretische, für ihn im Augenblick kaum zu erreichende Größe,
die ihm allenfalls Zukunftsmöglichkeiten andeutet, aber ohne faktische Relevanz
für sein tatsächliches Bewußtsein jetzt ist. Was sich um Ausdrücke
wie intellectus archetypus, anschauende Urteilskraft oder eben auch
die hohe Stufe der Intuition rankt, das sind häufig die Verstehenshintergründe,
wenn jemand auf einen Ausdruck stößt wie intuitives Denken. Man
tut gut daran Assoziationen dieser Art beim Studium der Philosophie der Freiheit
vorerst einmal beiseite zu schieben, sonst befindet man sich allzu leicht auf dem
Holzweg. In der Philosophiegeschichte oder auch in der Anthroposophie verankerte
Begrifflichkeiten sind manchmal hilfreich und unentbehrlich für das Verständnis
der Philosophie der Freiheit. Doch sie können auch gehörig hinters
Licht führen, wenn man sie übereilt und ohne eingehende textimmanente
Prüfung auf den sachlichen Kontext dieser Schrift überträgt. Damit
keine Mißverständnisse aufkommen: Es gibt natürlich eine direkte
Verbindung zwischen Steiners Intuitionsbegriff hier und dort. Aber es ist für
das Erschließen der Philosophie der Freiheit - zumal für das
anfängliche - mitunter sehr entlastend, sich an das zu halten, was er in der
Vorrede von 1918 sagt, daß nämlich niemand auf seine spätere Geistesforschung
hinschielen muß, um den Inhalt dieses Buches annehmbar zu finden.
Kaum anthroposophische Forschung zum intuitiven
Denken. Folge: Mythen und Legenden darüber.
Von anthroposophischen Autoren werden bisweilen regelrechte Mythen
bezüglich des intuitiven Denkens konstruiert - (ein aktuelles Beispiel
dazu aus der Zeitschrift Die Drei, 2/2008, S. 56 ist im Internet abrufbar
unter http://www.diedrei.org/Heft_2_08/09%20Forum%20Anthroposophie%202-08.pdf)
- was sicherlich im wesentlichen eine Folge des Umstandes ist, daß Steiner
sich in der Philosophie der Freiheit über das intuitive Denken
nur sehr wenig explizit erläuternd äußert. Es gibt keine erschöpfenden
unmittelbaren Erklärungen zu diesem Ausdruck. Der Terminus intuitives
Denken taucht überhaupt nur in den späteren Zusätzen der Zweitauflage
dieses Buches auf. Und auch hier - soweit ich sehe - nur im zweiten Teil des Buches,
wo die grundsätzlichen Fragen des Denkens längst abgehandelt sind. In
der Erstauflage von 1894 dagegen ist er nicht explizit vorhanden, aber das intuitive
Denken der Sache nach. Denn im ersten Teil, wo dieser Ausdruck zwar fehlt, soll
gleichwohl schon die Rede davon sein. Denn: "Dieser [erste Teil, MM] stellt
das intuitive Denken als erlebte innere Geistbetätigung des Menschen hin.
" (S. 254) Man muß demnach unterstellen, daß dort, wo im ersten
Teil vom Denken die Rede ist, und zwar schon 1894, Steiner das intuitive
Denken meint. Das deckt sich mit der hier von mir vertretenen Auffassung vom intuitiven
Denken als einem erkennenden, denn um dieses geht es ja dort. Anthroposophische
Autoren verweisen mit Vorliebe auf Steiners spätere Zusätze zur Philosophie
der Freiheit, wenn sie eine Differenz zwischen dem intuitiven und dem sogenannten
normalen Denken (was immer das sein mag) anhand dieser Schrift festzustellen
glauben. Daß Steiner in dieser Schrift (siehe oben) ausdrücklich darauf
hinweist, daß im gesamten ersten Teil schon von diesem intuitiven Denken,
und folglich auch im dritten Kapitel schon die Rede ist, das kommt ihnnen gar nicht
in den Sinn. So sehr sind sie befangenen in einer apriorischen und ungeprüften
Vorwegannahme dahingehend, das intuitive Element komme im gewöhnlichen erkennenden
Denken des Menschern grundsätzlich nicht vor.
Wie dem auch sei: Für den Interpreten ist das eine ziemlich
vertrackte Situation. Schließlich - man kann es nicht oft genug wiederholen
- gründet in der Freiheit des intuitiven Denkens die Freiheit des Handelns.
Weiß man aber nicht, was dieses intuitive Denken denn nun für
Steiner ist, dann hat man nicht die Spur einer Aussicht zu begreifen, worin bei
ihm die Freiheit des Handelns wirklich gründet. Mit allen Folgen, die das
wiederum für weiteres philosophisches Arbeiten mit diesem Buche hat. Es ist,
als habe Steiner in der Zweitauflage auf den letzten Seiten dieser Schrift dem
Verständnis einen regelrechten Riegel vorgeschoben. Das ist eine sehr sperrige,
Mythenbildung geradezu herausfordernde Faktenlage und macht die Dringlichkeit offenbar,
eine Klärung dieses Begriffs anhand des Textes voranzutreiben. Gerade wegen
der kargen Erläuterungen, die Steiner dazu gibt, scheint es mir daher wichtig,
wirklich auch alle ausdrücklichen Bemerkungen, die er dazu macht, in die Interpretation
einzubeziehen. Dazu gehört nun einmal, daß er es vorrangig als erkennendes
Denken qualifiziert, dahingehend, daß durch das intuitive Denken "eine
jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt wird", wie
er im zweiten Zusatz von 1918 auf S. 255 ausführt. Und als ein in im Sinne
dieser Erläuterung gekennzeichnetes erkennendes Denken wird es von jedem Denker
ausgeübt, der sich erkennend betätigt, ganz gleichgültig, ob dieser
seinem eigenen Denken schon Erkenntnisinteresse entgegengbracht hat oder nicht.
Diese Sachlage, daß das intuitive Denken in jedem
Erkenntnisvorgang des normalen Bewußtseins wirksam ist, wird von anthroposophischen
Autoren vielfach übersehen oder ignoriert. Stattdessen erhält es einen
ganz eigentümlichen Status, in dem Sinne daß es auf jeden Fall nicht
im normalen, naiven Denkbewußtsein anzutreffen sei.
Einen derartigen Mythos etwa konstruiert Marcelo da Veiga Greuel in seinem
Buch Wirklichkeit und Freiheit, Dornach 1990, S. 46 f, wenn er dort sagt:
"Das intuitive, durch die Selbstreflexion entdeckte Denken, ist also nicht
die Form des Denkens, welche im naiven Bewußtsein vorkommt. Hier gilt vielmehr
durchgängige Diskursivität, d.h. ein sich in zeitlicher Schrittfolge
vollziehendes und an die Wahrnehmung der Sinne gebundenes Denken, das sich seines
tätigen Ursprungs nicht bewußt wird."
Diese These wird quellenkritisch durch nichts weiter belegt als
den Hinweis darauf, daß es, "eine Wahrnehmung" sei, "in der
der Wahrnehmende selbst tätig ist, und" ebenso " ... eine Selbstbetätigung,
die zugleich wahrgenommen wird", wie Steiner auf S. 256 in einer allerdings
etwas anderen Absicht anmerkt. Was der Autor hier nicht berücksichtigt, ist,
daß Steiner an dieser Stelle nicht generell charakterisierend vom intuitiven
Denken spricht, sondern in einem engeren Sinne vom intuitiv erlebten Denken.
(Was der Autor übrigens auch noch irreführend zitiert.) Und nur darauf,
auf dieses intuitiv erlebte Denken trifft die Kennzeichnung zu, daß
es "eine Wahrnehmung" sei, "in der der Wahrnehmende selbst tätig
ist, und" ebenso " ... eine Selbstbetätigung, die zugleich wahrgenommen
wird". Denn in diesem Fall nimmt der Denker aktiv-tätig den ideell-begrifflichen
Gehalt seines Denkens wahr - dies entspricht einer von Steiner durchgängig
im philosophischen Schrifttum vorgetragenen Ansicht vom Denken als Auffassungs-
oder Wahrnehmungsorgan für Begriffe und Ideen. Und er nimmt seine eigene aktuelle
denkerische Aktivität wahr.
Das (begrifflicher Inhalt und denkerische Aktivität) sind
zwei verschiedene Wahrnehmungen, die häufig verwechselt oder gleichgesetzt
werden, aber nicht verwechselt werden dürfen. Eine derartige Verwechselung
bzw Gleichsetzung findet sich etwa im Kommentarteil des im übrigen sehr zu
empfehlenden Buches von Renatus Ziegler, Intuition und Ich-Erfahrung, Stuttgart,
2006, S. 418. Ziegler paraphrasiert dort diesen Passus des zweiten Zusatzes von
1918 aus dem Kapitel Die Konsequenzen des Monismus mit tätigem Wahrnehmen
und wahrnehmendem Tätigsein, wobei zwischen diesen seinen beiden Kennzeichnungen
von der Sachaussage her für mich kein Unterschied zu erkennen ist. Tätiges
Wahrnehmen und wahrnehmendes Tätigsein besagt in meinen Augen jeweils
dasselbe: ein aktives Wahrnehmen. Während auf der anderen Seite die von Steiner
ausdrücklich hervorgehobene Wahrnehmung der Selbstbetätigung in
Zieglers Kommentierung vollständig untergeht. Doch darum geht es ja gerade
hier: Nicht nur ist die ideelle Wahrnehmung Folge einer Aktivität, sondern
diese wahrnehmende Aktivität ihrerseits wird ebenfalls vollbewußt wahrgenommen
und als Aktivität auch erlebt. Sie bleibt nicht etwa vorbewußt, bewußtseinsunterschwellig
oder gar völlig unbewußt wie manche glauben. Es müßte also
bei Ziegler korrekterweise heißen: tätiges Wahrnehmen und wahrgenommenes
Tätigsein oder besser Wahrnehmen des Tätigseins. (Vielleicht
handelt es sich hier nur um einen sprachlichen Lapsus in Zieglers Kommentierungen.
Im Hauptteil seiner Arbeit, der allerdings nicht mehr explizit an den Text der
Schrift angebunden wird, trifft er diese Unterscheidung sehr wohl.) Die Wahrnehmung
des begrifflichen Inhalts (als Resultat des tätigen Wahrnehmens oder wahrnehmenden
Tätigseins) findet bei jedem begrifflichen Denkvorgang statt. Die Wahrnehmung
der Selbstbetätigung (wahrgenommenes Tätigsein/Wahrnehmen des Tätigseins)
aber nur, wenn der Denker seine erlebende Aufmerksamkeit bewußt auch auf
die eigene denkerische Aktivität hinorientiert. Sonst wird sie einfach übersehen,
weil sie weiter nicht interessiert und somit unter der Schwelle des Bewußtseins
bleibt.
Der Ausdruck intuitiv erlebtes Denken trifft also nur auf
ein Denken zu, in dem beide Wahrnehmungsformen (Inhalt und Tätigkeit)
wirklich vorliegen. Damit kennzeichnet er etwas, das Steiner im Zusatz von 1918
zum 3. Kapitel (S. 55) einfordert, wenn er dort sagt: "... es kommt darauf
an, daß nichts gewollt wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem «Ich»
nicht restlos als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint",
und ist somit ein terminus technicus für erlebtes gegenwärtiges
Denken. (Man beachte: für erlebtes, nicht für beobachtetes
gegenwärtiges Denken. Das aber selbstverständlich auch als Erkenntnismittel
in der Beobachtung des Denkens zu finden ist, weil ja dann die Erfahrungen oder
Erlebnisse des Denkens selbst einer denkenden Betrachtung unterworfen werden.)
Es ist übrigens, soweit ich sehe, der einzige Versuch da
Veiga Greuels - um wieder auf diesen zurückzukommen - sich am expliziten Steinerschen
Sprachgebrauch intuitives Denken etwas zu orientieren. Wohlgemerkt am Ausdruck
intuitives Denken und nicht nur an dem der Intuition, den er obendrein
weitgehend links liegen läßt, ohne sich Steiners Ausführungen dazu
näher anzusehen. Und bis auf dieses eine, irreführende und nicht weiter
aufgeschlossene Zitat verliert er kein Wort mehr darüber, was Steiner höchstselbst
in der Schrift ausdrücklich zum Begriff intuitives Denken sagt. Und
so hält der Leser dann am Ende ein Buch in der Hand. Eine wissenschaftliche
Arbeit, die ihm versichert, das intuitive Denken komme im naiven Bewußtsein
nicht vor. Deren Autor unter anderem Steiners Freiheitsverständnis auf die
Spur kommen möchte. Der dem Leser nichts näheres über Steiners Intuitionsbegriff
berichtet, und noch viel weniger über den im Sachzusammenhang entscheidenden
Steinerschen Sprachgebrauch das intuitive Denken betreffend. Man
fragt sich: Warum tut er das nicht? - Warum führt er einen Begriff vom intuitiven
Denken vor, der Steiners eigene direkte Äußerungen dazu nahezu komplett
ignoriert? Dem jede seriöse Untersuchungsgrundlage für die fragliche
Behauptung fehlt! Die Folgen treten dann auch zu Tage. Denn: Daß das naive
Bewußtsein, das sich "seines tätigen Ursprungs nicht bewußt"
ist, nur in der Lage sein sollte, diskursiv und an die Sinne gebunden zu denken,
dünkt mir abenteuerlich. Warum sollte das der Fall sein? Es würde doch
bedeuten, daß dieses Bewußtsein solange nicht imstande wäre, reinen,
sinnlichkeitsfreien - etwa mathematischen oder philosophischen - Gedanken nachzugehen,
solange es sich seines tätigen Ursprungs nicht bewußt ist. Das ist denn
doch zu weit hergeholt. Ein derartiges Junktim läßt sich aus der Philosophie
der Freiheit nun wirklich nicht ablesen.
Der Umstand, daß der Autor diese disparaten Sachverhalte
(Wissen um die Tätigkeit des Denkens und Befähigung zum reinen Denken
- Wer sich des tätigen Ursprungs seines Denkens nicht bewußt ist kann
nur an die Sinne gebunden denken) derart sachwidrig verquickt, geht zu erheblichen
Teilen auf eine fehlende Textanalyse zurück. Aber die ganze Passage offenbart
darüber hinaus auch ein derartiges gedankliches, hier nicht analysierbares
Durcheinander, daß die Vermutung nahe liegt, ob dahinter nicht ein fundamentales
und weit reichendes Mißverstehen dieser Schrift steht, das nicht originär
auf eigenem Boden gewachsen ist, sondern mittelbare Folge ist einer bestimmten
philosophischen Schulenbildung innerhalb der Anthroposophie, die nicht hinreichend
unterscheidet zwischen dem Beobachten und dem Erleben des aktuellen
Denkens. (Siehe hierzu auch die Ausführungen an
anderer Stelle auf dieser Homepage.)
(Noch weit ärger, dies sei kurz angemerkt, ist die Sachlage
bei Florin Lowndes, der sich in seinem Buch Das Erwecken des Herzdenkens,
Stuttgart 1998, auf S. 20 ff in eine völlig haltlose Phantastik über
das intuitive Denken versteigt. Und zwar ohne auch nur den Schimmer einer
Begründung für seine Auffassung an der Philosophie der Freiheit
selbst zu liefern. Bei ihm wird es gar als "überlogisches" Denken
etikettiert, mit dessen Hilfe allein der "rein geisteswissenschaftliche"
- sprich: esoterische - Charakter des Buches zugänglich sei. Das somit also
weit jenseits dessen liegt, wozu das normale Denkbewußtsein in der Lage ist.
Woher er seine Weisheiten hat und warum er das glaubt, das erklärt der Autor
dem Leser erst gar nicht. Dafür deckt er ihn aber mit einer wahren Flut esoterischen
Beiwerks und zusammengewürfelter Vortragszitate ein, die den Unwissenden beeindrucken
mögen, faktisch aber doch nur bluffen und Sachkenntnis lediglich vortäuschen.
Ein wahrhaft dokumentationswürdiges Beispiel für mangelnde Sorgfalt,
Paralogik des Denkens und Pseudowissenschaftlichkeit innerhalb der anthroposophischen
Bewegung, wenn sich ihre Autoren mit der Philosophie der Freiheit und speziell
mit dem intuitiven Denken befassen. Und ein besonders symptomatisches Beispiel
für den Zustand dieser Bewegung, da Lowndes auf der Umschlagseite von seinem
Verlag Freies Geistesleben gleich mit drei umfangreichen Bänden zum
Thema angekündigt wird. Vom Schaden, der damit im Erkenntnisleben des Lesers
und für dessen weitere Entwicklung angerichtet wird will ich erst gar nicht
reden. Mir scheint es bezeichnend für die wissenschaftliche Gesinnung, wenn
Autoren wie Lowndes von bekannteren anthroposophischen Verlagen mit großem
Aufwand ins Publikum gepreßt werden, während andere Autoren wie etwa
Lorenzo Ravagli, die wirklich etwas Substantielles zu sagen haben, eigene Verlage
gründen müssen, damit sie überhaupt Gehör finden. Irgendwo
auf dieser Linie anthroposophischer Pseudowissenschaft liegt auch, was das Dornacher
Vorstandsmitglied Sergej Prokofieff seinem Leser über die Philosophie der
Freiheit und das intuitive Denken auftischt: Fachlich substanzlos, dafür
umso mehr aufgeschäumt mit reichlich Esoterik und suggestiv-dämagogischem
Steinerkult. Näheres dazu siehe hier.)
Es macht allerdings für den Interpreten einen maßgeblichen
Unterschied aus, ob ein philosophischer Autor vom intuitiven Denken spricht,
oder vom intuitiv erlebten Denken. Beachtet man diese Differenz nicht, dann
kommt man zu allen möglich irreführenden Auffassungen, die zwangsläufig
Folgen haben für das Verständnis der Philosophie der Freiheit insgesamt.
(Ich sage das ganz im Bewußtsein eigener leidvoller Erfahrungen mit diesem
Begriff.)
Um es zusammenzufassen: Die von Marcelo da Veiga Greuel vertretene
Auffassung, das intuitive Denken komme im normalen (naiven) Bewußtsein
nicht vor, scheint mir unplausibel. Und schon gar nicht, so meine ich, läßt
sich seine Ansicht mit der von ihm angeführten Textstelle belegen. Vielmehr
gilt: Das intuitive Denken ist nicht etwa das erst "durch Selbstreflexion
entdeckte Denken", wie es bei da Veiga Greuel heißt, sondern, das entdeckende,
erkennende Denken. Und als solches kann es sich eben auch selbst entdecken,
erkennen, und vor allem: seinen intuitiven und darauf basierend seinen Freiheitscharakter
entdecken und erkennen. Worauf Steiner ja eigens hinweist, wenn er (S. 255) jene
Methode, die ihm in der Philosophie der Freiheit gleichermaßen zur
Erhellung der Freiheitsfrage wie der näheren Beleuchtung des Denkens dient,
selbst auch als intuitives Denken bezeichnet, und andernorts als ein Verfahren,
das man gewöhnlich in philosophischen Arbeiten angewendet findet. Wer sich
damit dem intuitiven Denken erlebend und verstehend zuwendet,
der erkennt den Freiheitscharakter des intuitiven Denkens (S. 254).
Was sich nicht zuletzt doch auch mit der Tatsache der Wesensgleichheit von
beobachtendem und beobachtetem Denken deckt, wie sie im drittem Kapitel der Philosophie
der Freiheit betont wird. Insofern ist auch die von da Veiga Greuel oben getroffene,
jedoch von Steiner weder hier noch sonst im Buche gebrauchte Unterscheidung diskursiv-intuitiv
nicht eben hilfreich im fraglichen Zusammenhang, sondern führt auf Abwege.
Denn es geht ums Erkennen. Und jede Erkenntnis, ob sinnlich oder übersinnlich,
ob im naiven oder kritischen Bewußtsein, operiert nach Steiner mit Intuitionen,
also intuitiv, sonst wäre es keine Erkenntnis. Die Unterscheidung diskursiv-intuitiv,
wie sie für Immanuel Kants Erkenntnisbegriff charakteristisch ist, dahingehend,
daß dem Menschen ohnehin nur ein sinnlichkeitsgebundenes diskursives und
kein intuitives (auf das Sinnlichkeitsfreie, Übersinnliche bezogene) Erkenntnisvermögen
zugestanden wird, - siehe dazu etwa den § 77 seiner Kritik der Urteilskraft
-, kommt bei Steiner schlichtweg nicht vor. Für Steiner, und da liegt eine
der basalen Differenzen zu Kant überhaupt, ist die intuitive, übersinnliche
oder sinnlichkeitsfreie Wahrnehmung konstitutiv für den Erkenntnisbegriff.
Das heißt: in jeder Erkenntnis ist bereits dieses intuitive, übersinnliche
respektive sinnlichkeitsfreie Element enthalten. (Weiteres dazu siehe auch hier)
*
Versuch eines Verständnisansatzes
Auf fünf wesentliche Fakten ist nach meiner Einschätzung
bei dem Bemühen um eine begriffliche Klärung des intuitiven Denkens
das Augenmerk besonders zu richten:
1) Das intuitive Denken wird von Steiner als diejenige
Methode gekennzeichnet, die diesem Buche als Forschungsverfahren zugrunde liegt.
Und die, wie oben gezeigt wurde, nach Steiner explizit dieselbe ist, "die
man gewöhnt ist, in philosophischen Arbeiten zu finden." Sie liegt also
nicht nur der Philosophie der Freiheit zugrunde, sondern philosophischen
Untersuchungen ganz allgemein.
2) Für den Erkenntnistheoretiker Steiner ist notwendigerweise
vor der Beantwortung der Freiheitsfrage die Erkenntnisfrage zu klären. "Denn
ohne die Erkenntnis der denkenden Betätigung der Seele ist ein Begriff des
Wissens von etwas, also auch von einer Handlung nicht möglich. Wenn wir erkennen,
was Denken im allgemeinen bedeutet, dann wird es auch leicht sein, klar darüber
zu werden, was für eine Rolle das Denken beim menschlichen Handeln spielt",
um Steiners Argumentation von S. 23 der Philosophie der Freiheit noch einmal
aufzugreifen. Deswegen hängt aus logisch-systematischen Gründen die Freiheitsfrage
von der Erkenntnisfrage ab und kann nur dieser nachfolgend gelöst werden.
Und man sieht auch, es geht in der Argumentation Steiners nicht darum irgend welche
Spezialformen des Denkens erforschen, sondern zu klären, "was Denken
im allgemeinen bedeutet." Das wird im ersten Teil der Philosophie der Freiheit
- und da geht es ja vielfach um diese Frage - auch in geradezu augenfälliger
Weise sichtbar. Da bleibt für mystifizierende Überhöhungen des dort
untersuchten Denkens überhaupt kein Raum, und auch kein Raum, ihm von vornherein
irgend welche Eigenschaften anzuheften, die fern abliegen von dem, was es gewöhnlich
unter normalen Verhältnissen tut.
3) Steiners entsprechende Hinweise auf den generellen Freiheitscharakter
des Erkennens in der Schrift Wahrheit und Wissenschaft (s.o.) und die dortigen
Vorausdeutungen auf die Philosophie der Freiheit, ferner
4) der Umstand, daß er das intuitive Denken in seiner
knappen Kennzeichnung auf S. 255 der Philosophie der Freiheit ebenfalls
in einem generalisierenden Sinn mit der Erkenntnistätigkeit verknüpft,
wenn er sagt: durch das intuitive Denken wird »eine jegliche Wahrnehmung
in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt«, - man beachte: eine jegliche
Wahrnehmung und nicht etwa nur geistig-ideelle respektive auf sinnlichkeitsfreiem
Denken beruhende - und schließlich
5) die Tatsache, daß er (ebd., S. 253 f) in diesem intuitiven
Denken Freiheit überhaupt begründet sieht, was angesichts der unter 2)
genannten Sachlage logisch konsequent ist und sich auch mit seinen Ausführungen
in Wahrheit und Wissenschaft bezüglich des Freiheitscharakters jedes
Erkennens deckt, verweisen unverkennbar darauf: Man wird auf jeden Fall seinen
Erkenntnisbegriff einbeziehen müssen, wenn es um die begriffliche Klärung
des intuitiven Denkens als Grundlage jeder freien Handlung geht.
Und hier wiederum scheint mir bemerkenswert, daß gleichsam
am philosophischen Quellort dieses Begriffs, jener Passage, in der Steiner in der
Philosophie der Freiheit (S. 95) den Intuitionsbegriff einführt, in
keiner Weise von irgendwelchen Sonderformen des Denkens die Rede ist, sondern von
einem Denken, das sich an ganz konkreten sinnlichen Gegenständen entzündet.
Von einer Schnecke und einem Löwen ist dort (S. 95) die Rede,
mit denen sich das Denken erkennend befaßt. "Diese Tätigkeit des
Denkens", heißt es, "ist eine inhaltvolle. Denn nur durch einen
ganz bestimmten konkreten Inhalt kann ich wissen, warum die Schnecke auf einer
niedrigeren Organisationsstufe steht als der Löwe. Der bloße Anblick,
die Wahrnehmung gibt mir keinen Inhalt, der mich über die Vollkommenheit der
Organisation belehren könnte." Und jetzt folgt die Passage mit der Einführung
des Intuitionsbegriffs: "Diesen Inhalt bringt das Denken der Wahrnehmung aus
der Begriffs- und Ideenwelt des Menschen entgegen. Im Gegensatz zum Wahrnehmungsinhalte,
der uns von außen gegeben ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern. Die
Form, in der er zunächst auftritt, wollen wir als Intuition bezeichnen.
Sie ist für das Denken, was die Beobachtung für die Wahrnehmung ist.
Intuition und Beobachtung sind die Quellen unserer Erkenntnis." In
der Schrift Von Seelenrätseln erläutert er diesen Abschnitt noch
einmal näher und führt dort aus: "Ich sage also hier: Intuition
wolle ich als Ausdruck für die Form gebrauchen, in der die im Gedankeninhalt
verankerte geistige Wirklichkeit zunächst in der menschlichen Seele auftritt,
bevor diese erkannt hat, daß in dieser gedanklichen Innenerfahrung die in
der Wahrnehmung noch nicht gegebene Seite der Wirklichkeit enthalten ist. Deshalb
sage ich: Intuition ist «für das Denken, was die Beobachtung für
die Wahrnehmung ist»." Und weiter: "Mir gilt eben Intuition nicht
«bloß» als die «Form, in der ein Gedankeninhalt zunächst
hervortritt», sondern als die Offenbarung eines Geistig-Wirklichen, wie die
Wahrnehmung als diejenige des Stofflich Wirklichen." (GA-21, Dornach 1976,
S. 61)
Nur nebenbei gesagt steckt in dieser letzten Formulierung Steiners
ein wesentliches Verständnismittel, die beiden scheinbar verschiedenen Varianten
seines Intuitionsbegriffes (erkenntnistheoretische und esoterische Variante) sachlich
aufeinander zu beziehen. Gerade durch Steiners Gebrauch des Intuitionsbegriffs
in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen tun sich viele Leser außerordentlich
schwer, den Charakter des intuitiven Denkens realistisch einzuschätzen,
weil sie zunächst an die höhere Form der Intuition denken, die im Zusammenhang
mit dem anthroposophischen Schulungsweg von Steiner erörtert wird. Was in
der Kürze dazu gesagt werden kann ist, daß es sich hier nicht um zwei
dem Wesen nach verschiedene Formen der Intuition handelt, sondern daß sie
nur dem Grade oder der Qualität nach voneinander verschieden sind. Wenn auch
in dieser Hinsicht in Abhängigkeit vom Schulungsfortschritt ganz erheblich.
Aber in beiden Fällen geht es um die "Offenbarung eines Geistig-Wirklichen".
Das eine Mal auf der Ebene des normalen, das andere Mal auf der des besonders geschulten
Bewußtseins. Und schon in jedem gewöhnlichen Erkenntnisvorgang hat man
es mit einem "Geistig-Wirklichen" zu tun, das durch Intuition - einer
der zwei genannten Erkenntnisquellen - gegeben wird. Eben das wird durch Steiners
Erläuterung in der Schrift Von Seelenrätseln noch einmal ausdrücklich
unterstrichen. Insofern ist es auch folgerichtig, wenn Steiner in der Vorrede von
1918 zur Philosophie der Freiheit (S. 9) darauf hinweist, daß er in
diesem Buche hat zeigen wollen, " ... wie eine unbefangene Betrachtung, die
sich bloß über die beiden gekennzeichneten für alles Erkennen grundlegenden
Fragen erstreckt, zu der Anschauung führt, daß der Mensch in einer wahrhaftigen
Geistwelt drinnen lebt."
Man kann es ja manchmal nicht drastisch genug sagen: Aber wenn
ich darüber nachdenke, was eine vor mir liegende Konservendose von einem Baumwollsocken
unterscheidet, dann liegen dieser erkennenden Unterscheidung Intuitionen
zugrunde, denn - um Steiners Gedankengang von eben aufzugreifen - "nur durch
einen ganz bestimmten konkreten Inhalt kann ich wissen," daß ein Baumwollsocken
aus textilem Material gefertigt ist, das organischen, pflanzlichen Ursprungs ist
und eine Konservendose aus Metall. "Der bloße Anblick, die Wahrnehmung
gibt mir keinen Inhalt", der mich über die materielle Beschaffenheit
und Herkunft dieser Gegenstände "belehren könnte" . "Diesen
Inhalt bringt das Denken der Wahrnehmung aus der Begriffs- und Ideenwelt des Menschen
entgegen. Im Gegensatz zum Wahrnehmungsinhalte, der uns von außen gegeben
ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern." Die Form, in welcher der Gedankeninhalt
bei dieser Unterscheidung zunächst auftritt, nennt Steiner Intuition.
Der erkennenden Unterscheidung von Konservendose und Baumwollsocken liegt demnach
zugrunde ein Gedankeninhalt, der die Offenbarung eines Geistig-Wirklichen
ist, wie die Wahrnehmung dieser beiden Gegenstände diejenige des Stofflich
Wirklichen. Das heißt: Die Erkenntnis eines ganz normalen sinnlichen
Gegenstandes geschieht im Rückgriff auf eine geistige Wirklichkeit, die im
begrifflichen Inhalt verankert ist, den das Denken in der Intuition findet.
Mit Blick auf die oben unter Punkt 1) - 5) genannte Faktenlage
läßt sich dazu sagen: Das von Steiner angeführte Beispiel skizziert
paradigmatisch die Struktur des intuitiven Denkens, indem er hier im Grundsätzlichen
darlegt, wie eine Wahrnehmung - in diesem Fall eine sinnliche - in die Wirklichkeit
erkennend hineingestellt wird. Wobei das Auftreten der Intuition noch nicht die
eigentliche Erkenntnis ist, sondern, wie er sagt, lediglich deren Voraussetzung
auf der ideellen Seite. Das ist übrigens ein Punkt, der besondere Beachtung
verdient, und auch von mir in den hier veröffentlichten Arbeiten nicht immer
adaequat behandelt wird. Deswegen noch einmal der Hinweis: Die Intuition allein
ist noch nicht die Erkenntnis, sondern es muß neben der Wahrnehmung noch
etwas nur vom Ich Ausgehendes hinzukommen, was den eigentlichen Erkenntnisakt -
die Synthese zwischen intuitiv und wahrnehmlich Gegebenem - vollzieht. Erst in
der sachgemäßen Verbindung der von zwei Seiten gegebenen Wirklichkeitsteile
durch das Ich liegt die Erkenntnis selbst. Auf S. 146 der Philosophie
der Freiheit spricht er diesbezüglich von einer "denkenden Durchsetzung
der Wahrnehmung". Diese Vereinigung des intuitiv (durch Intuition)
Gegebenen mit dem durch die Wahrnehmung Gegebenen ist ein Akt der Freiheit, um
noch einmal Steiners Bemerkung aus Wahrheit und Wissenschaft (s.o., S. 84)
aufzunehmen: "Denn wenn das unmittelbar Gegebene und die dazugehörige
Form des Denkens durch das Ich im Erkenntnisprozeß vereinigt werden, so kann
die Vereinigung der sonst immer getrennt im Bewußtsein verbleibenden zwei
Elemente der Wirklichkeit nur durch einen Akt der Freiheit geschehen." Dieser
Freiheitsakt findet folglich in jedem Erkenntnisprozeß statt. Ein Denken,
das intuitiv (auf der Basis von Intuitionen) diesen Erkenntnis- und Freiheitsakt
vollzieht, nennt Steiner in der Philosophie der Freiheit ein intuitives
Denken. Durch dieses Denken wird "eine jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit
erkennend hineingestellt".
Dieses Paradigma gilt nun generell für den Erkenntnisprozeß,
mit der Variante, daß die mit ideellem Gehalt zu verbindenden Wahrnehmungsteile
nicht nur sinnliche sein müssen, sondern beispielsweise selbst auch ideelle
sein können. In diesem Fall hat man es etwa mit reinem Denken zu tun,
wie es die philosophisch gedankliche Entfaltung der Philosophie der Freiheit
selbst über weite Strecken hin demonstriert. Das im einzelnen unter Einbeziehung
von Steiners in der Schrift (S. 133) erweitertem Wahrnehmungsbegriff - "Man
wird aus dem schon Vorangehenden, aber noch mehr aus dem später Ausgeführten
ersehen, daß hier alles sinnlich und geistig an den Menschen Herantretende
als Wahrnehmung aufgefaßt wird, bevor es von dem tätig erarbeiteten
Begriff erfaßt ist." - darzulegen würde hier zu weit führen.
So viel soll nur resümierend gesagt sein: Weil im Erkenntnisvorgang immer
- auf welchen Wahrnehmungstyp er nun auch bezogen sein mag - vom Denken intuitiv
der ideelle Gehalt geschöpft, und die Wahrnehmung mit dem intuitiv Gegebenen
denkend durchsetzt wird, deswegen ergibt es einen guten Sinn, wenn
Steiner (S. 255) hervorhebt, daß durch das intuitive Denken "eine
jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt" werde.
Das deckt sich vollständig mit dem, was er bei Einführung des Intuitionsbegriffs
zu der Angelegenheit sagt. Da ist nichts Mystisch-Nebulöses, nichts Abgehobenes,
nichts Rätselhaftes drin, sondern nur eben das, was er über den Erkenntnisvorgang
ohnehin schon bis dahin im philosophischen Schrifttum geäußert hat und
auch in der Philosophie der Freiheit schreibt. Denn die Sache liegt für
Steiner so, "daß alle in meiner «Philosophie der Freiheit»
vorgebrachten Grundanschauungen bereits in meinen früheren Schriften ausgesprochen
und in dem genannten Buche nur in einer zusammenfassenden und sich mit den philosophisch-erkenntnistheoretischen
Ansichten vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts auseinandersetzenden Art vorgetragen
sind." (GA-21, Dornach 1976, S. 59) Der Ausdruck intuitives Denken
benennt also nichts wirklich Neues gegenüber diesem älteren Schrifttum,
sondern was dort gesagt wird, findet sich auch in der Philosophie der Freiheit.
Das heißt: das intuitive Denken ist tätig sowohl bei der Erkenntnis
der gegenständlichen Welt, der seelischen und auch der geistig-ideellen Welt;
in letzterem Fall zum Beispiel bei philosophischen Fragestellungen, wie sie die
Abfassung einer Schrift nach Art der Philosophie der Freiheit aufwirft.
Aber auch bei geistigen Erfahrungen, die über das, was auf der Ebene der Philosophie
der Freiheit anzusiedeln ist, weit hinausreichen, worauf Steiner in den späteren
Anmerkungen zu seinen Grundlinien... ausdrücklich hinweist. (Siehe
Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, GA-2,
Dornach 1979, S. 137 f) Es ist als erkennendes Denken ein Denken, das in Geistig-Wirkliches
tätig-empfangend hineinreicht, um Steiners Erläuterung aus der Schrift
Von Seelenrätseln (siehe oben) aufzugreifen.
Intuitives Denken versus reines oder sinnlichkeitsfreies
Denken
Für Mystifikationen des intuitiven Denkens, so scheint
mir, gibt es in der Philosophie der Freiheit keinen Anlaß, keine Materialgrundlage
und auch keine theoretischen Spielräume. Will man sich vorsichtig an dem orientieren,
was Steiner vortragsweise 1918 über das intuitive Denken sagt, indem
er es dort als sinnlichkeitsfreies Denken charakterisiert, so hat man damit
im Prinzip ganz gut die Sachlage getroffen. (Siehe GA-67, Dornach 1962, S. 352;
Vortr. Berlin 20. April 1918. Siehe ebendort auch S. 336 ff im selben Vortrag wesentliches
zur Frage der in der Philosophie der Freiheit vorausgesetzten Bewußtseinsverfassung.)
Dies sagt zwar noch nicht alles, aber immerhin wesentliches über das intuitive
Denken aus; einen Begriff, der ja nicht ohne Grund von Steiner in der Zweitauflage
neu eingeführt wird, und nicht an seiner statt der des sinnlichkeitsfreien
bzw. reinen Denkens, der seinerseits mehrfach in der Schrift erscheint.
Deswegen spreche ich von vorsichtiger Orientierung. Denn für das Verständnis
dieses Buches sind nicht Steiners Vorträge zuständig, sondern das, was
in der Schrift selbst steht. Das soll sagen: Die Differenzierung ist bewußt
von Steiner so gesetzt, und entspringt nicht seiner zufälligen Verfasserlaune
oder lediglich stilistischen Erfordernissen. Die beiden Begriffe sind also nicht
völlig deckungsgleich, selbst wenn Steiner gelegentlich auch in Aufsatzform
die Bedeutungsvariante sinnlichkeitsfreies Denken zu favorisieren scheint.
(Siehe in diesem Sinne verschiedene Stellen in GA-34, Dornach 1960; S. 126; S.
494; S. 495) Das reine Denken ist zwar stets ein intuitives Denken,
aber nicht jedes intuitive Denken ist ein reines Denken im engeren
Sinne. Eine Differenz ist vorhanden und vor allem: sie ist nicht mehr vernachlässigbar
wenn es darum geht, den Freiheitsgrad der Erkenntnis im allgemeinen zu beurteilen.
Man käme sonst unter Umständen in die Verlegenheit, für den Fall
der sinnlichen Erkenntnis entweder ohne Handhabe dazustehen oder gar der nicht
mit dem Begriff des reinen Denkens im engeren Sinne zu umfassenden
sinnlich-gegenständlichen Erkenntnis Unfreiheit zu attestieren und Freiheit
nur jener durch das reine Denken. Mehr als kurios wäre das, wenn just
jener exemplarische Fall von erkennender Betätigung, anhand dessen Steiner
den Intuitionsbegriff in der Philosophie der Freiheit einführt, mit
dem Begriff des intuitiven Denkens selbst gar nicht erreichbar und die Wahrheit
ausgerechnet hier gar keine Freiheitstat wäre! Für denjenigen
also, der nach der Freiheit des Erkennens überhaupt fragt, ist es daher nicht
mehr harmlos, wie er mit dem Begriff des intuitiven Denkens verfährt.
Er muß schon genauer hinsehen - genauer, als Steiner in Vorträgen und
Aufsätzen hin und wieder selbst. (Wie der Leser bemerkt haben wird, setze
ich hier sinnlichkeitsfreies und reines Denken gleich. Das wäre
im Einzelfall vielleicht noch einmal genauer zu hinterfragen. Auf die Gesamtaussage
hier, das intuitive Denken betreffend, hätte eine weitere Differenzierung
dort allerdings keinen Einfluß. )
Wo aber liegt der Unterschied? - Der Begriff des intuitiven
Denkens setzt einerseits (schon sprachlich) exakt am Moment der Intuition,
das heißt an der Geistigkeit des Erkennens selbst an, wie sie in der Schrift
eingeführt wird. Und er verfügt andererseits über eine größere
Weite und Anschmiegsamkeit, als der des engeren sinnlichkeitsfreien oder
reinen Denkens, indem er das mit umgreift, was auch bei der Erkenntnis der
gegenständlichen Welt an Geistigkeit vorhanden ist. Und nicht nur das: Er
reicht sowohl nach unten, zur sinnlichen Erkenntnis, als auch nach oben, zur rein
geistigen Erkenntnis, über den Bedeutungsradius des sinnlichkeitsfreien
oder reinen Denkens hinaus, und korrespondiert infolgedessen auch mit der
eben angedeuteten Erweiterung des Wahrnehmungsbegriffes in der Zweitauflage, wonach
"alles sinnlich und geistig an den Menschen Herantretende als Wahrnehmung
aufgefaßt wird, bevor es von dem tätig erarbeiteten Begriff erfaßt
ist". Der Begriff des intuitiven Denkens ist folglich auf jede
Erkenntnis anwendbar. In dieser Universalität gleicht er ganz und gar dem
Erkenntnisbegriff Steiners. Und das scheint mir auch einsehbar konsequent. Denn
wenn Wahrheit und Erkenntnis von Steiner als Freiheitstat begriffen wird, als Grundlage
von Freiheit überhaupt aber das intuitive Denken gilt, dann muß
freilich das intuitive Denken in jeder dieser Wahrheits- und Freiheitstaten
vorhanden sein und ihnen diese Basis geben, sonst hätten sie diesen Charakter
nicht. Deswegen muß der Begriff des intuitiven Denkens nach unten
zum Sinnlichen und nach oben zum Geistigen mindestens ebenso weit reichen wie der
Erkenntnisbegriff selbst. Insofern ist auch die Geistigkeit dieses Denkens bereits
bei einer sinnlichen Erkenntnis erlebbar. Und die sinnliche Erkenntnis wegen
ihrer intuitiven Wesenheit ein Akt der Freiheit. Wenn Steiner also in der
Philosophie der Freiheit betont, durch das intuitive Denken werde
"eine jegliche Wahrnehmung in die Wirklichkeit erkennend hineingestellt",
dann heißt das auf die sinnliche Erkenntnis bezogen soviel wie: Schon die
Erkenntnis der sinnlichen Wahrnehmungswelt enthält stets die entscheidenden
Elemente des sinnlichkeitsfreien oder reinen Denkens in sich - nämlich
das intuitive, begriffliche, geistige Element, das nicht aus der sinnlichen
Wahrnehmung stammt, in jeder Erkenntnis zu finden ist, die Verbindung zur
geistigen Wirklichkeit herstellt, und dadurch den freiheitlichen Charakter dieses
Erkennens garantiert. Was sich nahtlos fügt zu einer Bemerkung an anderer
Stelle, daß nach seinem Verständnis ein "jedes Erkennen
die Gesetzmäßigkeit des reinen Denkens zur Voraussetzung hat".
(Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische Erkenntnistheorie.
Persönlich-Unpersönliches. In: GA-35, Dornach 1984, S. 321) In jedem
Erkenntnisprozeß ist also reines oder sinnlichkeitsfreies Denken vorhanden.
Er ist überhaupt nur Erkenntnisprozeß, soweit und insofern in ihm reines
Denken vorhanden ist. Und eben das bringt Steiner ja an der zitierten Stelle zum
Ausdruck, wenn er seinen Intuitionsbegriff anhand einer Erkenntnis von Schnecke
und Löwe einführend erläutert und in diesem Zusammenhang von den
zwei Quellen der Erkenntnis spricht. "Mein Begriff eines Löwen"
sagt er auf S. 107 der Philosophie der Freiheit, "ist nicht aus meinen
Wahrnehmungen von Löwen gebildet. Wohl aber ist meine Vorstellung vom Löwen
an der Wahrnehmung gebildet." Der Begriff einer Sache stammt aus der Quelle
der Intuition, die zur Wahrnehmung etwas hinzufügt, aber nichts aus ihr herauszieht.
In den Begriff geht von der sinnlichen Wahrnehmung nichts ein, wohl aber in die
Vorstellung. Das intuitive Denken ist, wenn man sich an Steiners oben erwähnte
Erläuterung zum Intuitionsbegriff in der Schrift Von Seelenrätseln
hält, ein Denken, dem sich auf den unterschiedlichsten Seinsebenen Geistig-Wirkliches
offenbahrt. Kurz und prägnant kann man es als eines bezeichnen, das sich
nach intuitiv gegebenen reinen begrifflichen Inhalten richtet. Und als ein Denken,
das sich nach begrifflichen Inhalten richtet, ist es essentieller Bestandteil einer
jeden Erkenntnis. Das wird von Steiner nicht nur in der Philosophie der Freiheit
klar und unmißverständlich gesagt.
Deswegen läßt sich vor dem Hintergrund des in der Philosophie
der Freiheit Gesagten auch nicht in Abgrenzung zu anderen Formen des erkennenden
Denkens von einem eigentlichen intuitiven Denken sprechen, wie es ein von
mir sehr geschätzter kritischer Leser unlängst tat. Denn der Begriff
intuitives Denken ist Sammel- oder Oberbegriff für erkennendes Denken
überhaupt, der nur Binnendifferenzierungen erlaubt - etwa in Richtung reines
Denken. Aber keine Bewegungsräume mehr bietet in Richtung auf ein noch
eigentlicheres intuitives Denken. Man kann allerdings von einem eigentlichen
reinen Denken sprechen, wenn man ein intuitives Denken meint, daß
sich - etwa bei philosophischen oder mathematischen Fagestellungen - ausschließlich
mit sinnlichkeitsfreien Begriffen erkennend auseinandersetzt. Wo also auch auf
der Wahrnehmungsseite nichts Sinnliches, sondern nur Geistig-Ideelles gegeben ist.
Erkenntnis besteht für Steiner immer in der Synthese von Wahrnehmung (gleich
welcher Art, ob sinnlich oder ideell-geistig) und Begriff, schließt also
per definitionem immer begriffliches, reines Denken ein. (Siehe Grundlinien
... a.a.O., S. 137 f) Eine Erkenntnis ohne dieses intuitive, begriffliche
Denken wäre für Steiner gar keine, nicht vorstellbar - ein Unding. Die
erkenntnistheoretisch, freiheitsphilosophisch und bewußtseinsphänomenologisch
herausragendste Eigenschaft des intuitiven Denkens liegt darin, neben allen
übrigen Daseinsbereichen sich auch selbst erkennen und erklären zu können.
Aber es ändert im letzten und entscheidenden Fall - der Beobachtungs des Denkens
selbst - nicht die Art seiner Funktion, sondern nur den Inhalt oder Objektbereich
mit dem es sich erkennend befaßt, indem es - intuitiv erlebend - ganz
bei sich bleibt. ("Der beobachtete Gegenstand ist qualitativ derselbe wie
die Tätigkeit, die sich auf ihn richtet.") Man könnte doch allenfalls
in bezug auf diese Selbsterklärungsleistung des intuitiven Denkens
noch von einem eigentlichen intuitiven Denken sprechen. Dafür aber
bietet die Philosophie der Freiheit keinerlei Anhalt. Denn hierfür
verwendet Steiner wahlweise die Ausdrücke Beobachtung, Betrachung,
Anschauung des Denkens oder auch Denken über das Denken. Tätigkeiten,
die vom intuitiven Denken vollzogen werden. Man kann also nur nach Objektbereichen
oder Wahrnehmungstypen weiter spezifizieren, an denen sich das intuitive
Denken erkennend betätigt. Je nachdem, ob es sich mit dem sinnlichen, seelischen
oder geistig-ideellen Bereich erkennend befaßt. Zum eigentlichen intuitiven
Denken gehören indessen sämtliche Erscheinungsformen, in denen es aufzutreten
vermag. So wie zur eigentlichen Währung Frankreichs sämtliche Erscheinungsformen
dieser Währung gehören - also auch Zwei-Cent-Münzen und nicht nur
Zwanzig-Euro-Scheine.
Davon abgesehen: Auch das reine oder sinnlichkeitsfreie
Denken im engeren Sinne und für sich genommen birgt keinen Anlaß für
Mystifikationen. Die Befähigung dazu, der ausschließliche intuitive
Umgang mit reinen Begriffen und Ideen ist unter den gegenwärtigen kulturellen
Bedingungen ein durchaus normales menschliches Vermögen, wenn auch nicht überall
gleich ausgeprägt. - Es ist bereits ein Vermögen des naiven Bewußtseins.
(Siehe hierzu etwa: Renatus Ziegler, Reines Denken und reine Begriffe: Einwände
und Widerlegungen, in Jahrbuch für anthroposophische Kritik, 2004,
S. 71 ff.) Und dieses setzt in keiner Weise ein Wissen um den tätigen Ursprung
des Denkens voraus, sonst müßte der reine Denker apriori ein Beobachter
respektive Erkenner des Denkens sein. Man sollte dann die Beobachter des Denkens
mit Vorrang bei den Mathematikern suchen, was so natürlich Unsinn ist. In
der ungebührlichen Vermengung dieser beiden Sachebenen bei da Veiga Greuel,
so meine ich, steckt unter Umständen weit mehr als nur ein persönliches
Mißverständnis des Autors, sondern möglicherweise ein ernstes Verständnisproblem
einer spezifischen philosophischen Schule innerhalb der Anthroposophie.
Nebenbei gesagt: Dieses Entdecken und philosophische Begründen
des Freiheitscharakters des erkennenden Denkens gleichermaßen wie der darauf
sich stützenden Freiheit des Handelns, hat Steiner eigenen Worten zufolge
ganz persönlich als ein außerordentlich mühevolles Geschäft
erlebt. Dermaßen mühevoll, daß er, wie er am 4. November 1894
an die Schriftstellerin Rosa Mayreder schreibt, vor lauter Schwierigkeiten gar
nicht daran denken konnte, seinen Lesern einen Verständnisweg zur Lösung
der Freiheitsfrage zu ebnen, sondern vorrangig und nahezu ausschließlich
sich selbst. Und dabei auch noch manche Hürde gewaltsam überspringen
mußte: "Ich glaube auch, ich wäre gestürzt: hätte ich
versucht, die geeigneten Wege sogleich für andere zu suchen. Ich bin meinen
gegangen, so gut ich konnte; hinterher habe ich diesen Weg beschrieben.
... Willkürlich, ganz individuell ist bei mir manche Klippe übersprungen,
durch Dickicht habe ich mich in meiner nur mir eigenen Weise durchgearbeitet. Wenn
man ans Ziel kommt, weiß man erst, daß daß man da ist."
(siehe, Edwin Froböse und Werner Teichert (Hgr), Rudolf Steiner, Briefe II,
1892-1902, Dornach 1953, S. 176 ff) Das ist nicht höflich zurückhaltendes
Understatement eines brillianten philosophischen Kopfes, sondern durchaus im Wortsinne
zu nehmen und kennzeichnet eine rezeptionsgeschichtliche Sachlage, an der seine
philosophischen Schüler bis heute hart zu beißen haben. Es rückt
auch von dieser konkreten, forschungspraktischen Seite den erkennenden und entdeckenden
Charakter der von ihm dabei verwendeten und später intuitives Denken
genannten Methode in ein deutliches Licht.
Weil für Steiner jedes Erkennen auf den oben genannten
intuitiven Teil zurückgreift - unabhängig davon, ob dem Denker diese
Tatsache bewußt ist oder nicht - kann das intuitive als erkennendes
Denken auch von jedem naiven Denker ausgeübt werden, und wird auch von jedem
erkennenden Denker ausgeübt. Und nicht erst dann, wenn dieser bereits ein
Wissen um den tätigen Ursprung des Denkens hat. Das scheint mir auch eine
Notwendigkeit. Nicht nur weil entdeckendes und entdecktes - respektive beobachtendes
und beobachtetes - Denken wesensgleich sind. Sondern auch, weil erst nach
der Entdeckung um bestimmte Sachverhalte des Denkens gewußt wird. Wer aber
sollte darüber prüfend und abwägend befinden, ob eine Einsicht bezüglich
des Denkens zutreffend ist oder nicht, wenn nicht das entdeckende Denken selbst?
Ursprünglich entdeckt werden aber kann das Denken nur von einem Denken, das
noch nichts von sich weiß. Also: Auch dieses selbstentdeckende Denken ist
ein intuitives - erkennendes. Also ist zu sagen: Das intuitive Denken
muß nicht notwendigerweise auch intuitiv erlebt werden. Und zwar wird
es dann nicht intuitiv erlebt, wenn der Denker seine erlebende Aufmerksamkeit
nicht eigens auf den Aktivitätsaspekt dieses Denken hin orientiert. Oder auch
dann, wenn er selbst das Denken noch nicht für sich entdeckt hat, und für
diesen Bereich seiner inneren Aktivität noch nicht sensibilisiert ist. Dann
vollzieht er zwar im Erkennen das intuitive Denken, aber es fällt in
seinem besonderen Tätigkeitscharakter aus seinem Erlebnishorizont heraus,
weil er diesem keine gesonderte Aufmerksamkeit schenkt - was ja in den meisten
Fällen, während wir uns erkennend betätigen, zweifellos der Fall
ist; wenn wir zwar um Eigenarten des Denkens wissen, aber gleichwohl situativ bedingt
nicht darauf achten. (Letzteres gilt auch für den Vorgang des reinen
Denkens, wenn wir etwa von der Fragestellung derart absorbiert sind, daß
wir unserer Tätigkeit keine Aufmerksamkeit zuwenden, sondern nur dem Inhalt
des Denkens.) In diesem Fall hat der Denker nur die Resultate seines Denkens (den
ideell wahrgenommenen begrifflichen Gehalt) im Bewußtsein, aber nicht den
intuitiven Vorgang des Denkens selbst. Das heißt: die Wahrnehmung der
Selbstbetätigung - eines der von Steiner angeführten beiden Kennzeichen
für ein intuitiv erlebtes Denken - hat in diesem Fall nicht stattgefunden,
wohl aber ein intuitives Denken. Das intuitive Erleben ist
allerdings dann unverzichtbar, wenn es um die Erkenntnis des eigenen Denkens geht,
vor allem, aber nicht nur, hinsichtlich des Aktivitätsaspektes dieses Denkens.
Und erst hier könnte man davon sprechen, daß der naive Bewußtseinsstandpunkt
gegenüber dem eigenen Denken verlassen und einem kritischen - sprich: faktisch
erkennenden - gewichen ist. Man könnte präzisierend sagen: das intuitive
Erleben des Denkens ist eine methodische Voraussetzung für eine Erkenntnis
des Denkens, die sich nicht nur der bloß formalen, logischen Seite des Denkens
widmet (etwa im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Erörterung), sondern
der faktischen, bewußtseinsphänomenologischen, erkenntnispsychologischen
- und auch seiner rein geistigen Seite.
Man kann also festhalten, und hier gibt es vielleicht eine gewisse
Brücke der Verständigung zu Marcelo da Veiga Greuels Ansicht: Wenn ich
ernsthaft und begründet von eigenem Denken oder einer moralischen Intuition
als Grundlage meiner freien Handlung reden will, dann muß ich idealerweise
über das Zustandekommen dieses Gedankens bzw dieser moralischen Intuition
im Einzelfall dezidiert Auskunft geben können. Und das kann ich letzlich ja
nur, wenn ich in der Lage bin, vor mir selbst zu rechtfertigen, daß beidem
eine echte Denkleistung meinerseits zugrunde liegt, und nichts anderes, wie etwa
Eingebungen und dergleichen. Und das wiederum setzt verständlicherweise voraus,
daß ich diesen Denkvorgang wirklich auch in den Einzelheiten intuitiv
erlebt habe. Ihn also als meine eigene Erkenntnisleistung, als meine freie
Schöpfung anerkennen kann, die auf eigener Tätigkeit basiert und nichts
sonst. Ich muß also hier ein verläßlicher Zeuge meiner Denk- oder
Erkenntnisleistung gewesen sein. Und das ist übrigens etwas, was im Prinzip
jeder Mensch leisten kann, sofern er nur mit Aufmerksamkeit auf das Zustandekommen
seiner Gedanken achtet, und zu unterscheiden vermag, was nur Assoziation oder Eingebung
ist, und was eigenes Denken ist.
Ein vielversprechender aber noch etwas unvollständiger
Ansatz bei Renatus Ziegler
Für interessierte Leser sei aus aktuellem Anlaß noch
erwähnt: Das Verständnis vom intuitiven Denken wie es hier anhand
des Quellenmaterials herausgearbeitet wurde, ist weitgehend deckungsgleich mit
demjenigen, das Renatus Ziegler in seiner jüngsten Buchveröffentlichung
Intuition und Ich-Erfahrung, Stuttgart 2006, zugrunde legt, aber
dort nicht näher belegt. Anders gesagt: es deckt sich weitestgehend mit Steiners
Begriff des reinen Denkens. Und dies läßt sich, so glaube
ich wenigstens ansatzweise gezeigt zu haben, auch gut an den einschlägigen
Texten Steiners nachweisen. Und zwar ganz unabhängig von Ziegler selbst, oder
den Forschungszusammenhängen in denen er persönlich steht. Bei Ziegler
fehlt wie gesagt ein solcher Beleg noch, obwohl er es sicherlich ebenfalls belegen
könnte. Daß es dort nicht hinlänglich geschieht, dafür gibt
es viele Gründe, die nicht allein nur beim Autor liegen.
Für den Leser, vor allem wenn er mehr in akademischen Kontexten
oder im Rahmen der Steinerforschung arbeitet, ist Zieglers Buch deswegen leider
nur bedingt - z. B. als wertvolle und anregende Verständnishilfe - nutzbar
zu machen, weil er in wissenschaftlichen Kontexten natürlich quellenkritische
Nachweise benötigt, die auch demonstrieren können, daß er Steiner
nicht lediglich eine subjektiv-willkürliche Lesart seiner Begrifflichkeit
aufprojiziert. Insbesondere bei Begrifflichkeiten wie Beobachtung des Denkens
oder intuitives Denken, die unhinterfragt zu so hochgradig abenteuerlichen
Verständnisansätzen führen, wie es hier an einigen Beispielen gezeigt
wurde, ist das notwendig. Und so ein Prüfungsnachweis läßt sich
der inneren Konsistenz der Gedankenführung eines Autors allein nicht entnehmen;
diese mag im übrigen noch so scharfsinnig sein, und der Autor gar wie im vorliegenden
Fall Lehrbuchansprüche anmelden.
Die Frage ist eben, ob sein Brückenschlag von der Untersuchung
des Denkens zur Philosophie der Freiheit auch sachlich zu rechtfertigen
ist. Konkret: Ist sein Verständnis etwa vom intuitiven Denken dasselbe,
wie es Steiner in seiner Schrift meint? Das läßt sich nun einmal nur
durch eine Untersuchung der von Steiner publizierten Texte und einen entsprechenden
Vergleich herausfinden. Bezüglich dieser begrifflichen Klärung des intuitiven
Denkens aber steht Ziegler bedauerlicherweise kaum anders da als etwa Prokofieff,
Kirn, Lowndes oder da Veiga Greuel, dessen persönlicher Mythos vom intuitiven
Denken noch heute seine Spuren in wissenschaftlichen Publikationen um die Waldorfpädagogik
hinterläßt. (Siehe: Marcelo da Veiga, Diskursfähigkeit der Waldorfpädagogik
und ihre bildungsphilosophischen Grundlagen, in: Horst Philip Bauer/Peter Schneider,
Waldorfpädagogik. Perspektiven eines wissenschaftlichen Dialoges; Frankfurt/M,
2006, S. 27; S. 34.) Bei einer Schrift, die laut Verfasser Lehrbuchcharakter
hat, ist das eigentlich nicht hinnehmbar. Auch nicht hinnehmbar, daß ein
so regelmäßig mißverstandener Schlüsselbegriff, an dem das
ganze Freiheitsverständnis der Philosophie der Freiheit letztlich hängt,
nicht einmal als terminus technicus im ausführlichen Sachregister dieses Lehrbuchs
Erwähnung findet. Ich glaube für den Nutzer seiner Schrift hätte
Ziegler am Ende mehr getan, wenn er diesen Begriff eingehender geklärt hätte,
als um jeden Preis bei der auf nur hypothetischem Niveau behandelten Reinkarnationsfrage
anzukommen. Seine Leser müssen es ihm letzten Endes vertrauensvoll abnehmen,
daß er den Begriff des intuitiven Denkens adaequat wiedergibt. Vertrauen
aber, um ein Wort Zieglers aus seinem Buch aufzugreifen, hat in Erkenntnisfragen
nichts zu suchen.
Wäre, was er dort vorträgt, nicht trotz dieser Schwäche
so weitgehend kongruent zu dem, was ich selbst auf dieser Internetseite versuche
den Lesern nahezubringen, dann würde ich mich nicht für dieses Buch stark
machen. So kann man vielleicht ersatzweise all den anderen Lesern sagen, daß
sie sich im großen und ganzen ohne weiteres auf den Gedankengang Zieglers
einlassen können, weil er mit Steiners Schrift und dessen Verständnis
vom intuitiven Denken, von einigen marginalen Details einmal abgesehen,
kompatibel ist. Und sie werden außerordentlich davon profitieren. Bei Dingen,
die weiter weg von der Philosophie der Freiheit liegen und mehr den Charakter
von logischen Schlußfolgerungen oder nachgeschobenen erkenntnisphilosophischen
Reflexionen haben, müssen sie ohnehin genauer hinsehen und prüfen. Denn
da ist manches mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. So glaube ich zum
Beispiel, daß das von Ziegler auf S. 178 ff eingeführte Aktualitätsprinzip
seinen eigenen Erkenntnisbegriff in große Schwierigkeiten bringt, weil dieses
Prinzip auf das Erkennen von Denken und Erkennen nicht uneingeschränkt anwendbar
ist. Und was der Autor etwa auf S. 209 f über die Erinnerung sagt, scheint
mir empirisch wenig gesättigt und unausgegoren, teilweise gar kurios. Aber
davon abgesehen - es ist soweit ich sehe das erste mal, daß es im Rahmen
einer Buchveröffentlichung gelungen ist, den Gedankengang der Philosophie
der Freiheit einigermaßen konsistent in etwas Geisteswissenschaftliches
zu überführen - und zwar anhand des eigenen Erlebens und nicht nur der
Wiedergabe anthroposophischer Steinerzitate. Ziegler macht da wirklich ernst mit
Steiners Aufforderung vom Ende des Kapitels Die Konsequenzen des Monismus:
"Vom lebendigen Ergreifen des in diesem Buche gemeinten intuitiven Denkens
wird sich aber naturgemäß der weitere lebendige Eintritt in die geistige
Wahrnehmungswelt ergeben." In dieser Hinsicht ist es ungeachtet der fehlenden
Nachweise und mancher internen Schwierigkeiten sicherlich mit das Beste, was die
anthroposophische Bewegung derzeit zu bieten hat.
*
In der Vorrede von 1918 zur Philosophie der Freiheit
macht Steiner eine Angabe über seine Beweggründe für Veränderungen
und Erweiterungen der Schrift im Zuge der Neuausgabe. Er nennt (S. 10) nur zwei
Anlässe dafür: "Nur längere Zusätze habe ich zu einer
ganzen Reihe von Abschnitten gemacht. Die Erfahrungen, die ich über mißverständliche
Auffassungen des von mir Gesagten gemacht habe, ließen mir solche ausführliche
Erweiterungen nötig erscheinen. Geändert habe ich nur da, wo mir heute
das ungeschickt gesagt schien, was ich vor einem Vierteljahrhundert habe sagen
wollen." Wenn man Steiner hier sehr streng folgt, dann steht sachlich in der
Zweitausgabe dieses Buches dasselbe wie in der Erstausgabe, nur um Ungeschicklichkeiten
und Mißverständliches bereinigt. Nun finden sich seine Ausführungen
über das intuitive oder intuitiv erlebte Denken ausschließlich
in solchen späteren Zusätzen, die dazu dienen Ungeschicklichkeiten oder
Mißverständliches auszuräumen. Frage: Was ist denn da so mißverstanden
worden, daß Steiner sich genötigt sieht den Aspekt des erlebten gegenwärtigen
Denkens mehrfach aufzugreifen und in geradezu definitorischer Weise zu präzisieren?
Warum spricht er in der Zweitauflage der Philosophie der Freiheit vom intuitiv
erlebten Denken? Warum wird jetzt gesagt, was 1894 noch nicht zu lesen ist:
Das intuitiv erlebte Denken sei eine Wahrnehmung, "in der der Wahrnehmende
selbst tätig ist, und" auch " ... eine Selbstbetätigung, die
zugleich wahrgenommen wird"? Obwohl im Grundsätzlichen doch sachlich
die Zweitauflage nichts anderes enthält als die erste. - Eine mögliche
und plausible Erklärung dafür finden Sie in meiner Arbeit über Walter Johannes Stein auf dieser Homepage.
Für weitere Einzelheiten darf ich den Leser an einen anderen
Aufsatz auf dieser Homepage verweisen. (Über
das Zusammenfallen von Wahrnehmung und Begriff und intuitives
Denken )
*
Warum die Klärung des intuitiven Denkens
überhaupt notwendig ist
Vielleicht noch eine letzte Bemerkung zu diesem zweiten Abschnitt
für Leser, denen der ganze Aufwand der begrifflichen Klärung um das intuitive
Denken noch nicht recht einleuchtet. Einiges dazu habe ich schon im Kommentar zu
dieser Arbeit angedeutet. Das wichtigste Argument ist sicherlich, daß man
Steiners Freiheitsbegriff nicht verstehen kann wenn man nicht weiß, was das
intuitive Denken ist. Eine Folge davon sollte man sich vor Augen
führen: Ein so hehres Motto wie: Erziehung zur Freiheit, mit dem sich
Waldorfschulen gern schmücken, entbehrt bis heute jeder tieferen Verständnisgrundlage
und bleibt ohne eine solche letztlich hohl.
Und diese Grundlage ist, nach allem was ich sehe, bislang tatsächlich
nicht vorhanden. Nicht, daß sie Steiner nicht gegeben hätte, aber niemand
scheint sie bislang begriffen zu haben. Exemplarisch kann man diese Sachlage fassen,
wenn man das umfangreiche und um Fundierung bemühte Buch Stefan Lebers zur
Hand nimmt, das sicherlich die Frucht eines lebenslangen Ringens um Verständnis
auf hohem Niveau genannt werden kann: Die Menschenkunde der Waldorfpädagogik,
Stuttgart 1993. Ins Auge fällt die eigentümliche Sparsamkeit, mit der
Leber dem Steinerschen Freiheitsbegriff dort im allgemeinen und vor allem im einschlägigen
Kapitel Anthropologie des Individualismus und der Freiheit (S. 23 ff) nachgeht.
Dieses Kapitel etwa beginnt zwar mit der Bemerkung, daß Steiner in seiner
Erkenntniswissenschaft einen "empirischen und keinen spekulativen Nachweis
der Möglichkeit menschlicher Freiheit" geführt habe. Nur: wie dieser
Nachweis wirklich aussieht, darüber gibt es bei Leber keinen stringenten Aufschluß,
sondern nur mehr oder weniger vage Andeutungen. Über Gründung der Freiheit
im intuitiven Denken schließlich - das ist ja das Entscheidende -
erfährt man nichts, auch nicht mittelbar. So daß mit Blick auf das intuitive
Denken der Leser verschiedener anthroposophischer Bücher die Wahl zwischen
verschiedenen Extrempositionen hat: die Grundlegung der Freiheit entweder im fantastischen
überlogischen Jenseits der Philosophie à la Lowndes oder Kirn
zu suchen, oder in den erkenntniswissenschaftlichen Niederungen von Wahrnehmung
und Begriff. Manchmal auch irgendwo dazwischen. Logisch paßt das alles wohl
nicht recht zusammen. Und das ist schon bemerkenswert, wenn das anspruchsvolle
Buch Lebers - Untertitel: Anthropologische Grundlagen der Erziehung des Kindes
und Jugendlichen - kaum schlüssige Angaben macht über die eigene
philosophische Basis der anthropologischen Kategorie Freiheit. Da Stefan
Leber gewiß kein Bruder Leichtfuß war, Steiner auf der anderen Seite
aber eine solche Begründung explizit gegeben hat, kann man seriöserweise
nur vermuten: Leber hat das Thema aus strategischen Gründen so sparsam behandelt,
weil auf der Rezeptionsebene zu vieles unklar und ungesichert ist. Für eine
Waldorfpädagogik mit wissenschaftlichem Fundierungsanspruch ist das wenig
befriedigend. Die Fragestellung sollte also dem Bund der Waldorfschulen mindestens
drei Dissertationen wert sein, sofern man dort Einfluß darauf hat.
Ein Wort zur desolaten Forschungskultur in der
anthroposophischen Bewegung
Daß sich an dieser Stelle eine Fragestellung auftut, die
vielen sich wissenschaftlich um die Waldorfpädagogik Bemühenden noch
wenig bewußt ist, läßt sich am jüngsten von Horst Philipp
Bauer und Peter Schneider herausgegebenen Sammelband Waldorfpädagogik.
Perspektiven eines wissenschaftlichen Dialoges; Frankfurt/M, 2006 ablesen.
Ein ausgezeichnetes, lesenswertes Buch, dessen kritisch reflektierende Positionen
man im großen und ganzen nur unterstreichen kann. Da werden viele in der
Waldorfbewegung offenbar werdenden Fragen und Schwierigkeiten beherzt aufgegriffen
und benannt. Und dennoch fehlt diesem Buch aus meiner Sicht etwas ganz entscheidendes:
Die explizite und pointierte Forderung nach der internen methodenbewußten
wissenschaftlichen Aufarbeitung und Klärung der philosophisch-anthroposophischen
Quellen dieser Waldorfpädagogik.
Die Tatsache, daß der Rationalitätsnachweis der Steinerschen
Anthroposophie von den eigenen vor allem wissenschaftlich orientierten und arbeitenden
Anhängern dieser Bewegung in vielerlei Hinsicht noch gar nicht adaequat verstanden
worden ist, und die Lösung manches gravierenden Problems noch in weiter Ferne
zu liegen scheint, wird dort weitestgehend ausgeblendet. Dabei hätte dieser
Fragestellung dort seiner faktischen Bedeutung nach, so glaube ich, mindestens
ein eigenständiger Beitrag gewidmet werden müssen. Tatsächlich aber
läßt sich ein solches Anliegen soweit ich sehe allenfalls höchst
mittelbar beispielsweise aus den Beiträgen Peter Schneiders entnehmen. Und
auch die von Marcelo da Veiga (S. 22) formulierte Aufforderung: "Die Waldorfpädagogik
und die sie begründende anthroposophische Geisteswissenschaft müssen
in Theorie und Praxis kritisch reflektiert, beforscht und gewürdigt werden
..." steht da noch sehr vereinzelt und blaß nur allgemein programmatisch,
ohne eine nähere Beleuchtung dessen, was daraus an konkreten Fragestellungen
und Forschungszielen bezüglich dieser begründenden Geisteswissenschaft
zu entnehmen ist. Zwei vage Sätze, wenn man großzügig ist drei,
werden über diesen Kardinalpunkt fallen gelassen. Weit davon entfernt Problembewußtsein
in dieser Angelegenheit zu vermitteln oder gar zu demonstrieren. Da wird nicht
etwa davon gesprochen, daß es beispielsweise bezüglich des intuitiven
Denkens so vielerlei unterschiedliche und kaum belegte Verständnisansätze
gibt, die untereinander nicht verträglich sind, aber auch nicht diskutiert
werden. Oder so viele undiskutierte Versionen dessen existieren, was bei Steiner
Beobachtung des Denkens sein soll. Daß manche da gar von einem Erzeugungsproblem
des Denkens reden und man diesem Thema vielleicht einmal kritisch nachgehen sollte.
Daß es bis heute keine verbindlichen Interpretationsstandards über die
Philosophie der Freiheit gibt, und viele Autoren, selbst Mitglieder des
Dornacher Vorstandes, darüber zu schreiben scheinen was ihnen beliebt, ohne
sich um Belege und Nachweise zu kümmern oder irgend ein tiefer gehendes Verständnis
zu zeigen. Daß darüber auch kaum öffentlich debattiert wird, weil
das anscheinend nicht zum guten Ton in dieser Bewegung gehört, und alle offenbar
irgendwie nebeneinander her und aneinander vorbei reden, ohne sich gegenseitig
- von Ausnahmen abgesehen - kritisch aufzugreifen und zu beleuchten.
Das jüngste Buch Prokofieffs zur Philosophie der
Freiheit ist vielleicht ein krasser Fall, aber so ungewöhnlich
für die anthroposophische Szene auch wiederum nicht: Der Autor verweist
in seinem Anmerkungsapparat über hundert mal auf Rudolf Steiner, und
vielleicht zehn mal auf übrige anthroposophische Sekundärliteratur
ohne näher auf Details einzugehen. Kritisierte Literatur wird überhaupt
nicht genannt, obwohl er sich über philosophische Autoren einige heftige
Ausfälle leistet, und hält schließlich einen einzigen Verfasser
mehr als siebzig mal für zitierwürdig: nämlich sich selbst.
Darin liegt viel Exemplarisches: Man bindet andere in Büchern nicht
wirklich ein, noch nicht einmal wenn man sie öffentlich kritisiert.
Publikationen dieser Art haben einen unverkennbar egozentrischen und selektiven
Charakter. Ein großer Teil der wissenschaftlich relevanten Fakten
wird bewußt ausgeblendet, zurückgehalten und dem Leser vorenthalten.
Es geht nicht darum über eine Sachlage möglichst breit und facettenreich
problemorientiert zu unterrichten, sondern die spezifische Sichtweise eines
Autors konzentriert, wirkungsmächtig und unrelativiert von anderen
Auffassungen ins Publikum zu tragen. Ein Schelm, wer da an die Nähe
zur politischen Propaganda denkt. [Siehe Sergej O. Prokofieff, «Anthroposophie
und die Philosophie der Freiheit», Dornach 2006]
Renatus Ziegler vermeidet in seinem erwähnten letzten
Buch die Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen unter Hinweis (S.
29) darauf, daß dann sein Buch nicht zustande gekommen wäre.
Obwohl das von ihm behandelte Thema mehr als strittig ist unter den Bearbeitern
von Steiners philosophischem Werk und genügend publizierte Auffassungen
existieren, die mit der seinigen nicht vereinbar sind. Die von Ziegler
vorgebrachte Begründung hätte auch Prokofieff vorbringen können.
Es ist ein wahrer argumentativer Joker, der beliebig oft gezogen werden
kann und jeden Kritiker zum Schweigen bringen muß, weil ja nichts
nachvollziehbarer ist als das. Nur mit Wissenschaft hat das alles nichts
zu tun. Wenn ein Autor ein Lehrbuch verfaßt zu einem teilweise
hochproblematischen und kontrovers behandelten Forschungsgegenstand namens
Philosophie der Freiheit, ohne ein Bewußtsein für die
heikle Forschungslage zu demonstrieren oder seinem Leser gar zu vermitteln.
Sich stattdessen mit der Bemerkung dieser Aufgabe entledigt, sein Buch
wäre dann nicht zustande gekommen. Dort eine Serie strenger Erkenntnisgesetze
formuliert und doch selbst, abgesehen von
bescheidenen Textkommentierungen
(näheres dazu siehe hier), keinen brauchbaren am Forschungsobjekt festgemachten
Nachweis dafür liefert, daß er die umstrittene Begrifflichkeit
der Philosophie der Freiheit auch adaequat behandelt: dann gehört
das mit zu den wissenschaftlich-existentiellen Kuriositäten der anthroposophischen
Bewegung.
Prokofieff und Ziegler stehen sich qualitativ zwar auf
der einen Seite wie Antipoden gegenüber, aber in dieser Art
der wissenschaftlichen Einbindung ihres Umfeldes sind sie sich innerhalb
gewisser Grenzen ähnlicher als man wünschen möchte. Daß
es da noch einen betroffenen Leser gibt, der dezidierten Anspruch darauf
hat über gewisse Dinge, Schwierigkeiten und Forschungsprobleme mit
aufgeklärt zu werden, spielt offenbar in den Überlegungen der
Verfasser nur eine untergeordnete Rolle. Und auch das scheint mir charakteristisch
für das anthroposophische Publikationswesen: Da stellt man einen Haufen
miteinander unverträglicher Literatur beziehungslos nebeneinander
hin und halst dem ahnungslosen Leser die Verantwortung dafür auf,
sich in diesem literarischen Konglomerat zurechtzufinden. Derjenige, der
in der Regel ja kein Fachmann ist, soll jetzt darüber befinden was
davon akzeptabel oder inakzeptabel ist. Diejenigen Autoren aber, die es
zumindest besser wissen müßten und ihm dabei dienlich sein könnten,
schweigen sich aus. Das kann schlechterdings nicht funktionieren und muß
auf Dauer dazu führen, daß nicht das sachlich Angemessene sich
durchsetzt, sondern was die unaufgeklärte Erwartungshaltung der meisten
Leser bedient.
Zu welch kontraproduktiven Blüten auch in eben diesem
Sinne dieser Verzicht auf öffentliche Kritik und das damit verbundene
Benennen von Forschungsproblemen führt, wird im erwähnten Buch
Prokofieffs evident. Ein exemplarisches und folgenschweres Beispiel dafür,
was passiert, wenn dann so ein unaufgeklärter Leser selbst zum Autor
wird und seine eigene Unwissenheit literarisch weiter transportiert: Prokofieff
ist so ein Ahnungsloser, der dieser Strategie zwar selbst folgt, aber ihr
gleichzeitig auch zum Opfer fällt. Seine dortige (S. 34) für
Sachkundige kaum zu begreifende Forderung nach einer Überwindung
der "bloß" philosophisch-philologischen Zugangsweise zur
Philosophie der Freiheit ist nicht allein, aber maßgeblich
auch damit zu erklären, daß er sehr schlecht informiert ist
über die außerordentlichen Schwierigkeiten eines Zugangs zu
diesem Werk schon auf dieser "bloß" philosophischen Ebene.
(Näheres siehe hier) Vergleichbares gilt
für die Vorhaltungen, die er philosophischen Autoren gegenüber
auf S. 243 erhebt. Ihm fehlt augenfällig die Einsicht und Übersicht
über Forschungslage und Forschungsproblematik zur Philosophie der
Freiheit. Nur so scheinen mir angesichts dieser Forschungslage derart
blauäugige und wirklichkeitsfremde Ansprüche verständlich.
Denn so kann nur ein Anfänger urteilen und fordern, dem jede
nennenswerte Forschungserfahrung mit der Philosophie der Freiheit
abgeht. Aber woher, so möchte man sich fragen, sollte er diese Übersicht
auch haben als interdisziplinärer Grenzgänger? Als jemand, der
in der Anthroposophie, aber allenfalls besuchsweise in der Erkenntnistheorie
bzw. der Philosophie der Freiheit zu hause ist? (Man vergleiche
dazu sein Nachwort S. 243 ff.) Wie sollte er das überschauen, wenn
nicht einmal von jenen öffentlich etwas davon thematisiert wird, die
sich weit besser auf diesem Sachgebiet auskennen als er selbst?
Hält man sich die forschungspraktischen Konsequenzen
aus Prokofieffs Forderungen in seinem Buch vor Augen, dann heißt
das nichts anderes als: im Endeffekt führt die Enthaltsamkeit von
problemorientierter öffentlicher Kritik hier dazu, daß der Dornacher
Vorstand aus schierer Unwissenheit den forschenden Philosophen (und letztlich
auch sich selbst) das Wasser abgräbt für essentiell wichtige
Forschungsarbeit. Und das wird natürlich nicht nur bei einer literarischen
Wasserabgrabung bleiben, sondern auch faktisch umgesetzt werden. Da sollte
man sich nicht von Illusionen leiten lassen: Dies wird seine ganz realen
und pragmatischen Auswirkungen auf die anthroposophisch-gesellschaftliche
Entwicklung und die Forschung dort haben, wenn sich bei den Entscheidungsträgern
und Multiplikatoren im Dornacher Vorstand Überzeugungen wie diejenigen
Prokofieffs festsetzen. Das bitte ich all jene sich vor Augen zu führen,
die mir gelegentlich Vorwürfe machen weil ich manchmal etwas sehr
kritisch mit anthroposophischen Autoren umgehe, und dies ja so gar nicht
dem anthroposophischen Positivitätsideal entspricht. Gerade der Fall
Prokofieff zeigt, daß eine Bewegung, die ihre Forschungsprobleme
nicht öffentlich thematisiert und hier für Transparenz sorgt,
über kurz oder lang mehr davon und weit gravierendere bekommt als
ihr lieb sein kann. Da deutet sich schon jetzt ein Szenario als real möglich
an, wo selbst ein Buch wie dasjenige Zieglers im anthroposophischen Rahmen
gar nicht mehr publizierbar sein wird. Die Tendenzen dahin sind allemal
vorhanden.
(Die Wirklichkeit ist manchmal schneller als ihr Vorausdeuter
es ahnte. Inzwischen - Herbst 2008 - wird Ziegler mit seinem Buch ganz
offen schon als Gegner Steiners und der Anthroposophie gehandelt. So von
einer Frau Mieke Mosmuller. Und deren Rezensent im Europäer von
Thomas Meyer, Nr. 12, Oktober 2008, S. 21 f, ist auch noch arglos und unbesonnen
genug, die kritische Frage zu unterlassen, welchen Sinn es wohl haben kann,
wenn ein Anthroposoph einen anderen, der ersichtlich ernsthaft um Verständnis
bemüht ist, ganz öffentlich und in Buchform als Gegner Steiners
und der Anthroposophie etikettiert, nur weil der bei manchen heiklen Sachfragen
anderen Auffassungen zuneigt als er selbst. Und ob diese Fundamentalkategorisierung
nach Gegnerschaft in anthroposophischen Forschungszusammenhängen wirklich
angemessen ist, oder nicht eher Ausdruck einer gewissen paranoidoformen
und intoleranten Psychologie, wie sie viele fundamentalistische Religionsströmungen
auszeichnet.
Man darf gespannt sein auf die nächste Eskalationsstufe
solcher Prädikationen. Wohin diese unsägliche interne Gegnerschaftsattribution
zu führen vermag, das lässt sich höchst eindrucksvoll studieren
nicht nur anhand der Geschichte der christlichen Kirchen, sondern tagtäglich
und weltweit in den monumental-monströsen Werken religiös motivierter
Sprengmeister jeglicher Provenienz. Sie alle haben einmal klein und bescheiden
angefangen. Und eine Bewegung, deren Anhänger schon in der Vergangenheit
mitunter nicht immer leicht zu unterscheiden wußten zwischen dem,
was geistgetragene Weltsicht ist und was bloß dumpfes Nazitum, -
Beispiele siehe etwa hier:
www.fh-bielefeld.de/filemanager/download/6650/Werner%20Georg%20Haverbeck.pdf
und hier:
www.egoisten.de/benesch_st/benesch_st.html -, ist da zweifellos noch für
Überraschungen gut.
Wenn zwei seriöse Physiker sich über ein physikalisches
Sachproblem streiten, dann werden sie versuchen ihr Problem mit Sachargumenten
und weiterer Forschung zu lösen. Aber schwerlich wird deswegen der
eine den anderen öffentlich als Feind der Physik anprangern. Bei Anthroposophen
ist so etwas prinzipiell möglich. Da fällt das Absurde dieser
Geisteshaltung bisweilen noch nicht einmal auf. Selbst im Europäer
von Thomas Meyer nicht.
Personen wie Frau Moosmuller mit ihren Ansprüchen
und fundamentalistischen Gegnerschaftsunterstellungen scheinen mir geradezu
ein Belegexemplar zu sein für die Folgen der hier skizzierten wissenschaftlichen
Verfassung der anthroposophischen Bewegung.) |
Schließlich: Über den verbreiteten unreflektierten,
ungehemmten und katastrophalen Umgang mit Steiners Vorträgen wird in dem erwähnten
Sammelband auch nichts gesagt. Obwohl alle daran beteiligten Autoren davon sicherlich
Kenntnis haben. Bei aller Zustimmung zum Anliegen dieses Sammelbandes: Wo, wenn
nicht dort, sollte dies öffentlich angesprochen werden in der Hoffnung dadurch
etwas zu bewegen? Es gibt offensichtlich eine Art blinden Fleck in der wissenschaftlich-kritischen
Selbstwahrnehmung. Vielleicht auch ein Gesetz des Schweigens - eine anthroposophisch-wissenschaftliche
Omerta. Vielleicht hat auch niemand Zeit das alles zu tun, dann sollte man sich
die Bedingungen wissenschaftlichen Forschens in dieser Bewegung ansehen. Eine eingehende
wissenschaftssoziologische Studie würde vermutlich aufzeigen können,
daß hier ein Gemisch von all dem vorliegt.
Und darin scheint mir einer der wesentlichen Gründe für
manche in diesem Sammelband angesprochene Misere zu liegen. Das Vorhandensein eines
gewissen allgemeinen Grundkonsenses in der Einschätzung von Steiners Werk
und dessen philosophischer Begründung darf nicht mit der Tatsache eines Konsenses
in jeder Hinsicht verwechselt werden. Schaut man nämlich mehr in die Feinheiten
der jeweiligen Überzeugungen selbst nur bei den philosophisch orientierten
Vertretern, dann ist es mit dem Konsens in einigen zentralen Fragen sehr schnell
vorbei. Und nimmt man noch die rein anthroposophischen Vertreter wie etwa Prokofieff
hinzu, dann scheint eine Verständigung zwischen den Lagern nahezu ausgeschlossen,
weil die Einschätzungen und Erwartungen des jeweils anderen kaum noch verstanden
werden können. Dem läßt sich dauerhaft und wirksam nur entgegenwirken
durch die Etablierung einer vergleichbaren Forschungskultur, wie sie meinetwegen
in der Hegel- oder Kantforschung gepflegt wird. Das ist bezogen auf die gesamte
Anthroposophie und realistisch betrachtet nur multiprofessionell und interdisziplinär
umzusetzen, weil das Steinersche Werk dermaßen viele Fachbereiche und Forschungsfragen
übergreift, die von einem einzelnen nicht zu überschauen sind. Weder
intellektuell noch kräftemäßig. In diese Richtung muß wohl
auf lange Sicht gearbeitet werden. Auf dieser Linie liegt auch eine sehr treffende
Bemerkung Marcelo da Veigas in der Anmerkung 2 auf S. 21 des Sammelbandes. Das
bislang noch weitgehende Fehlen einer reifen anthroposophischen Wissenschaftkultur,
die sich ihrer eigenen Grundlagenprobleme bewußt ist und diese selbstkritisch
öffentlich reflektiert und methodenbewußt aufarbeitet, führt hingegen
auf der einen Seite gleichermaßen zu internen wie externen Vermittlungs-
und Diskursschwierigkeiten und massiven Forschungsblockaden. Und auf der anderen
Seite dazu, daß Zieglers über weite Strecken fabelhaftes Buch erscheinen
kann, ohne daß ihm die entscheidenden Plausibilitätsnachweise beigefügt
werden, weil offenbar niemand sieht wie notwendig und unerläßlich das
in einer Wissenschaftskultur ist. Beides ist symptomatisch für eine Bewegung,
die im großen und ganzen noch wissenschaftlich vor sich hin zu träumen
scheint - das jedenfalls möchte man mitunter meinen.
Wohin diese beklagenswerte anthroposophische Forschungskultur
führt, das läßt sich unmittelbar studieren in der ursprünglich
zur Dissertation vorgesehenen Arbeit von Jonael Schickler, Metaphysik
als Christologie. Eine Odysse des Ich von Kant und Hegel zu Steiner. Aus
dem Englischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen
von Peter von Rukteschell, Würzburg 2004. (Inzwischen in deutscher
Sprache nicht mehr erhältlich. Die englische Ausgabe lautet
Metaphysics as Christology. An Odyssey of the Self from Kant and
Hegel to Steiner. Ashgate New Critical Thinking in Religion, Theology
and Biblical Studies Series, Aldershot: Ashgate, 2005) [Mein
herzlicher Dank geht an G. D. für Literaturhinweise]
Dieser in philosophischen Dingen begabte junge Mann konnte
sein Projekt nicht mehr definitiv zum Abschluß bringen, da er tragischerweise
25-jährig unmittelbar vor dem Einreichen seiner Dissertation in England
bei einem Zugunglück im Mai 2002 ums Leben kam.
Die Tragik dieses kurzen Lebens wiegt insofern doppelt,
als Schickler offensichtlich nie in seinen jungen Jahren einen sachlich
verwertbaren Hinweis darauf erhalten hat, daß der entscheidende Aspekt
dessen, was er philosophisch sucht, von seinem Kern her in der Philosophie
der Freiheit und in den übrigen Steinerschen Frühschriften
längst enthalten ist. Was seinen sichtlich beeindruckten, wohlmeinenden
und offensichtlich nicht anthroposophisch geprägten Rezensenten Martin
Wendte zu der resignierend kritischen Feststellung veranlaßt: "The
key issue is this: Schickler himself states that todays mankind is
unable to perceive the etheric body, and that the clairvoyance of Steiner
and other mystics is necessary to do so. Could this not be a hint that
a problem has been reached here which, at this side of the eschaton, cannot
be solved? Schickler is right in stating the problem he statesbut
perhaps under the conditions of fallen human beings, we simply cannot solve
it and must learn to live with the rest of ontological scepticism inherent
to a Kantian position. " (Siehe diese Renzension im Internet unter
http://www.arsdisputandi.org/publish/articles/000268/article.pdf )
Der Rezensent fühlt sich bei aller Bewunderung für
Schicklers Scharfsinn und Kenntnisreichtum Kant und Hegel betreffend gleichsam
vom Verfasser allein gelassen, weil Schickler ausschließlich auf
Steiners höhere übersinnliche Fähigkeiten und die darauf
basierenden Forschungsergebnisse verweisen zu können glaubt.
Daß die übersinnliche Schlüsselfähigkeit
und geistige Basisgröße, auf die es philosophisch vorrangig
ankommt, nämlich das reine, sinnlichkeitsfreie oder
intuitive Denken in der Philosophie der Freiheit ausdrücklich
thematisiert wird, und dessen Charakter als geistiges Wahrnehmungsorgan
und individuelle Erscheinungsform des Wesens der Welt ganz explizit
auch in anderen Frühschriften (Siehe etwa GA-02, Dornach 1979, S.
79) Steiners hervorgehoben wird, diesem Gedanken scheint der junge Mann
nie begegnet zu sein. Und entsprechend findet sich auch kein Hinweis darauf
in seiner Schrift. Kaum mehr als vage Andeutung oder Ahnungen (etwa S.
165), teilweise schlicht unzutreffende enthält sein Buch in dieser
Richtung. Wie man überhaupt darüber staunt, daß ein Buch
mit diesem anspruchvollen Titel und wertvollen Gedankengängen über
Kant und Hegel, sich schließlich und endlich damit begnügt bei
rund 180 Seiten Gesamtumfang Steiner selbst auf den Seiten 151 ff kaum
mehr als grob überschlägig 15-20 Seiten zu widmen. Angesichts
der Verständnisschwierigkeiten, mit denen sich die Steinerforschung
seit vielen Jahrzehnten plagt, ist das verzweifelt wenig. Und im Literaturverzeichnis
(S. 185 f) findet sich nicht einmal die von Steiner selbst als grundlegend
bezeichnete Schrift Wahrheit und Wissenschaft (GA-03) vermerkt.
Jene Schrift übrigens, die laut Vorrede Steiners ausdrücklich
einen Beitrag leisten wollte zur Überwindung des ungesunden Kant-Glaubens
seiner Zeit. Für jemanden, der Steiner professionell philosophisch
mit Kant vergleicht, sollte es schon einen forschenden Blick wert sein,
was Steiner da möglicherweise zu dieser Überwindung beizutragen
gedenkt. Ebensowenig finden sich erwähnt die Einleitungen in Goethes
naturwissenschaftliche Schriften (GA-01) oder die Schrift Goethes
Weltanschauung (GA-06).
So ausgestattet läßt Schickler entsprechend
wenig Neigung erkennen in die Details Steinerscher Grundschriften einzusteigen.
Und was er dann schließlich über Steiners philosophische Frühschriften
schreibt kann man auch nicht eben als Ausdruck einer überbordenden
philosophischen Wertschätzung bezeichnen. Die hat ihm offensichtlich
niemand nahe gebracht. Die geringschätzigen Bemerkungen, die er ganz
beiläufig über Steiners Erkenntnistheorie fallen läßt
- z. B. S. 167 ff, - sind ihm noch nicht einmal eine sachliche Begründung
wert.
So herrscht eine geradezu verblüffende Asymmetrie
zwischen der profunden Werkkenntnis und Liebe zum Detail, die er bei seinen
Untersuchungen von Kant und mehr noch Hegels walten läßt, und
der um Größenordnungen darunterliegenden Neigung, sich mit Steiners
philosophischen Schriften zu befassen. Hätte man nicht die Versicherung
des Herausgebers, diese Arbeit sei faktisch zur Abgabe bereit gelegen,
man würde sie glatt für ein Fragment halten, das auf seinen Abschluß
erst noch wartet. Man fühlt sich regelrecht in eine philosophische
Podiumsdiskussion versetzt, wo der Hauptakteur (Steiner), der angeblich
die Probleme der beiden anderen (Kant und Hegel) lösen kann, gar nicht
eingeladen wurde. An seiner statt verliest dann der Moderator in ein paar
dürren Statements das, was er für die philosophische Meinung
Steiners hält, während er sich tatsächlich auf dessen eigene
Gedankenbildung gar nicht erst groß eingelassen hat. Der Part über
die Frühschriften Steiners ist gemessen an der Gründlichkeit
mit der er Kant und Hegel behandelt mit Abstand der schwächste der
Arbeit, und steht in einem so auffallenden Mißverhältnis dazu,
daß man die Anmutung hat, er sei überhaupt erst vor kurzem zum
ersten mal damit in Berührung gekommen, nachdem er die Vorarbeiten
zu Kant und Hegel weitgehend hinter sich hatte. Was zumindest die Unvollständigkeit
seiner Literaturangaben dieses philosophische Werk Steiners betreffend
erklären würde.
Er rauscht, da er vorrangig auf Steiners späteres
esoterisches Werk hinorientiert ist, flüchtig hindurch, läßt
wichtige Teile unbeachtet und an den entscheidenden Einzelheiten hetzt
er achtlos vorüber. Nur eine davon ist die alles überragende
Entdeckung Steiners aus den Grundlinien ... (GA -02, Dornach 1979,
S.79): Jene vom Denken als Wesen der Welt, und vom menschlichen Denken
als einzelner Erscheingsform dieses Wesens. Eine Entdeckung ausdrücklich
als Resultat philosophisch-erkenntnistheoretischer Untersuchung vermerkt,
die sich ihrer Bedeutung und ihrem Fundamentalcharakter nach nur vergleichen
läßt mit der staunenden Entdeckung des kleinen Kindes, daß
es überhaupt eine Welt gibt. Hier ist im Prinzip in einem Vorentwurf
alles schon enthalten, was später dann zur weit feiner ausziselierten
esoterischen Weltbeschreibung Steiners wird. Sogar der Methode nach, wie
Steiner oft genug betont, selbst wenn sie hier philosophischer Natur ist
(vergleiche etwa hier). Erkenntnistheorie ist
hier nur ein anderer, der spezifischen philosophischen Problemlage Rechnung
tragender Ausdruck für Geistesforschung. Es ist eine hellseherische
Methode, die im Grundsatz jeder denkende Mensch ohne weiteres anzuwenden
in der Lage ist. Auch der Rezensent Martin Wendte, der sich so sehr darüber
beklagt, daß er nun einmal kein Hellseher sei. Er ist es im Prinzip
längst - er weiß es nur noch nicht. Der Verfasser des von ihm
rezensierten Buches weiß es unglücklicherweise auch nicht. Und
warum er es nicht weiß, das ist eine der großen Fragen,
die hinter diesem tragisch unvollendeten Leben steht. Sie geht die ganze
anthroposophische Bewegung etwas an.
Dieser Entdeckung vom Denken als Weltwesen ordnet sich
letztlich alles unter. Auch Steiners Hinweis aus der Philosophie der
Freiheit (Kap. IV) dahingehend, das Denken sei jenseits von Subjekt
und Objekt, ist nur eine selbstverständliche Konsequenz aus dieser
grundlegenden Entdeckung. Ebenso wie sein methodischer Hinweis vom Ende
der Philosophie der Freiheit, vom lebendigen Ergreifen des intuitiven
Denkens werde sich der weitere Eintritt in die geistige Wahrnehmungswelt
von selbst ergeben, auch nur eine Konsequenz der Tatsache ist, daß
das übersinnliche Wesen der Welt auch auf übersinnlichem Wege
und keinem anderen gefunden wird. Und demgemäß natürlich
auch die weitere Hineinarbeitung in dieses Weltwesen organisch an diese
philosophisch-hellseherische Methode der Frühschriften anknüpft.
Dieser Hinweis Steiners über die Geistnatur des Denkens und den Charakter
der Philosophie der Freiheit als geisteswissenschaftliches Forschungsresultat
hätte sachlich gesehen auch schon in den Grundlinien ... stehen
können. Und wer die Materie etwas überschaut, der könnte
beispielsweise entsprechend klare Hinweise im Kapitel 18. der Grundlinien
..., Psychologisches Erkennen ausfindig machen. (Siehe auch
die entsprechenden diesbezüglichen Anmerkungen Steiners dazu zur Neuauflage
von 1924 der Grundlinien ... .) Der weitere Weg in die geistige
Welt ist letzten Endes ein methodisch verfeinerter und geregelter Weg in
dasjenige, was in den Grundlinien ... über das Denken als Wesen
der Welt bereits aufgezeigt wird.
Was in diesem Weltwesen dann alles enthalten ist
und wohinein es sich weiter differenziert, das gilt es dann ebenso fortschreitend
aufzuklären, wie ein Kind erst nach der Entdeckung der Welt
als solcher weitere Einzelheiten dieser Welt nach und nach bemerken wird.
Und nicht gleich schon von Anfang an weiß, daß da auch Sonne,
Mond und Tiefseekraken warten, die noch gefunden werden wollen. Insofern
ist auch Schicklers Bemerkung von S. 167 wenig zielführend, Steiner
behandele in der Philosophie der Freiheit nicht wie aus der Erkenntnistheorie
Ontologie werden könne. Abgesehen davon, daß er es schon in
den Grundlinien ... behandelt hat, wiederholt sich das ganze noch
einmal in der Philosophie der Freiheit im Hinweis vom Denken als
einem sich selbst tragenden Wesensweben, um nur ein Beispiel von manchen
möglichen zu nennen. Und angesichts der ausgesprochen empiristischen
und nicht etwa nur formalen Orientierung der Steinerschen Erkenntniswissenschaft
- letzteres hält Steiner seinen philosophischen Zeitgenossen häufiger
vor - ist es mir ohnehin schleierhaft, wie jemand überhaupt auf so
einen Gedanken wie Schickler verfallen kann. Auch dies nur ein beredtes
Zeichen dafür, wie wenig er sich darum bemüht hat, die Steinersche
Philosophie aufzuschließen.
Das meiste von dem, was Schickler über Steiners Frühschriften
schreibt, wirkt dagegen bloß altklug und lieblos nur so hingesetzt
wie von jemandem, der einen grandiosen Überblick über die Details
hat und sich darum nicht mehr scheren muß. Nur trifft das eben in
diesem Fall nicht zu. Was spätestens dann offensichtlich wird, wenn
man in diese Details und die Art seiner handwerklichen Auseinandersetzung
damit selbst hineingeht. Er hat, so scheint es, nicht wirklich Interesse
daran. Und in anderem wiederum meint man geradezu authentisch einen hinlänglich
bekannten Ton mancher Anthroposophen herauszuhören, die ohnehin Steiners
philosophischen Bemühungen nicht allzuviel abgewinnen können,
weil sie das spätere Anthroposophisch-Geisteswissenschaftliche für
allemal wertvoller halten als diese vorläufige Philosophie
Steiners, die man tunlichst überwinden sollte. Wo notwendige Klärungsarbeit
im ungünstigsten Fall auch noch als anthroposophischer Intellektualismus
gebrandmarkt wird, der am wesentlichen vorbeigeht. Bei Schickler -
er scheint ja aus diesem geistigen Milieu zu kommen - mutet dies, obgleich
er darin zurückhaltender ist und nur eine deutliche Tendenz dahin
erkennen läßt (siehe etwa S. 168) insofern eigentümlich
aufgesetzt an, weil der junge Mann das, so hoffnungslos ungenügend
wie er durch seine Übersicht über die Einzelheiten der Steinerschen
Philosophie qualifiziert erscheint, natürlich realistischerweise gar
nicht beurteilen kann. Weil er noch nicht einmal mit diesen philosophischen
Detailfragen der Frühschriften Steiners zurecht kommt. Weil er sie
- dieser Eindruck drängt sich auf - in ihrem Eigencharakter auch gar
nicht wahrnehmen will.
Der junge Mann muß, das kann man hier nur vermutungsweise
konstatieren, auf die philosophischen Grundlagen der Anthroposophie, die
Wesenhaftigkeit des Geistigen und das sogenannte Hellsehen bezogen furchtbar
schlechte anthroposophische Lehrer und Ratgeber gehabt haben. Und niemand
von denen, die er hatte, hat ihm offenbar einen ernstzunehmenden und produktiven
Hinweis darauf geben können, was das intuitive Denken ist und
welche außerordentliche Bedeutung es für den philosophischen
und gleichermaßen empirischen Zugang zur Anthroposophie und
für das Verständnis des Geistigen hat. So bleibt ihm, abgesehen
von der vagen Andeutung (S. 165) Steiners Phänomenologie des Denkens
in der Philosophie der Freiheit lege einen Grund "für
das Verstehen des Hellsehens, das daraus erwächst", weiter nichts
übrig als auf Steiners spektakuläre Hellsichtigkeit zu verweisen,
anstatt seinen Leser darüber aufzuklären, daß dieser ja
längst schon Anteil an dieser Hellsichtigkeit und damit Zugang zum
Geistigen hat, insofern er nämlich in der Lage ist, das reine Denken
auszuüben.
Denn den Philosophen, und das ist ja bei aller Anerkennung
auch Wendtes Problem mit diesem Buch, interessiert vor allem der Übergang
vom sogenannten normalen zum hellseherischen Bewußtsein. Dasjenige,
was ihm selbst unmittelbar davon erreichbar ist. Denn das ist ihm auch
am leichtesten einer Überprüfung zugänglich. Und ihn interessiert
warum und mit welchen Gründen Steiner das dem hellseherischen Bewußtsein
zuschlägt. (Näheres siehe hier) Kurz
gesagt: Ihn interessiert was dieses hellseherische Bewußtsein grundsätzlich
genommen überhaupt ist! Darüber aber bekommt er keine
Auskunft. Er hätte sie zumindest mit dem Verweis auf die Geistnatur
des intuitiven oder reinen Denkens bekommen können, wie ihn Steiner
in der Philosophie der Freiheit gibt. Oder mit dem Hinweis auf den
Charakter des reinen Denkens als intellektuelle Anschauung, wie
er es in der Schrift Wahrheit und Wissenschaft vermerkt. Für
jemanden, der sich wie Schickler mit Kant auseinandersetzt ganz gewiß
kein unerheblicher Fingerzeig. Aber letztere grundlegende Schrift findet
sich wie gesagt nicht einmal in seinem Literaturverzeichnis. Und nicht
zuletzt hätte so ein Hinweis gegeben werden können via Steiners
Bemerkung aus der Schrift Goethes Weltanschauung, der Beobachter
des Denkens schaue die wirkende Idee unmittelbar selbst an. Da wäre
sogar ein möglicher philosophischer Anknüpfungspunkt zum Ätherischen
gegeben. Auch diese Schrift wie gesagt nicht in Schicklers Literaturliste
aufgeführt. Diese Aufzählung konkreter Steinerscher Hinweise
läßt sich um etliche Stationen erweitern.
Daß diese Phänomenologie des Denkens in der
Philosophie der Freiheit nicht nur den Grund legt für das Verstehen
des Hellsehens, das daraus erwächst, sondern daß dieses dort
behandelte Denken ganz explizit von Steiner schon dem Hellsehen zugerechnet
wird und ein essentieller Bestandteil davon ist; wie die Schrift überhaupt
dem Selbstverständnis Steiners nach schon das Resultat eines philosophisch
geprägten Hellsehens ist, darüber verliert Schickler keine weitere
Bemerkung. Und - so wie die Dinge in der Steinerforschung bislang liegen
- konnte er das vermutlich auch nicht. Die zentrale Größe dieses
Buches, so scheint es mir, hat er gar nicht ernsthaft erfaßt.
Mit anderen Worten: Er beruft sich im Hinblick auf sein
christologisches Anliegen auf Steiners hellseherisches Vermögen, das
er selbst, und zwar allen diesbezüglichen und expliziten philosophischen
Angaben Steiners zum Trotz, nicht einmal im Ansatz versteht. Daß
dies für seinen philosophischen Rezensenten Wendte unbefriedigend
sein muß läßt sich nachvollziehen. Schickler läßt
ihn an der entscheidenden Stelle buchstäblich im Regen stehen. Ob
dem letzteren mit einer dahingehenden aufklärenden Erläuterung
Schicklers ernstlich weitergeholfen wäre, so daß er es auch
hätte akzeptieren können, mag dahingestellt bleiben. Auf jeden
Fall aber kommt, wer philosophisch-empirischen Zugang zum Geistigen und
zur Christologie Steiners sucht, am intuitiven Denken und dessen Verständnis
nicht vorbei.
Mit den schlechten anthroposophischen Ratgebern meine
ich sowohl einzelne Lehrerpersönlichkeiten, als auch den anthroposophischen
Forschungskontext im allgemeinen, so wie er oben kritisch skizziert wurde.
Wovon ich mich selbst übrigens nicht ausnehme. (Man müßte
hier den soziokulturellen und nichtwissenschaftlichen bildungsbiographischen
Kontext, auch den informellen bildungsbiographischen Kontext eigentlich
mit einbeziehen.)
Es ist unrealistisch zu glauben, ein junger Mann von anfang
20 mit großer philosophischer Begabung sei imstande, alles das, was
anthroposophische Forschung im Verlauf vieler Jahrzehnte versäumt
und vernachlässigt hat, in vier oder fünf Jahren im Alleingang
zu bewältigen. Daß das nicht klappt, dafür kann man die
jungen Menschen nicht verantwortlich machen. Die jungen Leute, auch wenn
sie noch so talentiert sein mögen, ob Doktorranden oder Diplomanden,
müssen geradezu mit einer gewissen Zwangsläufigkeit an
den anthroposophischen Fragen scheitern, wenn ihnen nicht entsprechend
ernsthaft von anderer Seite zugearbeitet wird. Oder um das ganze wenigstens
perspektivisch noch einmal ins Positive zu wenden, so kann man sich angesichts
Schicklers Leistung dort die Frage stellen: Was wäre einem
talentierten jungen Menschen möglich, wenn die philosophisch-anthroposophische
Grundlagenforschung einen ähnlich hohen Reifegrad hätte wie die
Kant- oder Hegelforschung? So daß er nicht nur scharfsinnige und
weitreichende Fragen stellen kann, sondern ihm das Forschungsumfeld auch
die (theoretischen, praktischen und menschenkundlichen) Mittel an die Hand
gibt, sie in realistischen Zeiträumen und mit vertretbarem Aufwand
einzulösen. Daß dies für den anthroposophischen Bereich
noch eine ganz andere Herausforderung darstellt als es etwa für Kant
oder Hegel gilt ist klar. Aber wo, wenn nicht dort, sollte diese Zukunftsaufgabe
überhaupt realisiert werden?
Schickler sagt auf S. 22, seine Ausführungen über
Steiner seien "mehr als alles andere eine Einführung". Das
erklärt in mancher Hinsicht die Kürze und Flüchtigkeit seiner
unmittelbar auf Steiner gewendeten Gedankengänge. Es zeigt aber auch,
daß seine hoch angesetzte Programmatik aus dem Vorwort von S. 7 spätestens
bei den philosophischen Aspekten Steiners ins Stocken geraten ist und gar
nicht mehr eingelöst werden konnte, sondern vorsichtig ausgedrückt:
im besten Sinne Vision bleiben mußte. Er verheddert sich wie so viele
andere vor ihm schon in Steiners philosophischen Schriften und findet,
abgesehen von einigen guten grundsätzlichen Gedankengängen den
Faden zur Anthroposophie nicht, so daß er ihn fruchtbringend weiter
freilegen könnte. Diese Methode, daß jeder für sich das
Rad immer wieder neu zu erfinden sucht und mehr oder weniger ratlos in
Steiners Philosophie herumzustochert, bis er mit etwas Glück den einen
oder anderen brauchbaren Brocken aufgelesen hat, ist ineffizient und muß
am Ende zu unbefriedigenden Resultaten führen. (Soweit ich sehe zitiert
er keinen einzigen anthroposophischen Autoren im Kontext der Steinerschen
Frühschriften und gibt nur ein paar Literaturhinweise auf Witzenmann,
der aber auch nicht aufgegriffen wird.)
Daß Jonael Schickler beachtliches philosophisches
Talent hatte zeigt seine Behandlung von Kant und Hegel. Dort sind aber
auch die Bedingungen entsprechend, denn dort steht eine lange Tradition
der Forschung zur Verfügung, die Hilfe und Orientierung geben kann.
Während in der Anthroposophie bislang noch eine Kakophonie von Meinungen
herrscht, die vielfach nicht einmal nachvollziehbar belegt sind. Auch ein
großes Talent muß am Ende vertrocknen, wenn die Bedingungen
für seine Entfaltung nicht stimmen.
Einige zusätzliche Quellen: Rudolf Steiner vortragsweise
über das reine Denken als Hellsehen.
Siehe GA-146, Vortr. Helsingfors , 29. Mai 1913, S.
33 ff:
"Auf logisches Denken, auf Denken in Abstraktionen
weist gewissermaßen als auf etwas Neues hin, was jetzt erst in die
Menschheit eintreten soll, Krishna den Arjuna hin. Aber dieses Denken,
das der Mensch so entwickelt, dieses Denken, das nimmt man zwar heute als
etwas ganz Natürliches, aber man hat die schiefesten, unnatürlichsten
Ansichten über dieses Denken. Und gerade die westländischen Philosophen
haben über dieses Denken die allerschiefsten Anschauungen, denn man
hält gewöhnlich dieses Denken für eine bloße Photographie
der äußeren sinnlichen Wirklichkeit, man glaubt, die Begriffe,
Ideen entstehen im Menschen, dieses ganze innere Denken überhaupt
entstehe im Menschen von der physischen Außenwelt herein." (S.
33f) [...] " Hier komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der ganz
und gar wichtig ist gerade für diejenigen, die mit der eigenen Seele
eine okkulte Entwickelung durchmachen wollen. ... So ist es nämlich,
wenn auch nicht mit dem Goldmachen, so ist es mit dem Hellsehen. Kein Mensch
könnte eigentlich zu wirklichem Hellsehen kommen, wenn er nicht zunächst
ein Winziges an Hellsehen in der Seele hätte. Wenn es wahr wäre,
was ein allgemeiner Glaube ist, daß die Menschen, wie sie sind, nicht
hellsichtig seien, dann könnten sie überhaupt nicht hellsichtig
werden. Denn wie der Alchimist meint, daß man etwas Gold haben muß,
um viele Mengen Goldes hervorzuzaubern, so muß man unbedingt etwas
hellsehend schon sein, damit man dieses Hellsehen immer weiter und weiter
bis ins Unbegrenzte hinein ausbilden kann." [...] "Es gibt wirklich
keinen unter Ihnen, der nicht - wenn er sich dessen auch nicht bewußt
ist - diesen Ausgangspunkt hätte. Sie haben ihn alle. Keiner von Ihnen
ist in der Not, weil Sie alle ein gewisses Quantum Hellsehen haben. Und
was ist dieses Quantum? Das ist dasjenige, was gewöhnlich gar nicht
als Hellsehen geschätzt wird." [...] "Niemand könnte
abstrakt denken, wirkliche Gedanken und Ideen haben, wenn er nicht hellsichtig
wäre, denn in den gewöhnlichen Gedanken und Ideen ist die Perle
der Hellsichtigkeit von allem Anfang an. Diese Gedanken und Ideen entstehen
genau durch denselben Prozeß der Seele, durch den die höchsten
Kräfte entstehen. Und es ist ungeheuer wichtig, daß man zunächst
verstehen lernt, daß der Anfang der Hellsichtigkeit etwas ganz alltägliches
eigentlich ist: man muß nur die übersinnliche Natur der Begriffe
und Ideen erfassen. Man muß sich klar sein, daß aus den übersinnlichen
Welten die Begriffe und Ideen zu uns kommen, dann erst sieht man recht.
Wenn ich Ihnen erzähle von Geistern der höheren Hierarchien,
von den Seraphim, Cherubim, von den Thronen herunter bis zu den Archangeloi
und Angeloi, so sind das Wesenheiten, die aus geistigen, höheren Welten
zu der Menschenseele sprechen müssen. Aus eben diesen Welten kommen
der Seele die Ideen und Begriffe, sie kommen geradezu in die Seele aus
höheren Welten herein und nicht aus der Sinnenwelt." [...] "Es
wurde als ein großes Wort eines großen Aufklärers gehalten,
das dieser gesagt hat im 18. Jahrhundert: Mensch, erkühne dich, deiner
Vernunft dich zu bedienen. - Heute muß ein größeres Wort
in die Seelen klingen, das heißt: Mensch erkühne dich, deine
Begriffe und Ideen als die Anfänge deines Hellsehertums anzusprechen.
- Das, was ich jetzt ausgesprochen habe, habe ich schon vor vielen Jahren
ausgesprochen, ausgesprochen in aller Öffentlichkeit, nämlich
in meinen Büchern <<Wahrheit und Wissenschaft>> und <<Philosophie
der Freiheit>>, wo ich gezeigt habe, daß die menschlichen Ideen
aus übersinnlichem, geistigen Erkennen kommen. Man hat es dazumal
nicht verstanden; das ist ja auch kein Wunder, denn diejenigen, die es
hätten verstehen sollen, die gehörten, nun ja, halt zu den Hühnern"
(34 ff)
Siehe GA 255b, Vortr. Stuttgart, 25. Mai 1923, S. 295
ff:
"Und nun, was mir vor allen Dingen die Möglichkeit
bot, eine solche Brücke zu finden, das war zunächst nicht das
Hinschauen auf innere, subjektive Schauungen; das war mir vom Anfange an
klar geworden. Sollten subjektive Schauungen noch so überzeugend,
noch so intensiv vor der Seele auftreten, man hat keine Berechtigung, sie
irgendwie, durch ihr subjektives Auftreten veranlaßt, zur objektiven
Geltung zu bringen, wenn man nicht in der Lage ist, aus dem naturwissenschaftlich
Sicheren heraus die Brücke hinüber zu geistigen Welt zu schlagen."
(S. 298) [...] "Wer nun meine <<Philosophie der Freiheit>>
durchliest, wird finden, wie diese Wege zur Ergründung der Natur des
menschlichen Denkens gesucht worden sind. Und für mich stellte es
sich heraus, daß nur derjenige das menschliche Denken richtig verstehen
könne, welcher in den höchsten Äußerungen dieses Denkens
etwas sieht, das sich unabhängig von unserer Körperlichkeit,
von unserer leiblichen Organisation vollzieht. Und ich glaube, es gelang
mir nachzuweisen, daß die Vorgänge des reinen Denkens im Menschen
sich unabhängig von den leiblichen Vorgängen vollziehen. ...
Und ich glaube, daß sich mir durch diese <<Philosophie der
Freiheit>> nichts Geringeres ergeben hat als die übersinnliche
Natur des reinen Denkens. Und hatte man diese übersinnliche Natur
des menschlichen Denkens erkannt, dann war damit der Beweis geliefert,
daß der Mensch im gewöhnlichsten Alltagsleben, wenn er sich
nur erhebt zum wirklichen Denken, durch das er durch nichts anderes als
durch die Motive des Denkens selbst bestimmt wird, daß er dann ein
übersinnliches Element in diesem Denken vor sich hat." (S. 299
f) [...] " Wer dasjenige, was ich als Forschungsmethode meiner anthroposophischen
Geisteswissenschaft zugrunde lege, Hellsehen nennt, der muß auch
schon das gewöhnliche reine Denken, das durchaus aus dem Alltagsleben
heraufströmt in das menschliche Bewußtsein, das hineinströmt
in das menschliche Handeln, Hellsehen nennen. Ich selber sehe qualitativ
keinen Unterschied zwischen dem reinen Denken und demjenigen, was ich als
Hellsehen bezeichne. ... Dann aber, wenn man den Vorgang kennt, durch den
man zu solchem reinen Denken kommt, kann durch das, was wahre tiefergehende
Philosophie gibt, etwas ausgebildet werden, was ich dann in der verschiedensten
Weise als Erkenntnismethode für die höheren Welten dargestellt
habe in meinem Buch << Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren
Welten?>> und in meiner <<Geheimwissenschaft>>. Geradeso,
wie aus den gewöhnlichen Alltagsbetätigungen der menschlichen
Seele zuletzt das reine Denken hervorgeht, zu dem man keine besondere Schulung
braucht, kann man, wenn man diesen Vorgang weiter ausbildet, zu dem kommen,
was ich in dem genannten Buch und im zweiten Teil meiner <<Geheimwissenschaft>>
die Stufen der höheren Erkenntnis - also Imagination, Inspiration,
Intuition - genannt habe. Was sich im reinen Denken äußert,
das wird uns Menschen einfach eigen dadurch, daß wir geboren sind;
es ist uns in unserem jetzigen Stadium der Menschheitsentwicklung vererbt."
(S. 300 f) |
Und um ein weiteres Argument betreff Klärung des intuitiven
Denkens anzuführen, so gilt: Nur auf der Grundlage dieses Verstehens sind
echte, fundierte Brückenschläge möglich zu anderen philosophischen
Ansätzen. Und zwar in erkenntnistheoretischer, freiheitsphilosophischer und
mehr bewußtseinsphänomenologischer, ja sogar in physikalisch-naturphilosophischer
Richtung. Nicht nur um argumentativ die eigene Auffassung verteidigen zu können,
sondern auch und vor allem um Verwandtschaften zu erkennen und eventuell gemeinsam
weiterführende Fragestellungen zu formulieren, ist ein solches Verständnis
unerläßlich. Bei Lichte besehen ist das Thema intuitives Denken
eines der spannendsten, aussichtsreichsten, ergiebigsten, vielschichtigsten und
zukunftsfähigsten überhaupt für eine Dissertation mit anthroposophischem
Hintergrund und gibt genügend Stoff her für mindestens sieben von einander
unabhängige wissenschaftliche Arbeiten dieser Art. - Tatsächlich sogar
weit mehr, weil man es in jede Richtung nahezu unbegrenzt weiter entfalten kann.
Das liegt einfach mit daran, weil sich im intuitiven Denken alles mit essentiellen
Fragestellungen trifft: Erkenntnistheorie, Anthroposophie, Freiheitsphilosophie,
Psychologie, Bewußtseinsphänomenologie, Naturphilosophie, Medizin, Biologie,
Physik und im engeren Sinne Quantenphysik, und letztlich auch die Theologie.
Nichtanthroposophische Forschung zum intuitiven
Denken
Was die Erkenntnis des Denkens im engeren Sinne angeht, so gilt:
Das intuitive Denken ist ja zunächst eine Eigenschaft oder ein Vermögen
des ganz normalen erkennenden Bewußtseins. Was die Frage einer Bewußtseinsphänomenologie
des intuitiven Denken betrifft, so liegt hier - abgesehen von seinen epistemologischen
Betrachtungen, die ja ausschließlich Grundsatzuntersuchungen darstellen -
nur sehr wenig Material von Steiner selbst vor, das diesen normalbewußten
Bereich abdeckt. Das gesamte bewußtseinsphänomenologische Areal zwischen
Epistemologie und höherer Erkenntnis im eigentlichen Sinne ist von ihm nahezu
völlig unbearbeitet.
Allerdings gibt es von Steiner in der Schrift Von Seelenrätseln
(GA-21, 1976, S. 170 f), die einiges in dieser Beziehung enthält, den ausdrücklich
geäußerten Wunsch, in einem psychologischen Laboratorium arbeiten zu
können, um zu zeigen, wie das gewöhnliche Bewußtsein bereits zum
Schauen veranlagt ist. Das heißt, er zielt hier exakt auf dieses unbearbeitete
Areal hin. Damit, so Steiner dort, sei es sogar möglich, "... die
beste Grundlage [zu] schaffen zu anthropologisch-psychologischen Ergebnissen,
die bis an die «Erkenntnis-Grenzorte» gehen, an denen sich Anthropologie
mit Anthroposophie treffen muß ...". Nun sind aber all die Erscheinungsformen
des intuitiven Denkens im normalen Bewußtsein bereits Ausdrucksformen
dieser Veranlagung zum Schauen und entsprechend an diesem "Treffpunkt"
bzw "Grenzort" anzusiedeln, wo sich Anthroposophie und Anthropologie
Steiners Worten zufolge treffen müssen. Denn das reine Denken - ich
habe es schon wiederholt im Rahmen der hier veröffentlichten Arbeiten gesagt
- ist für Steiner bereits eine Form des schauenden Bewußtseins.
(Siehe GA-35, Dornach 1984, S. 321 : "Meine früheren Schriften behandeln
das reine Denken so, daß ersichtlich ist, ich zähle dieses durchaus
zu den Verrichtungen des «schauenden Bewußtseins». Ich sehe in
diesem reinen Denken die erste, noch schattenhafte Offenbarung der geistigen Erkenntnisstufen."
) Deswegen erfüllt die Untersuchung des erkennenden Normalbewußtseins
einen wichtigen Zwischenschritt zur weiteren Erkenntnis des Denkens; sowohl was
die Begriffsbildung bezüglich dieses intuitiven Denkbewußtseins
und in ihm veranlagte Möglichkeiten angeht - und auch im Hinblick auf eine
Brückenbildung zwischen Anthroposophie und Anthropologie. (Man sollte sich
den Steinerschen Ausdruck "beste Grundlage" wahrlich auf der Zunge
zergehen lassen.)
Es ist daher gut zu wissen, daß es in den auf dieser Homepage
immer wieder vorgestellten denkpsychologischen Untersuchungen Karl Bühlers
um eine experimentelle Erhellung des normalbewußten intuitiven Denkens
ging - oder in Steiners Ausdrucksweise: der "schattenhaften Offenbarung der
geistigen Erkenntnisstufen". Nicht nur das, sondern es ging mehr noch um eine
Untersuchung des intuitiv erlebten Denkens. Denn das Erleben der Denkaktivität,
des Denkprozesses selbst, war eines der Hauptziele der Untersuchung. Das leuchtet
unmittelbar ein, wenn man sich vorstellt, daß einem Untersuchungsteilnehmer
(dem Philosophie- und Psychologieprofessor Oswald Külpe) etwa die Frage vorgelegt
wurde, ob es möglich sei, mit dem Denken das Wesen des Denkens zu klären,
und ihn der Versuchsleiter aufforderte zu berichten, was er bei der denkenden Entscheidung
dieser Frage erlebt hat. Es ist dieselbe (Schlüssel)Frage, die unter anderem
in der Philosophie der Freiheit im dritten Kapitel verhandelt wird. Külpe
berichtet also über Erlebnisse, die er beim intuitiven Denken (in diesem
Fall beim reinen, mehr noch: beim sich selbst erkennenden Denken) hat. Und
in diesem Sinne ist die ganze Bühlersche Untersuchung auch mit anderen Teilnehmern
und auch mit davon abweichenden Formen des intuitiven Denkens eingerichtet.
- Das mag manchmal dort - schließlich war es eine Pioniertat der Würzburger
- im einzelnen noch unbeholfen und unausgereift aussehen. Aber es geht in diesen
Untersuchungen alles in allem um das erlebte intuitive Denken in
seinen verschiedenen normalbewußten Erscheinungsformen!
Wer also konkretes Anschauungsmaterial und sinnvolle weiterführende
Fragestellungen zum normalbewußten intuitiven Denken sucht, der wird
bei Steiner nicht viel finden über das hinaus, was in den erkenntnistheoretischen
Grundschriften und in der Schrift Von Seelenrätseln vorhanden ist,
weil Steiner sich darüber kaum weiter ausgelassen hat. Er muß bei Bühler
in den erwähnten Untersuchungen nachsehen. Dazu kann er sich weiter an Problemstellungen
entlangarbeiten, wie sie etwa im sachlichen Umfeld von Hönigswald oder
Palágyi, aufgeworfen wurden. (Siehe: Richard Hönigswald,
Prinzipienfragen der Denkpsychologie, Berlin 1913. Siehe auch: Melchior
Palágyi, Der Streit der Psychologisten und Formalisten in der modernen Logik,
Leipzig 1902.) Das dann vom Anthroposophischen her zu beleuchten und zu problematisieren
entspräche einer Arbeit, wie sie an dem von Steiner genannten Treffpunkt von
Anthroposophie und Anthropologie stattfinden könnte. Nur muß man eben
wissen, daß es bei besagten Forschern überhaupt um das intuitive
Denken geht. Diese bedeutsame Tatsache, daß andere, nichtanthroposophische
Forscher längst dabei sind oder waren das intuitive Denken näher
zu untersuchen, aber fällt aus dem anthroposophischen Explorationsraster völlig
heraus, wenn man hier keine Vorstellung davon hat, was das intuitive Denken
ist und ihm nur exotisch-esoterische Eigenschaften anheftet - man möchte besser
sagen: andichtet. Dann ist man unfähig Brücken dieser Art zu bauen
und weitergehende interdisziplinäre Forschung zu treiben, weil man keine Ahnung
hat, wonach man überhaupt suchen soll und logischerweise auch nicht wo
man interdisziplinär in anderen Forschungsbezirken hinsehen soll. Das heißt:
Die Unklarheit über das intuitive Denken führt direkt zur wissenschaftlichen
Blindheit und Orientierungslosigkeit in dieser wichtigen Frage. Genau so, wie sie
zur (nicht nur) interdisziplinären Lähmung in bezug auf die Freiheitsfrage
führt. Und genau das kennzeichnet in Bezug auf das intuitive Denken
die gegenwärtige Lage der anthropsophischen Bewegung. Vor lauter Wirrwarr,
so mein gelegentlicher Eindruck, weiß man weder was, noch wo
man nachschauen soll! Statt sinnvollen Fragestellungen nachzugehen produziert man
oft genug literarische Geisterbilder und jagt Chimären nach.
III.
Ein kurzer Blick auf Peter Bieri und Karl Popper
Einmal ganz unabhängig von Steiner
bemerkt: Es gibt einen mehr als guten Grund, nach der Freiheit des eigenen Denkens
und Erkennens zu fragen. Das wird uns deutlich werden, wenn wir uns Bieris Auffassung
ansehen, die dieser Frage aus dem Wege geht, und uns die Konsequenzen dieses Vermeidungsverhalten
vor Augen führen.
Auch bei Bieri führt die Freiheitsfrage zunächst zu
Erkenntnisfragen, im engeren Sinne zur Frage der Selbsterkenntnis und Klärung
der eigenen Handlungsmotive. Doch dann finden wir bei ihm (S. 409 f) einen eigentümlichen
Abbruch des Untersuchungsverfahrens, der gewaltsam und sachlich wenig schlüssig
erscheint. Bieri schreibt dort: "Es gibt in jedem Moment, wo ich nach der
Freiheit meines Willens frage, ein Stück inneres Terrain, das nicht Thema
dieser Frage sein kann. Und das ist kein bedauerliches Defizit, kein beklagenswerter
blinder Fleck, sondern eine Voraussetzung dafür, daß die Frage nach
der Freiheit überhaupt in Gang kommen und einen Sinn haben kann. Während
ich artikulierend, verstehend und bewertend damit beschäftigt bin, meinen
Willen zu modellieren, stellt sich die Frage nach der Freiheit dieser Beschäftigung
nicht. Und das ist nicht deshalb so, weil ich, engagiert in der Beschäftigung,
einfach keine Zeit hätte, sie zu stellen. Es ergäbe keinen Sinn,
sie zu stellen, denn die aneignende Beschäftigung bildet den Rahmen
für das Stellen jeder solchen Frage."
Nennen wir die "aneignende Beschäftigung" mit den
Motiven des eigenen Handelns ein Erkennen dieser Motive, beziehungsweise
mit Peter Bieri "Selbsterkenntnis", so lautet das Urteil Bieris: Die
Frage nach der Freiheit der erkennenden Beschäftigung mit den eigenen Handlungsmotiven
ergibt keinen Sinn! Sein Hinweis, daß es sich ja um eine Rahmenbildung handele,
die es erst möglich mache, die Freiheitsfrage zu stellen, und daher die Freiheitsfrage
darauf nicht anwendbar sei, scheint mir argumentativ wenig überzeugend. Und
zwar deswegen, weil es keinen vernünftigen Grund gibt, das eigene Erkennen
von der Freiheitsfrage auszunehmen. Ganz im Gegenteil: Sollte sich nämlich
herausstellen, daß dieses Erkennen selbst schon durchgängig kausal determiniert
ist, was ja der Physikalist aus triftigem Anlaß behauptet. - Etwa dahingehend,
daß sämtliche mentalen Vorgänge einschließlich Erkenntnisprozeß
ausnahmslos durch hirnorganische Prozesse bestimmt, nur Epiphänomene der Hirnphysiologie
sind, denn wäre dies nicht so, dann müßte man ja das ganze physikalische
Weltbild in Frage stellen. 1)
- Dann würde uns die Erkenntnis der eigenen Handlungsmotive nicht ein Haar
breit in Richtung Freiheit voranbringen, weil sich diese Erkenntnis selbst mit
Naturnotwendigkeit vollziehen muß. Ob wir unsere Motive nun kennen
oder auch nicht, das alles spielte nicht die geringste Rolle, weil, was wir tun,
ob erkennend oder handelnd, im Grunde nicht getan wird, sondern sich vollzieht,
gemäß dem Gesetz der Kausalität. Nicht wir sind die
Täter, sondern die Chemie unseres Gehirns, die Vorgänge des Stoffwechsels
und die physikalischen Verhältnisse unserer Umgebung. Erkenntnisgeleitete
Steuerung oder Veränderung von Handlungen verdanken diese ihre scheinbare
Steuerung dann ebensowenig unserem Erkennen, sondern vollziehen sich in Wirklichkeit
mit derselben Naturnotwendigkeit, wie unser Erkennen selbst. Der Steuermann sitzt
nicht am Steuer sondern hinter einer wirkungslosen Spielzeugattrappe wie der Bub
im Kinder-Spielmobil, der sich an der Illusion freut die Richtung vorzugeben, während
die Mutter ihn schiebt wohin es ihr beliebt. Das derart entstandene Freiheitsbewußtsein
wäre lediglich ein Scheingebilde. Wir gaukeln uns nur eine Art von Freiheit
vor und lügen uns etwas in die Tasche.
Weil wir im Erkennen erst einen Rahmen bilden, in dem die Freiheitsfrage
gestellt wird, deswegen ist das Erkennen nicht etwa von der Freiheitsfrage auszunehmen,
sondern mit absolutem Vorrang auf seine Freiheit hin zu prüfen. Denn wenn
das Erkennen selbst schon durchgängig kausal determiniert sein sollte, dann
können wir das Stellen jeder weiteren Freiheitsfrage getrost vergessen. 2)
Die Frage (physiologischer) Determinismus oder Freiheit im Erkenntnisvorgang
ist also alles andere als eine sinnlose Frage. Sie ist ein, wenn nicht sogar der
Dreh- und Angelpunkt des ganzen Freiheitsproblems. Karl Popper sah in dieser Beziehung
etwas genauer hin als Bieri. Der Determinismus, schreibt Popper (Karl R. Popper,
Objektive Erkenntnis, Hamburg 1984, S. 232 ff) schließt logisch begründete
Einsicht aus, weil sich der Erkenntnisvorgang dann selbst mit Notwendigkeit vollzieht.
Und weil das so ist, gibt es für ihn auch keine Argumente, weder für
ihn, noch gegen ihn. Für den Determinismus gibt es überhaupt keine Argumente
mehr: "Denn nach dem Determinismus vertritt jemand irgendwelche Theorien -
etwa den Determinismus - wegen seiner bestimmten physikalischen Struktur (etwa
der seines Gehirns). Wir täuschen uns also (und sind dazu physikalisch vorherbestimmt),
wenn wir glauben, es gäbe so etwas wie Argumente oder Gründe, die uns
dazu bringen, den Determinismus zu akzeptieren. Oder mit anderen Worten, der physikalische
Determinismus ist eine Theorie, über die man, wenn sie wahr ist, nicht argumentieren
kann, denn sie muß alle unsere Reaktionen, auch das, was uns als auf Argumente
gegründete Überzeugung erscheint, auf rein physikalische Bedingungen
zurückführen. Rein physikalische Bedingungen, zu denen unsere physikalische
Umgebung gehört, veranlassen uns, zu sagen oder zu akzeptieren, was immer
wir sagen oder akzeptieren; ... Doch das bedeutet: Wenn wir glauben, wir hätten
eine Theorie wie den Determinismus wegen der logischen Kraft bestimmter Argumente
angenommen, dann täuschen wir uns gemäß der Theorie des physikalischen
Determinismus; oder genauer: Wir befinden uns in einem physikalischen Zustand,
der uns dazu bestimmt, uns zu täuschen." (Siehe hierzu auch Popper/Eccles,
Das Ich und sein Gehirn, München 1982, S. 105; S. 641, Anm 3)
Eben dieser Täuschung unterliegt bei Gültigkeit des
Determinismus der Erkenner seiner Handlungsmotive, wenn er annimmt, er habe sich
durch sachliche bzw logische Gründe vom Vorhandensein bestimmter Handlungsmotive
überzeugt. Falls der Determinismus Recht hat, dann befindet er sich lediglich
in einem physikalischen Zustand, der ihn glauben macht, er habe so etwas wie logische
Gründe oder überzeugende Belege für seine Einsicht. Es ist nicht
die logische Kraft von Argumenten, sondern die kausale Kraft
seiner Hirnchemie, die ihm dies vorgaukelt. Verhält sich unser Selbsterkenner
jetzt wie Peter Bieri und erklärt die Frage nach der Freiheit des Erkennens
zur sinnlosen Frage, dann wird er folglich niemals herausfinden, ob er der Freiheit
durch die sogenannte Selbsterkenntnis tatsächlich näher kommt oder nicht.
Es könnte durchaus sein, daß der Determinismus Unrecht hat und uns die
Selbsterkenntnis der Freiheit schrittweise näher bringt. Aber Bieri wird es
nie mit Bestimmtheit behaupten können, sondern allenfalls eine nicht begründete
Glaubensüberzeugung hegen.
Es kann, wenn man Poppers Argumentation folgt, in Wirklichkeit
in einem komplett kausal-deterministisch bestimmten Bewußtsein nichts dergleichen
geben wie logische Beweise, Plausibilisierungen, sachliche Begründungen, und
im echten Sinne wirksame Erörterungen über das Für und Wider einer
Auffassung. Das alles sind nur Vorspiegelungen oder Täuschungen seitens Vorgängen,
die tatsächlich streng nach kausaler Gesetzmäßigkeit verlaufen
und keinen Raum mehr lassen für logisch verankerte Reflexionen aller Art.
Von der anderen Seite gesehen: Läßt man logisch begründete und
orientierte Bewußtseinsvorgänge zu - und das tut letztlich jede seriöse
Wissenschaft - dann muß man implizit dem Bewußtsein - speziell dem
Denkbewußtsein - einen Grad an Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber
den kausalen Vorgängen des Organismus einräumen.
Übrigens gilt dieses Poppersche Argument spiegelbildlich
auch gegenüber der geistigen Welt. Popper selbst hat hier nur die
physikalisch-materielle Welt vor Augen. Man könnte infolgedessen zu
der irrigen Auffassung gelangen, gegenüber der geistigen Welt stelle
sich die Freiheitsfrage nicht, weil der Mensch als geistiges Wesen per
se frei sei. Ein strenger Spiritualist könnte demgegenüber die
Ansicht vertreten, daß der Mensch von geistigen Mächten in allem
was er tut und denkt abhängig und gesteuert sei. Er sähe nur
eben die Silberfäden nicht, an denen er wie eine Marionette von Geistwesen
gelenkt und manipuliert werde. In Wirklichkeit aber sei der Mensch der
geistigen Welt vollkommen ausgeliefert und von dieser Seite alles andere
als frei. Er sei zwar nicht physisch determiniert, weil es die physische
Welt in Wirklichkeit ja gar nicht gibt. Nichts desto trotz sei er durchgängig
der Macht und Willkür Gottes oder etwaiger anderer bedeutender Geistwesen
unterstellt. Man könnte dies einen fatalistischen Spiritualismus,einen
spirituellen Fatalismus, oder vielleicht besser: einen spirituellen Determinismus
nennen. (So könnte etwa ein Anthroposoph die Überzeugung vertreten,
der Mensch sei zwar in seinem Erkennen nicht physiologisch-physikalisch
determiniert, wohl aber karmisch. Und in allen seinen Gedankenoperationen
zeige sich nichts weiter als die Abfolge und Wirksamkeit unentrinnbarer
karmischer Notwendigkeit. )
*
Übrigens hat Steiner schon in der Vorrede zur Zweitausgabe
von 1918 die Problematik so weit und allgemein gefasst, dass in der Philosophie
der Freiheit nicht etwa nur an Freiheit gegenüber den kausalen
Naturmächten gedacht ist, sondern auch gegenüber geistigen
Mächten. So lautet seine zweite der dort behandelten Wurzelfragen:
"Die andere Frage ist die: Darf sich der Mensch als wollendes Wesen
die Freiheit zuschreiben, oder ist diese Freiheit eine bloße Illusion,
die in ihm entsteht, weil er die Fäden der Notwendigkeit nicht durchschaut,
an denen sein Wollen ebenso hängt wie ein Naturgeschehen?" (PdF.,a.a.O.,
S. 7) Es geht hier, wie zu erkennen ist, nicht nur um Freiheit gegenüber
einer wie immer gearteten Naturkausalität respektive -notwendigkeit.
Sondern um Freiheit im Gegensatz zu Notwendigkeit überhaupt. Der entscheidende
Passus lautet: " ... wie ein Naturgeschehen?" Es geht um Determination
jedweder Art: Das an den Fäden der Notwendigkeit hängende Naturgeschehen
ist hier lediglich als Vergleichspunkt und exemplarisches Beispiel gemeint
für etwas an den Fäden der Notwendigkeit Hängendes. Im Prinzip
aber könnte es sich ebensogut um geistige oder seelische Notwendigkeiten
handeln, an denen das Wollen hängen kann. Der von Steiner verwendete
Begriff der Notwendigkeit ist in diese Richtung völlig offen.
Steiner macht hier keine Einschränkung, in welchem Sinne Notwendigkeit
hier zu sehen ist. Naturhafte, seelische und eben auch geistige Notwendigkeit
sind gleichermassen darunter zu fassen.
Ich erwähne diesen letzteren Sachverhalt hier vor
allem im Hinblick auf Hartmut Traubs Buch Philosophie und Anthroposophie,
Stuttgart 2011. Speziell im Hinblick auf die dort (S 268 ff) geäusserten
erheblichen Bedenken Traubs an Steiners Spinozakritik von S 17 ff der
Philosophie der Freiheit.
Es sticht ja in der von Steiner zitierten Briefpassage
Spinozas ins Auge, dass diese gewissermassen beginnt mit einer Vergesellschaftung
der Begriffe von Freiheit und Notwendigkeit. So zitiert Steiner
Spinoza eingangs: "«Ich nenne nämlich die Sache frei, die
aus der bloßen Notwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt, und
gezwungen nenne ich die, welche von etwas anderem zum Dasein und Wirken
in genauer und fester Weise bestimmt wird. So besteht zum Beispiel Gott,
obgleich notwendig, doch frei, weil er nur aus der Notwendigkeit seiner
Natur allein besteht. Ebenso erkennt Gott sich selbst und alles andere
frei, weil es aus der Notwendigkeit seiner Natur allein folgt, daß
er alles erkennt. Sie sehen also, daß ich die Freiheit nicht in ein
freies Beschließen, sondern in eine freie Notwendigkeit setze.»
An dieser eigentümlichen Gemengelage von Freiheit und Notwendigkeit
ändert sich auch in Spinozas Ethik nichts, die Traub in seiner
Kritik als Referenz anführt. Und eine solche Position - das lässt
sich hier zunächst nur allgemein und ungeschützt sagen, müsste
aber eingehender belegt und demonstriert werden - ist für Steiner
völlig unvertretbar. Dass Spinoza, wie Traub mit Recht zeigt, natürlich
auch von den einsehbaren Vernunftgründen des menschlichen Handelns
spricht, und damit die Freiheit auch mit der menschlichen Erkenntnistätigkeit
verknüpft, ändert an dieser grundsätzlich widersprüchlichen
Sachlage nichts. Denn eine Frage wäre ja in Anlehnung an Popper
oben zu stellen: folgt die menschliche Erkenntnistätigkeit im Sinne
Spinozas nicht a priori wieder nur einer unsichtbaren (geistigen) Notwendigkeit?
Im Sinne Poppers wäre das eigentlich nicht denkbar. Und ich meine
im Sinne Steiners auch nicht. Und eine andere Frage ist die: Was versteht
eigentlich Spinoza unter einsehbaren Gründen und Erkenntnistätigkeit?
Aus der nominellen Verwandtschaft sprachlicher Formulierungen im Sinne
Traubs auf die Verwandtschaft der Erkenntnisbegriffe bei Steiner und Spinoza
zu folgern, scheint mir etwas reichlich kurz gegriffen. Bei Steiner geht
die Kernfrage der Freiheitsphilosophie nun gerade darauf, was der Ursprung
und die Bedeutung des Denkens ist (s. o.). Ein ernsthafter Vergleich mit
Spinoza müsste sich dann der Aufgabe zuwenden, ob dieser sich eine
vergleichbare Kernfrage stellt wie Steiner, und wie er sie einlöst.
Bei Traub ist, so weit ich sehe, darüber nichts zu erfahren. (Interessierte
Leser, die selbst einen solchen Vergleich anstellen wollen, darf ich zu
diesem Zweck an Spinozas Ethik verweisen. Siehe dort etwa in Teil
II (Von der Natur und dem Ursprung des Geistes) den Lehrsatz
40 ff. Dazu können sie sich parallel die Frage vorlegen, warum
Rudolf Steiner in Kapitel III der PdF so viel Wert legt auf die Beobachtung
des Denkens, respektive auf die Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung
des Denkens in Kap I, und was ihn methodisch in dieser Beziehung von Spinoza
unterscheidet. Wie zum Beispiel erkennt Spinoza das Erkennen
in der Ethik, Teil II, Lehrsatz 43; siehe auch Teil III, Lehrsatz
58, und welche Ansicht äussert Rudolf Steiner in dieser methodischen
Frage des Erkennens der Erkenntnis?)
Schliesslich auch: Ist eine auf der Grundlage moralischer
Phantasie und moralischer Intuitionen vollzogene Handlung, die ich vollziehe,
weil ich sie liebe (Steiner), deckungsgleich mit einer aus einsichtigen
Gründen vollzogenen Handlung, die ich vollbringe, weil ich gar nicht
anders kann (Spinoza)? Ob ein gewolltes Handeln aus einsichtigen
Gründen nach Spinoza überhaupt möglich ist, das wird unten
ebenfalls etwas zu betrachten sein.
Siehe zu Spinozas Ethik auch folgenden Link: http://gutenberg.spiegel.de/buch/5217/1
Ein Überblicksartikel zu Spinoza: http://www.kunstinfrankfurt.de/BaruchDeSpinozaLayout.html#oben
Es ist auch keineswegs so, wie Traub auf S. 271 f Steiner
unterstellt, nämlich dieser habe sich in seiner Spinozakritik "nahezu
ausschliesslich" auf die von Spinoza erwähnte illusionäre
Freiheit bezogen. Das ist durchaus nicht der Fall - man muss es nur sehen
(wollen). Und man sollte vor allen Dingen nicht Quantität (Textumfang
des Steinerschen Zitats) mit Qualität (ihrem argumentativem Gehalt)
verwechseln. Denn in dem von Steiner wiedergegebenen Brief Spinozas ist,
wie Traub selbst erwähnt, sogar eine Definition dessen vorhanden,
was Spinoza unter Freiheit versteht. Und zwar nicht nur, wie Traub schreibt,
eine exemplarische, erläuternde Definition der Freiheit anhand der
Wesenheit Gottes, sondern durchaus eine generelle Definition unabhängig
von dieser Gotteswesenheit. Und exakt mit dieser lässt Steiner
sein Spinozazitat auch beginnen mit den Worten Spinozas: "Ich nenne
nämlich die Sache frei, die aus der blossen Notwendigkeit ihrer Natur
besteht und handelt." (Nicht nur in dem von Steiner zitierten Brief,
sondern auch in Spinozas Ethik findet sich eine vergleichbare Formulierung
an ausgesprochen prominenter Stelle, nämlich gleich zu Beginn des
Buches in der Definition 7. Siehe dazu Spinozas Ethik in der lateinisch-deutschen
Studienausgabe des Felix Meiner Verlages, Hamburg 2010, dritte verbesserte
Auflage; S. 7 ) Exemplifiziert anhand der Wesenheit Gottes wird dies von
Spinoza erst im von Steiner ebenfalls zitierten Folgesatz des Briefes:
"So besteht zum Beispiel Gott, obgleich notwendig, doch frei, weil
er nur aus der Notwendigkeit seiner Natur allein besteht. Ebenso erkennt
Gott sich selbst und alles andere frei, weil es aus der Notwendigkeit seiner
Natur allein folgt, daß er alles erkennt. Sie sehen also, daß
ich die Freiheit nicht in ein freies Beschließen, sondern in eine
freie Notwendigkeit setze." Steiner ist da ersichtlich präziser
in der Textauffassung als sein Interpret Traub. Und es ist gewiss nicht
ohne Grund, dass Steiner mit eben dieser allgemeinen Definition Spinozas
beginnt und damit den qualitativ gewichtigsten Anteil von dessen Gedankengang
des Briefes an erster Stelle aufgreift. Er hätte ihn auch weglassen
können und wäre anders vorgegangen, wenn er sich nur am Aspekt
der illusionären Freiheit Spinozas hätte aufhalten wollen. Er
hat also ein deutliches Bewusstsein für die Gewichtung und Wertigkeit
der Argumente. "Argumentationsstrategisch", um ein häufiger
verwendetes Wort Traubs aufzunehmen, ein durchaus vernünftiges Unterfangen.
(Davon abgesehen wäre es wenig realitätsnah anzunehmen, dass
der Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften - Steiner
- so wenig über das Verhältnis Goethes zu seinem mannigfachen
philosophischen Inspirator Spinoza aufgeklärt ist und Spinozas Philosophie
so ungenügend kennt, dass er den Fehler begeht bei Spinoza die illusionäre
Freiheit mit der echten zu verwechseln. Siehe dazu Steiners zahlreiche
Erläuterungen zu Spinoza in Goethes Naturwissenschaftliche Schriften,
GA-1, Dornach 1987)
Also wird man mit guten Gründen unterstellen können,
dass Steiner sich in seinem abschliessenden Resüme dann ebenso auf
diese Definition der einleitenden Sätze mit bezieht, und nicht etwa
irrtümlich nur auf dasjenige, was bei Spinoza unter illusionärer
Freiheit firmiert, wie Traub behauptet. Für Traubs Vermutung besteht
gar kein Anlass. Denn warum sollte Steiner Spinozas Definition von
Freiheit in seiner abschliessenden kritischen Beurteilung ausser Acht lassen,
wenn er sie eigens an erster Stelle anführt? Interpretatorisch plausibel
ist diese Vermutung einer Vernachlässigung oder eines Übersehens
des schwerwiegendsten Argumentes durch Steiner nicht. Und dass er es mit
einbezieht ist bei Steiner auch ersichtlich, wenn er nach dem Ende des
Zitats (S. 18 f) ganz sachgemäss kritisiert: "So notwendig, wie
der Stein auf einen Anstoß hin eine bestimmte Bewegung ausführt,
ebenso notwendig soll der Mensch eine Handlung ausführen, wenn er
durch irgendeinen Grund dazu getrieben wird." Wohlgemerkt: "durch
irgendeinen Grund ... getrieben". Das können bei Beachtung der
Vollständigkeit des Steinerschen Zitats eben auch Vernunftgründe
sein, die im Sinne Spinozas notwendig zu Handlungen treiben. Womit
Steiner bis in die sprachliche Wendung hinein einen massgeblichen Kern
der spinozistischen Freiheitsphilosophie aufgenommen hat, nämlich
dessen Trieb- und Affektlehre, die bei all dem eine fundamentale Rolle
spielt. Wobei man als heutiger Zeitgenosse eigentlich nur staunt, auf welch
sonderbarem bewusstseinsphänomenologischen Boden Spinoza seine Urteils-
und Entscheidungspsychologie in diesem Kontext entwickelt.
Auf diesen zentralen Punkt jedenfalls - dem aus einer
mangelhaften Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens folgenden
geistigen Determinismus Spinozas mit einhergehendem Ich-Verlust - scheint
Steiner doch sein Augenmerk vor allen anderen Dingen zu richten. Siehe
dazu Spinozas Ethik, Teil I, Von Gott; ferner im Teil III.
die weitläufigen Anmerkungen zum Lehrsatz 2. Dort werden unter
anderem auch die Beispiele aus Steiners zitierter Briefstelle angeführt.
Und in ihren freiheitsphilosophischen Konsequenzen sind sie dort noch weitaus
prägnanter und aussagefähiger als die Formulierungen in Steiners
Zitat. Angesichts des beträchtlichen argumentativen Aufwandes von
Seiten Spinozas kann man sie wohl als eine empirische Schlüsselpassage
in seiner Philosophie betrachten. Man vergleiche mit Spinozas dortigen
Ausführungen einmal Steiners Kapitel III der Philosophie der Freiheit.
Man wird dann besser verstehen können, warum die Frage
nach dem Ursprung und der Bedeutung des Denkens für Steiner eine so
grosse Rolle spielt. Und warum es sehr sinnvoll ist, die von Spinoza vorgelegten
bewusstseinsphänomenologischen Beispiele zu prüfen. Was daran
ist realistisch, und was blosse, zum Teil doch sehr abwegige Hypothese,
Vermutung oder wirklichkeitsfremde theoretische oder metaphysische Konstruktion?
Ich denke, dass diese der Erfahrung entlehnten Argumente
Spinozas sehr viel zum Verständnis von seinem Determinismus beitragen
können, weil sie im Kontext der Frage stehen, ob und wie weit der
denkende Geist überhaupt in der Lage ist, auf den physischen Leib
Einfluss zu nehmen und ihn zu Handlungen oder Bewegungen zu veranlassen.
Und wie Beschlüsse zustande kommen und zu bewerten sind. (Letztere
Frage ist für Rudolf Steiner die Kernthematik seiner Philosophie
der Freiheit) Siehe zum Thema Beschlüsse die beiden Schlußsätze
Spinozas in den genannten Anmerkungen zu Lehrsatz 2. im Teil III
der Ethik: "Die erwähnten Entscheidungen des Geistes [zu
Handlungen, MM] entstehen im Geist mithin mit derselben Notwendigkeit,
wie die Ideen von wirklich existierenden Dingen. Wer also glaubt, er rede
oder schweige oder tue sonst etwas aus einer freien Entscheidung des Geistes,
der träumt mit offenen Augen." Hier geht es, das muss man hinzufügen,
nicht um illusionäre Freiheit, sondern die getroffenen Aussagen sind
ganz grundsätzlicher Natur und gelten für sämtliche Handlungen
respektive Entscheidungen. Zwar spricht Spinoza hier auch von geträumten
oder eingebildeten Entscheidungen, doch diese stellt er gewissermassen
auf eine Stufe mit den wachbewussten, weil das Nebeneinanderbestehen verschiedener
Entscheidungsbewusstheiten auf einen Widerspruch führen müsste,
wenn man die eine akzeptiert, die andere aber nicht. Da dies aber nicht
sein könne werden sie allesamt in das Gebiet der Notwendigkeiten verwiesen.
Die unterschiedlichen Qualitäten von geträumten und wachen Entscheidungen
scheinen ihm argumentativ, und das ist wirklich bemerkenswert, irrelevant.
Die Ethik Spinozas ist nicht gerade reich an bewusstseinsbezogenen
empirischen Belegen. Umso aufschlussreicher ist es zu beobachten, wie er
mit dem Wenigen verfährt, was er an bewusstseinsphänomenologischen
Grundtatsachen überhaupt beibringt.
Deswegen noch einmal das Zitat ausführlicher: "Wenn
wir aber träumen, daß wir sprechen, glauben wir auf Grund eines
freien Entschlusses des Geistes zu sprechen, und dennoch sprechen wir nicht,
oder wenn wir sprechen, so geschieht es auf Grund einer willkürlichen
Bewegung des Körpers. Uns träumt ferner, daß wir manches
den Menschen verhehlen, und zwar nach demselben Beschlusse des Geistes,
nach welchem wir wachend verschweigen, was wir wissen. Uns träumt
endlich, daß wir manches nach dem Beschlusse des Geistes tun, was
wir wachend nicht wagen, und deshalb möchte ich wohl wissen, ob es
im Geiste zwei Gattungen von Beschlüssen gebe, nämlich phantastische
und freie? Wenn wir nicht so weit im Unsinn gehen wollen, muß man
notwendig zugeben, daß dieser Beschluß des Geistes, den man
für frei hält, sich von der Vorstellung selbst oder Erinnerung
nicht unterscheidet und nichts anderes ist als jene Bejahung, welche die
Idee, sofern sie Idee ist, notwendig in sich schließt (siehe Lehrsatz
49, T. 2). Folglich entstehen diese Beschlüsse des Geistes nach derselben
Notwendigkeit im Geiste wie die Ideen der wirklich daseienden Dinge. Wer
also glaubt, daß er aus freiem Beschlusse des Geistes spreche oder
schweige, oder sonst etwas tue, träumt mit offenen Augen."
Wie wachbewusste Entscheidungen zustande kommen, welchen
Anteil ein selbstbewusstes Ich daran möglicherweise hat, und wie sich
qualitativ ein Traum vom wachen Bewusstsein abhebt - das alles interessiert
hier nicht. Spinoza räumt den augenfälligen Unterschied zwischen
geträumten und wachen Entscheidungen rigoros beiseite, setzt Traumphantasien
mit wachbewussten Beschlüssen qualitativ gleich und siedelt sie epistemologisch
und freiheitsphilosophisch auf dem selben Niveau an. Ganz offensichtlich
ist er, aus welchen Gründen auch immer, hier nicht in der Lage die
gewaltige Differenz zwischen geträumten und wachbewussten Entscheidungen
zu bemerken, zu bewerten und adaequat in seine Theorie der Entscheidungsbildung
einzubringen. Die Annahme, dass es tatsächlich zwei verschiedene "Gattungen
von Beschlüssen" geben könne, nämlich "phantastische"
(geträumte) und "freie" (wachbewusste), zwischen denen genetisch
gesehen Welten liegen, hält er stattdessen für "Unsinn".
Vorausgesetzt die Übersetzung aus dem Lateinischen
ist hier angemessen, dann erscheint der ganze Argumentationsgang mehr als
seltsam. Um nicht zu sagen so hochgradig abenteuerlich, dass die nächstgelegen
Frage eigentlich nur lauten kann: Was hindert ihn nur daran, die auf der
Hand liegende Verschiedenheit von wachen und geträumten Beschlüssen
zu sehen? Und möglicherweise zu erkennen, dass geträumte Beschlüsse
eben nur scheinbare sind und keine wirklichen, weil ihnen eigentlich alles
fehlt, was sie in irgend einem seriösen Sinn als "Beschlüsse"
ausweisen könnte - nämlich Wachheit des Bewusstseins, gedankliche
Kontrolle und das mehr oder weniger sorgfältige Abwägen von Gründen
und Gegengründen. - Es fehlt ihnen generell gesagt die Zurechnungsfähigkeit
des Beschliessenden. Der "Geist" hat eben im Traum nichts "beschlossen",
weil derjenige, der hätte beschliessen können - die Person oder
das Ich des Träumers - geistig abwesend war. Infolgedessen ist es
einigermassen verwegen zu glauben, geträumte und wache Beschlüsse
seien vergleichbar, oder gar dieselben, nach denen einmal dies,
und einmal das Gegenteil davon beschlossen werde. Der Träumer
erlebt nur ohnmächtig seine eigendynamischen Traumbilder und weiss
nicht, dass er träumt. Während der Wache sehr wohl weiss, dass
er wach ist, das Geschehen beeinflussen kann und die Beschlussbildung in
der Hand hat. Er weiss auch dass und wann er geträumt hat, während
der Träumende nicht weiss wann er wach war und wie sich das anfühlt.
Deswegen ist es auch wenig wahrscheinlich, dass der Träumer wirklich
glaubt "aus einem freien Beschlusse des Geistes zu sprechen".
Was Spinoza den entscheidenden Hinweis auf verschiedene
Gattungen hätte geben können, nämlich eine Untersuchung
der Bewusstseinsqualitäten und Genese von phantastischen und freien
Beschlüssen, das fegt er buchstäblich mit der folgenschweren
Bewertung "Unsinn" vom Tisch. Vielleicht hätte ihn, wenn
er noch weiter in diesem "Unsinn" gegangen wäre, eine nähere
Untersuchung von wachen Beschlüssen zu der Entdeckung geführt,
dass diese auch nicht von einheitlicher Art sind, und er wäre auf
eine dritte Gattung gestossen - nämlich innerhalb der wachen Beschlüsse
auf die potentiell freien. Da nun die Entscheidungsbildung im Wachbewusstsein
die Voraussetzung für ein angenommenes entscheidungsgeleitetes freies
Handeln bildet, leuchtet es ein, dass für Spinoza derjenige mit offenen
Augen träumen muss, der da glaubt, seine wachen Entscheidungen als
freie Beschlüsse zu fassen, da sich seine wachbewussten Entscheidungen
grundsätzlich ja nicht von den geträumten unterscheiden. Ich
betone noch einmal: Das Gesagte gilt in Spinozas Augen für sämtliche
Entscheidungen. Seien sie aus Vernunftgründen oder anderen erfolgt.
Oder wie sein Fazit lautet: "Folglich entstehen diese (geträumten
wie wachen, MM) Beschlüsse des Geistes nach derselben Notwendigkeit
im Geiste wie die Ideen der wirklich daseienden Dinge." Die Beschlüsse
des Geistes - und zwar wache wie geträumte - entstehen "nach
derselben Notwendigkeit". Das heisst: die Beschlussfindung und -bildung
ist generell und vollständig determiniert, und nichts davon ist in
des Menschen freies Vermögen gelegt. Entscheidungen und Beschlüsse
überkommen den Menschen und werden nicht aktiv gefasst beziehungsweise
herbeigeführt. Das Ich des Menschen beschliesst nichts, sondern
ist allenfalls Zuschauer eines Beschlussvorganges, der sich mit naturgesetzlicher
Notwendigkeit in ihm vollzieht. (Interessant ist es zu sehen, dass die
in der Steinerschen Briefstelle zitierten Beispiele Spinozas bei letzterem
wie auch hier mehrfach wiederkehren und durchaus auch eine exemplarische
Bedeutung innerhalb dessen Freiheitsdiskussion haben. Denn Spinozas Argumentation
im Lehrsatz 2 richtet sich gegen diese dort exemplifizierte naive
Freiheitsgläubigkeit. Dann ist es schon erhellend seiner hierzu entfalteten
empirischen Beweisführung zu folgen. Es ist ein offenkundiger
und weitgehend empirieferner philosophischer Rationalismus, den er hier
entfaltet, aber keine empiriegeleitete Philosophie)
Thematisch anders gelagert, aber argumentativ eingebettet
in die umfangreichen Anmerkungen zum Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik ist
die Frage, wie eigentlich das bewusste Denken mit dem Körper interagiert.
Zu dieser Frage äussert sich Spinoza, und zwar besonders eindeutig,
schon in dem vorangestellten kurzen, aber folgenreichen einleitenden Lehrsatz
2: "Der Körper kann den Geist nicht zum Denken bestimmen
und der Geist nicht den Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgend
etwas anderem (wenn es noch etwas anderes gibt.)"
Was eigentlich die biologische oder sonstige Grundlage
für entscheidungsgeleitetes Handeln ist, ist streng genommen bis heute
fast so unverstanden wie zu Spinozas Zeit und nach wie vor umstritten,
aber im allgemeinen wird die gewollte Interaktion zwischen Denken und Körper
als Faktum akzeptiert. Die Akzeptanz besteht inhaltlich in der Annahme,
der Mensch sei für seine Taten verantwortlich, weil er sie von der
Vernunft her organisieren, steuern und bewerten kann. Das heisst, man nimmt
an, seine bewussten leiblichen Äusserungen seien dem Einfluss seiner
Vernuft und seines Urteilsvermögens prinzipiell unterstellt. Worauf
diese Interaktion zwischen Denken und Handeln im physiologischen oder sonstigen
Sinne genau beruht und wie sie verläuft ist wie gesagt bis heute nicht
ernstlich geklärt, aber sie wird auf jeden Fall aus Evidenzgründen
unterstellt und vorausgesetzt. Es ist einfach evident, das wir willentlich
und gedankengesteuert zur Arbeit gehen, Englisch lernen oder dem Bedürftigen
einen kleinen Geldbetrag schenken. Auch wenn die genaue Wechselwirkung
zwischen Denken und Leibesäusserung wissenschaftlich noch im Dunkeln
liegt. Für Spinoza indessen ist es laut Lehrsatz 2 prinzipiell gar
nicht möglich, dass vom Denken her irgend ein handlungsbestimmender
Einfluss auf den Körper ausgeht, weil laut nachfolgendem Beweis
zu Lehrsatz 2 Körper nur durch andere Körper, aber
nicht durch Gedanken bewegt werden können: " ... die Bewegung
und Ruhe des Körpers muß durch einen anderen Körper entstehen,
welcher auch zur Bewegung oder Ruhe durch einen anderen bestimmt worden
ist...".
In den Anmerkungen zum Lehrsatz 2 wird dies, unter
stetigem Hinweis auf das Nichtwissen in diesen Dingen, teils mit recht
modern und naturwissenschaftlich anmutenden empirischen Belegen und Fragestellungen
flankiert, die demonstrieren sollen, dass menschliche Entscheidungen auf
Aktionen des Körpers ohne Einfluss sind. Darunter auch bewusstseinsphänomenologische:
Auf Erinnern und Vergessen habe der Mensch keinen Einfluss. - Was zu prüfen
wäre und nachweislich nicht der Fall ist, wie jeder ernsthafte Selbstversuch
zeigt. Dass es einen unbeeinflussbaren Erinnerungs- und Vergessensautomatismus
gibt kann nur behaupten, wer diesen Dingen nie gezielt im Selbstbeobachtungsexperiment
nachgegangen ist. Die unbeeinflussbare Erinnerung indessen ist für
Spinoza ein ganz ernst zu nehmendes und schwerwiegendes bewusstseinsphänomenologisches
Argument, um wache Beschlüsse mit geträumten gleichzusetzen.
Siehe seinen resümierenden Gedankengang oben. Die Vorgänge des
Bewusstseins ereignen sich eben, und wir können sie nur hinnehmen!
(Hier wird vorausgesetzt, dass Spinoza damals in seinem Bewusstsein vergleichbar
ebenso organisiert war wie wir. Die Möglichkeit, dass er seine Einflusslosigkeit
auf Erinnern und Vergessen tatsächlich auch so erlebt hat, wie er
sie beschreibt, und auch seine Beschlussbildung vielleicht den oben skizzierten
traumartigen Charakter hatte, besteht grundsätzlich auch noch. Dann
wäre sein Bewusstsein vor rund 400 Jahren qualitativ in einigem doch
sehr anders organisiert, als das gegenwärtig normalerweise der Fall
ist. Dieser interessanten Frage nach einem möglichen historischen
Bewusstseinswandel kann hier leider nicht nachgegangen werden.)
Erstaunlicherweise aber findet sich bei Spinoza auch der
generelle Hinweis darauf, dass der Körper allein eben zu vielem fähig
sei. Sogar kulturelle Grossleistungen wie Kirchbau und Kunstwerke hätten
danach ihren Ursprung nicht in denkerischen Entscheidungen und Entwürfen,
sondern vernunftunabhängig in den wahren Wunderleistungen des menschlichen
Leibes. Und zwar führt Spinoza das unter anderem aus im argumentativen
Rückgriff auf Schlafwandler, die gelegentlich bemerkenswerte Dinge
tun, worüber sie im wachen Zustand sehr verblüfft sind. Genialische
Tatsachen zeigen sich eben in der gesamten Natur, auch dort, wo vom Denken
keine Spur zu finden ist, weil die Natur so weise eingerichtet ist. Warum
sollten sie beim Menschen nicht durch die ebenfalls genialische aber ausschliesslich
organische Funktion des menschlichen Leibes zustande kommen? Es ist nach
Spinozas Auffassung ersichtlich realistischer anzunehmen, dass Kirchbauten
und Tempel nach demselben Prinzip entstehen wie die intelligenten Bauten
von Termiten, Spinnengewebe und Vogelfedern: Aus einer universellen Naturvernunft
heraus und nicht aus einer individuellen menschlichen. Es besteht weder
ein notwendiger Anlass vernunftvoll erscheinende menschliche Taten mit
dem menschlichen Denken faktisch in Verbindung zu bringen, noch ist dies
möglich. Der Glaube der Menschen, sie könnten mit der Vernunft
auf die Bewegungen ihres Leibes Einfluss nehmen, sei eben naiv und anhand
der Tatsachen nicht zu belegen.
Auch dieser Gedankengang mutet wie im Fall der Traumbeschlüsse
derart abenteuerlich und an den Haaren herbeigezogen an, dass man den Eindruck
hat, Spinoza habe sich hier mit aller Gewalt zu einer Art kopernikanischen
Strategie entschlossen. Nämlich gegen jede Evidenz zu argumentieren,
und eine kopernikanische Wende in der Bewusstseins- und Handlungsauffassung
rein rationalistisch zu inszenieren. Freilich ist der Lebens- und Erlebenszusammenhang
im Fall der himmelsmechanischen Erscheinungen unmittelbar nicht vorhanden,
der das Trügerische eines vermeintlichen Umlaufs der Sonne um die
Erde leicht entlarven könnte. Deswegen ist es dort durchaus angemessen
eine Beweisführung gegen die scheinbare Evidenz zu suchen.
Während wir im Fall von Träumen, Wachen, Urteilsvorgängen
oder von willkürlichen Bewegungen in einem Erlebenszusammenhang mitten
drin stehen. Näher als durch die unmittelbare Erlebensweise können
wir diesen Phänomenen gedanklich nicht kommen. Und näher als
Urteils- und Denkvorgänge können uns überhaupt keine Phänomene
kommen. Deswegen haben sich bis heute die Menschen trotz aller gegenteiligen
Beschwörungen mancher Neurobiologen und aller populärwissenschaftlichen
Bekehrungsversuche nicht von der Überzeugung abbringen lassen, dass
sie es sind, die denken, urteilen und sprechen und nicht das Hirn.
Das von Spinoza hier nahegelegte Bild vom Menschen gleicht doch eher einem
Untoten, als einem menschlichen Individuum.
Mit dieser Unfähigkeit des Geistes den Körper
zu Handlungen zu bestimmen korrespondiert eine analoge Unfähigkeit
des Denkens, sich aktiv mit dem Geist (besser vielleicht: mit Gedanklichem)
in Verbindung zu bringen. Infolgedessen ist die Wahrnehmung von Ideellem
für Spinoza ebenfalls ein blosses Leiden, eine passive Wahrnehmung
und kein aktives, gewolltes denkerisches Geschehen. Auch ideelle Wahrnehmungen
- hier haben wir eine deutliche Parallele zum oben erörterten Prozess
der Beschlussbildung - überkommen den Menschen und werden nicht aktiv
aufgesucht oder herbeigeführt. (Ein modernerer Psychologe des 19.
oder frühen 20. Jahrhunderts würde vielleicht von einem rein
assoziativen Mechanismus sprechen.) Wir werden weiter unten etwas darauf
zurückkommen. Ein agiles und selbständig handelndes oder erkennendes
Ich jedenfalls, das muss man wohl sagen, kommt bei Spinoza nicht
vor. Sondern nur ein betroffener Zuschauer im Stück der Notwendigkeiten.
Abgesehen davon, dass bei Spinoza alles Geschehen ursächlich
in Gott und nicht in der Materie gründet, und er dafür argumentativ
sehr viel Aufwand investiert, ist er mit seinem Determinismus dem
physikalischen strukturell nicht nur ziemlich ähnlich, sondern auch
methodisch verwandt, wie seine empirischen Belegversuche oben zeigen. (Infolgedessen
gab und gibt es nicht wenige, die ihn für einen Materialisten halten,
der seinen Materialismus lediglich theologisch verhüllt habe. Einer
der Gründe dafür, warum Marxisten in ihm gern einen Vorläufer
des modernen Marxismus sehen. Siehe etwa http://www.spinoza.de/Spinoza_Vorgeschichte_Marxismus.pdf)
Offensichtlich jedenfalls nimmt er ein an den Naturwissenschaften orientiertes
Prüfen und Bewerten der empirischen Tatsachen mitunter, wenn auch
auf sehr einseitige Weise, ernst. Doch sein Umgang mit den empirischen
Tatsachen des Bewusstseins offenbart gerade dies: Die empirischen Tatsachen
scheinen gegenüber der Theoriebildung allemal nachrangig. Sie sprechen
sich nicht aus, sondern werden gewaltsam in ein gedankliches Schema gepresst
und im Zweifel in grotesker Weise umgedeutet. Auch dies eine deutliche
Parallele zum Physikalismus. Ein autonomer Gedankenbildner oder
Entscheidungsträger für Handlungen findet sich infolgedessen
bei beiden Formen des Determinismus nicht, ob sie nun von Gott oder von
der Materie ihren Ausgang nehmen. Und am Ende bleibt, wie von Popper gegen
den Physikalismus vorgebracht, auch dasselbe Problem wie beim Physikalismus:
Wie kommt denn der Determinist, ob physikalisch oder geistig orientiert,
dazu, an die Gültigkeit seiner Argumente zu glauben, die er für
den Determinismus ins Feld führt? Die entscheidende Frage zielt damit
auf den, der sich das alles ausdenkt. Er kann es ja nur glauben unter Berufung
auf eine Instanz, die eben nicht vollständig determiniert sein kann
- und das ist das urteilende, prüfende und erwägende Ich des
Denkers. Damit aber hat er seinem Determinismus bereits den Boden entzogen.
Wenn ihm das nicht klar ist, dann deswegen, weil er sich mit den faktischen
Vorgängen seiner Gedanken- und Urteilsbildung nicht weiter auseinandersetzt
und die richtigen Konsequenzen daraus zieht.
Bei Spinoza führt das auf die Frage, woher er denn
für den Teil V der Ethik die Überzeugung nimmt, aktiv
in ein vollständig determiniertes Geschehen eingreifen zu können,
welche empirischen Belege er dafür beibringt und wie plausibel diese
sind. (Siehe dazu den Lehrsatz 1 im Teil III der Ethik und
den nachfolgenden Lehrsatz 2. nebst Anhang) Denn wenn er glaubt
dies aktiv tun zu können, so muss sich diese Aktivität schon
im Prozess der Entscheidungsfindung oder Urteilsbildung nachweisen lassen.
Diese aber, so scheint es doch, sind bei ihm ganz und gar frei von individueller
Aktivität und Autonomie, sondern gleichen aufs Haar dem Ausgeliefertsein
an etwas, das sich notwendig vollzieht. Deswegen seine Gleichsetzung von
Traumbeschlüssen mit wachen. Es gibt seinen bisherigen empirischen
Ausführungen nach gar kein Anzeichen von geistiger Autonomie, und
die Macht des Verstandes und die menschliche Freiheit, von
denen im V. Teil der Ethik die Rede ist, erscheinen im Lichte seiner
oben erläuterten Befunde wie ein Hirngespinst. Plötzlich wird
nun aber ohne jede Vorwarnung und vollkommen unbegründet jemand aus
dem Hut gezaubert, der eben doch Entscheidungsträger ist und die Gedanken
selbsttätig verbindet. Denn was er für den Lehrsatz 2
im Teil V. der Ethik an Initiativmöglichkeiten des Ich voraussetzt,
verlangt auch ein aktives Ich, das bei der Beschlussbildung die
Gedanken selbsstätig, und nicht traumartig miteinander verbindet.
Bei Spinoza ist das ein noch etwas anonymes "Wir", das nun laut
Lehrsatz 2 im Teil V. der Ethik zur Überraschung des
Lesers etwas tun soll, wozu es laut Theorie der Beschlussbildung eigentlich
gar nicht fähig sein dürfte: Nämlich in eigener Tätigkeit
des Ich Gedanken trennen und verknüpfen, die sich angeblich nur selbst
untereinander verknüpfen können. Ja, - Ich? - wie denn? - Ich
soll in eigener Tätigkeit Gedanken verknüpfen? - fragt sich der
erstaunte Leser. Diese Möglichkeit hat er doch im Teil III schon komplett
aus der Hand gegeben. Dafür besteht folglich kein konzeptioneller
Spielraum mehr. Denn Traumbeschlüsse können, wie von ihm selbst
betont, Gedanken nicht aktiv und autonom verbinden oder trennen.
Und auf Erinnern und Vergessen habe ich angeblich ja auch keinen Einfluss.
Wie soll denn so etwas dann überhaupt gehen? - Der Lehrsatz 2
im Teil V. der Ethik ist infolgedessen und möglicherweise bloss
missverständliche philosophische Rhetorik, und ein aktiv verbindendes
und trennendes "Wir" gar nicht gemeint. Dann freilich
wäre die Macht des Verstandes nebst Freiheit ohnehin
eine bloss traumhaft eingebildete, sprich: illusionäre. Wie auch immer.
Auf jeden Fall aber bedarf er einer ganz anders gearteten Konzeption der
Beschlüsse und Entscheidungsfindung, als sie Spinoza im Teil III der
Ethik vorgelegt hat, um ihren dort konzeptionell veranlagten illusionären
Charakter abzulegen. Darauf allerdings wartet der Leser vergeblich.
Nehmen wir also Hartmut Traubs Hinweis auf die von Steiner
angeblich übersehenen Vernunftgründe Spinozas ernst, so
müssten wir bei der Genese und der faktischen Umsetzung dieser
Vernunftgründe Spinozas fündig werden und einen entscheidenden
empirischen Fingerzeig auf die Freiheitsrelevanz von Vernunftgründen
entdecken. Was aber finden wir dort vor? - Die wachbewussten Entscheidungen
und Beschlüsse kommen nicht anders zustande als geträumte oder
phantastische. Es existiert nur eine Gattung von Beschlüssen
und der gehören sowohl wache wie geträumte gleichermassen an.
Die mögliche Existenz einer weiteren "Gattung" von Beschlüssen
wird mit dem Prädikat "Unsinn" abgelehnt. Also haben die
aus Vernunftgründen gefassten Beschlüsse qualitativ und
freiheitsphilosophisch keinen anderen Status als die geträumten. Sie
kommen entsprechend mit derselben Notwendigkeit zustande wie auch Traumbeschlüsse
zustande kommen. Und daraus folgt: "Wer also glaubt, daß er
aus freiem Beschlusse des Geistes spreche oder schweige, oder sonst etwas
tue, träumt mit offenen Augen." Das ist gedanklich zwar konsequent,
aber vollkommen abwegig und meilenweit entfernt von jeder Realität.
Man fragt sich, wie Spinoza die Freiheit des Ich im vernunftgeleiteten
Handeln ansiedeln will, wenn er beides schon im Erkennen oder bei der Beschlussbildung
nicht findet? Wie könnte er im Teil V der Ethik noch stringent darauf
verfallen, wenn er sich empirisch im Teil III schon so gründlich darin
widerlegt?
*
Um es sinngemäss mit den Gedanken des Steiner von
1899 zu fassen: Erst projiziert der Mensch - Spinoza - ganz logisch auf
der Basis seiner Definitionen ein allbeherrschendes Gotteswesen in die
Welt hinaus, um sich hernach von diesem hinausprojizierten Gott durchgängig
bestimmt zu denken. Nur übersieht er dabei, dass es ja nur die Produkte
seiner eigenen Subjektivität waren, die er da zuallererst in seine
Definitionen hineinlegt hat, von denen er sich jetzt, seiner Logik folgend,
beherrscht glaubt. Er versetzt ein allmächtiges Wesen in die Welt,
während er gleichzeitig sein Ich als Produzenten dieser Gedankenbildung
vergisst und verliert. (Siehe Rudolf Steiner, Der Individualismus in
der Philosophie, in: GA 30, Dornach 1989, S. 99-152. Zu Spinoza siehe
dort S. 127 f. Erläuternd dazu siehe ebd, S. 148 ff.)
Von dieser Einsicht, dass die Eigenschaften Gottes wie
Vollkommenheit, Wesensnotwendigkeit etc, aus denen Spinoza mit dem Anspruch
auf Notwendigkeit wiederum seine Handlungsmaximen zwecks Beherrschung der
Affekte mehr oder weniger herleitet, ursprünglich sein eigenes gedankliches
Erzeugnis sind, ist die Ethik Spinozas in der Tat nicht nur weit
entfernt, sondern völlig frei. Oder wie Steiner in dem erwähnten
Aufsatz (S.127) sagt: "Daß der Mensch das Bild, unter dem er
sich diese Notwendigkeit [Wesensnotwendigkeit Gottes, MM] vorstellt, seinem
eigenen Inhalte entnimmt, davon hat Spinoza kein Bewusstsein." In
der Tat: Schon die Behauptung über Gottes Vollkommenheit ist in den
Augen Spinozas eine regelrechte geistige Zwangshandlung, die auf
dem Wege einer geistigen Nötigung durch Gott zustande kommt. Denn,
so Spinoza, seine Aussagen über Gottes Vollkommenheit seien nur deswegen
erfolgt, weil Gottes Vollkommenheit selbst ihn dazu "gezwungen"
habe, diese Vollkommenheit zu behaupten. (Siehe Ethik, Teil I.,
Von Gott; Anmerkung 2 zu Lehrsatz 33) Gott ist der eigentliche Urheber
dieser Überzeugung - nicht der Philosoph Spinoza. Denn der folgt lediglich
Gottes Machtspruch, respektive göttlicher Notwendigkeit. Man könnte
das bezeichnen als eine Erklärung im Lichte der eigenen (deterministischen)
Überzeugung. Aber nicht im Lichte der empirischen Ereignisse, die
bei der Bildung dieser Überzeugung tasächlich vorgegangen sind.
Denn schon die im allgemeinen doch sorgfältig abwägende und kritische
Gedankenführung Spinozas, die seiner Ethik zugrunde liegt,
und worauf sie aufbaut, belegt nachprüfbar das völlige Gegenteil
dessen, was er soeben behauptet hat: Sie belegt die Nicht-Existenz göttlicher
Erkenntniszwänge und eines Determinismus, so wie er ihn versteht.
Ironischerweise, möchte man sagen, gründet sich seine Ethik
auf etwas, was er darin unter erstaunlicher Investition gedanklicher
Arbeit theoretisch so gut wie abgeschafft hätte, falls man seine Behauptung
ernst nähme - die menschliche Gedankenfreiheit.
Wenn man Steiner in diesem Kontext recht versteht, dann
sieht er einen engeren Zusammenhang zwischen dem Aufkommen des naturwissenschaftlichen
Denkens mit seinem Kausalitätsprinzip und Spinozas nicht mehr christlichem
Gottesverständnis, das letztlich von diesem naturwissenschaftlichen
Kausalitätsdenken inspiriert ist, und ein Analogon zur Naturkausalität
in Form von göttlicher Notwendigkeit geschaffen hat. Im Prinzip, so
könnte man Steiners Gedanken erläutern, ist dieses Bild der göttlichen
Notwendigkeiten mehr oder weniger dem damaligen naturwissenschaftlich-philosophischen
Zeitgeist geschuldet. Doch warum sollte in einem vollkommenen Wesen (Gott)
zugleich die Notwendigkeit vorliegen, seine gesamte Schöpfung bis
ins Kleinste nach dem Vorbild der materiellen Welt oder nach Art logischer
Zusammenhänge - wenn man will: logisch-mechanistisch, nach dem Vorbild
von etwas Totem - auch zu determinieren? Ist ein umfassender Determinismus
wirklich ein notwendiger Ausdruck von Vollkommenheit, zu dem es keine Alternativen
gibt? Was logisch oder aus dem Zeitalter heraus scheinbar einleuchtet braucht
faktisch längst nicht so sein. Was sich der Philosoph also unter der
Vollkommenheit Gottes jeweils vorstellt, - und das gilt verständlicherweise
nicht nur für Spinoza -, ist in vielerlei Richtung hin durchaus offen
und entscheidungskontingent, weil historisch bedingt und insofern von eher
zufälligen Faktoren. Er muss auf jeden Fall den Inhalt für diese
gedanklich erschlossene Vollkommenheit aus sich selbst holen - und an dieser
Stelle wird das Verfahren einigermassen windig und anfechtbar. Denn dieser
Inhalt ist gebunden an die Grenzen und an den Horizont seiner menschlich
beschränkten philosophischen Phantasie. Und die muss mit der Realität
nicht unbedingt übereinstimmen. Steiner speziell dazu an ganz anderer
Stelle: "Als man anfing, nach Gottesbeweisen zu suchen, war dieses
Suchen selbst schon ein Beweis dafür, daß man den lebendigen
Zusammenhang mit der göttlichen Welt verloren hatte. Deshalb kann
auch kein intellektualistischer Gottesbeweis in einer befriedigenden Weise
geführt werden." (Rudolf Steiner, Drei Schritte der Anthroposophie:
Philosophie, Kosmologie, Religion. Zehn Auto-Referate zum Französischen
Kurs am Goetheanum Dornach, 6. bis 15. September 1922, GA 25, Dornach,
1999, IV. Erkenntnis- und Willensübungen S. 37) Und Gideon Spicker
zum selben Thema aus religonsphilosophischer Sicht: "Von einem willkürlich
entworfenen Begriff - Idee der Vollkommenheit - kommt man durch bloßes
Schlußverfahren nicht zu der ihm korrespondierenden Realität.
Es ist und bleibt nur eine gedachte Vollkommenheit." (Gideon
Spicker, Am Wendepunkt der christlichen Weltperiode, Stuttgart 1910, Nachdruck
des Georg Olms Verlages, Hildesheim 1998, S. 38. Sowohl der ontologische
Gottesbeweis, der von einer erschlossenen unendlichen Vollkommenheit
Gottes ausgeht, als auch der kosmologische Gottesbeweis, der folgernd
auf eine unbedingte Ursache alles Gewordenen führt, liefert nach Spicker
keine Erfahrunsgegebenheit, sondern bleibt ein inhaltlich unbestimmtes
logisches Konstrukt. Die eigentliche Beschaffenheit dieses erschlossenen
Gottes bleibt in beiden Fällen völlig im Dunkeln. Und liefert
damit, so möchte man ihn ergänzen, nahezu beliebigen Raum für
philosophische Phantasieproduktionen. Siehe Spicker a.a.O., S. 27)
Ebensogut vorstellbar wäre nun beispielsweise, dass
dieser vollkommene Gott gleichsam Ebenbilder seiner selbst in die Welt
entlässt, die seine Schöpfung auf unterschiedlichen Stufen fortführen,
ohne dass sie seinen permanenten deterministischen Zwängen unterliegen.
Das wäre eine Vollkommenheit mit dem immanenten Impuls zur fortlaufenden
Schöpfung in Freiheit. Im christlichen Bild von den Gotteskindern
kommt dies ja auf eine gewisse naive Weise auch zum Ausdruck. Er hätte
damit seine Substantialität weitergeschenkt und die eigene Vollkommenheit
gleichsam vervielfacht, indem er sie auf andere Wesen überträgt,
die zwar in ihm wurzeln, aber nicht durchgängig von ihm beherrscht
werden. Nur - dieser Gedanke ist der zeitgenössischen Kausalitätsphilosophie
Spinozas eben noch reichlich fremd und weniger naheliegend. Der Kausalgedanke
ist philosophisch zu seiner Zeit stark präsent und ein vergleichbar
beeindruckender Begriff des Lebendigen noch nicht in Sicht. Eine spätere
Philosophie des Organischen und Lebendigen würde neue Perspektiven
eröffnen und sich ihren Gott vermutlich eher nach dem Idealbild einer
göttlichen Evolution und organischen Werdens, - das ist im Sinne eines
lebendigen, beweglichen Organismus -, und nicht nach dem einseitigen Muster
eines lieblosen und zwanghaften Mechanismus der toten Materie oder einer
starren Logik formen. Das wird im Zeitalter Kants ja auch beginnen der
Fall zu sein, und beispielsweise bei Johann Gottlieb Fichte wird der Begriff
Gottes sehr eng mit dem Begriff des Lebendigen und der Liebe verknüpft.
(Siehe Fichtes Die Anweisung zum seligen Leben [http://www.zeno.org/Philosophie/M/Fichte,+Johann+Gottlieb/Die+Anweisung+zum+seligen+Leben])
Die Vernachlässigung des Ich bei Spinoza mag weiter
auch, wie oben schon angedeutet, damit zu tun haben, dass Spinoza der Frage
nicht ausführlicher nachgeht, wie eigentlich das Ich des Menschen
im Erkennen handelt und entsprechend zu einer Erkenntnis des Erkennens
gelangt. Bzw weil er glaubt im erkennenden Rückgriff auf Gott sei
die Erkenntnis der Erkenntnis eine sich von selbst verstehende Beigabe.
(Siehe dazu etwa dessen Ethik, Teil II, Lehrsatz 43; siehe auch Teil
III, Lehrsatz 58) Bei Spinoza tritt das Verstehen infolgedessen
auf als eine passive Funktion, das heisst: als ein blosses Leiden:
"Denn wir haben gesagt, daß das Verstehen ein blosses Leiden
ist, d. h. ein Gewahrwerden der Essenz und Existenz der Dinge in der Seele,
so daß wir es also niemals sind, die etwas von dem Ding bejahen oder
verneinen, sondern das Ding selbst ist es, das etwas von sich aus in uns
bejaht oder verneint." (Spinoza, kurze Abhandlung von Gott, dem
Menschen und dessen Glück, in der Ausgabe des Felix Meiner Verlages,
Hamburg 1991, S. 88 f. 16. Kapitel § 5) Im Kontrast dazu Steiner,
der nicht nur am vollkommenen Gegenpol, nicht von einem logisch als
erstem und absolut gesetztem Gott seinen Ausgang nimmt, sondern
an der empirischen Erkenntnis des Erkennens, die der Methode nach durchaus
empirisch psychologische Züge hat. Beziehungsweise, wenn wir systematische
Kollisionen der Erkenntnistheorie mit der Psychologie vermeiden wollen,
wäre es angemessener zu sagen, sie habe bewusstseinsphänomenologische
Züge. Und zwar im Sinne jenes zeitgenössischen Erkenntnistheoretikers
Johannes Volkelt, auf den Steiner in seinen Frühschriften so
ausführlich zurückgreift. (Zur bewusstseinsphänomenologischen
Erkenntnistheorie Volkelts, auf die Steiner vor allem in den Frühschriften
Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung
sowie Wahrheit und Wissenschaft - siehe die Einleitung zu
Wahrheit und Wissenschaft - ganz ausdrücklich rekurriert vergleiche
Johannes Volkelt, Erfahrung und Denken, Hamburg und Leipzig 1886.
Dort vor allem die Abschnitte 1. und 2. ; S. 1 - 132 . Zum Verhältnis
von Erkenntnistheorie zur Psychologie dort etwa S. 43 f; S. 46 f. [ Im
Internet frei erreichbar unter http://ia600600.us.archive.org/18/items/ErfahrungUndDenken/Johannes_Volkelt_Erfahrung_und_Denken.pdf])
Für Steiner kann schon die Realisierung der Idee
des Erkennens, bzw das Erkennen als individueller Prozess des denkerischen
Handelns weder von aussen, noch von innen aufgenötigt werden, sondern
nur auf einen freien Entschluss des erkennenden Wesens selbst hin erfolgen.
Ohne meinen persönlichen Entschluss zum Erkennen geschieht hier -
und zwar jederzeit überprüfbar - nichts. Auch keine Erkenntnis
Gottes. Spinozas wenn man so will: ideelle Wahrnehmung (Gewahrwerden
der Essenz) findet sich auch bei Steiner. Aber sie wird bei ihm
als ein durchgängig aktives Geschehen - besser vielleicht: als tätige
Rezeption des Ideellen - eben als Resultat eines gewollten Denkens
und nicht als ein passives Leiden gekennzeichnet. Auch dieses ist jederzeit
einer Verifikation anhand der Erfahrung zugänglich. Und damit ist
es bei Steiner noch nicht getan. Denn die Wahrnehmung des Ideellen
bzw der Essenz allein ist in seinen Augen noch keine Erkenntnis, sondern
lediglich dessen Voraussetzung auf der ideellen Seite. Das Bejahen oder
Verneinen einer ideellen Wahrnehmung ist Sache des Urteilens und
Prüfens, und damit vollständig als Vorgang in die Hand des erkennenden
Menschen gelegt. Wer nicht urteilen will hat allenfalls fixe Ideen
und nicht Erkenntnis oder Verständnis. Das gilt natürlich auch
für Wahrnehmungen nicht-ideller Art. Das Ding, das sich im
Sinne Spinozas aussprechen will, wird dies nur können, sofern
der Mensch sich aktiv darauf einlässt. Der fehlende Hinweis
Spinozas auf die Aktivität des Denkens und Erkennens kontrastiert
übrigens ganz eigentümlich mit dem, was Steiner in der Philosophie
der Freiheit dazu ausführt, weil dieser so eindringlich fortwährend
diese Aktivität betont. Man könnte fast den Eindruck gewinnen,
als habe Spinoza für diese individuelle Aktivität im Denken gar
keine Wahrnehmung. So, wie er offensichtlich auch keine Wahrnehmung für
die Einflussnahme auf das Erinnerungsgeschehen (s. o.) hat. Ob dies durchgängig
bei ihm der Fall ist, wäre eine detailliertere Untersuchung wert.
Es würde bewusstseinsphänomenologisch zumindest einige seiner
theoretischen Positionen erklären.
Offensichtlich geht es Steiner doch um den Begriff der
Notwendigkeit, und darum, ob eine aus einsehbaren Gründen erfolgte
Handlung sich mit derselben Notwendigkeit vollzieht, wie die mechanische
Bewegung eines Steines. Deswegen zum Schluss der Passage sein abschliessender
Gedankengang: "Und ein tiefgreifender Unterschied ist es doch, ob
ich weiß, warum ich etwas tue, oder ob das nicht der Fall ist. Zunächst
scheint das eine ganz selbstverständliche Wahrheit zu sein. Und doch
wird von den Gegnern der Freiheit nie danach gefragt, ob denn ein Beweggrund
meines Handelns, den ich erkenne und durchschaue, für mich in gleichem
Sinne einen Zwang bedeutet, wie der organische Prozeß, der das Kind
veranlaßt, nach Milch zu schreien." Das aber lässt sich
Spinoza doch mit guten Gründen vorhalten, nämlich diesen Unterschied
gar nicht recht zu erfassen, sonst könnte er nicht (s.o.) zu der Definition
kommen, die Sache sei frei, "die aus der blossen Notwendigkeit ihrer
Natur besteht und handelt." (Dass diese Verknüpfung von Notwendigkeit
und Freiheit wie eben schon angedeutet bei Spinoza in direkter Verbindung
steht zu Spinozas Gottesbegriff, sei hier nur der Vollständigkeit
halber noch einmal erwähnt, kann aber an dieser Stelle nicht ausführlicher
dargestellt werden. Siehe dazu etwa den oben genannten Überblicksartikel
zu Spinoza.) Man sehe sich seine empirischen Belege oben nur an, um einen
Eindruck davon zu bekommen, was das für Spinoza konkret heisst. Natürlich
spricht er auch von den einsehbaren Gründen unseres Handelns. Aber
das ist sozusagen nur der halbe Aspekt seiner Freiheitsphilosophie, und
auch nicht der zentrale Punkt von Steiners Kritik. Denn Steiner geht es
nicht nur darum, ob wir überhaupt auch aus Vernunftgründen zu
handeln vermögen, und diese Vernunftgründe unseres Handelns kennen.
Sondern darum, ob einsehbare Vernunftgründe unseres Handelns einen
ähnlich determinierenden Zwang auf uns ausüben wie andere, uns
unbewusste Ursachen des Handelns. Deswegen seine zentrale Frage nach dem
Ursprung und der Bedeutung des Denkens. Denn genau das von Steiner Bemängelte
wird von Spinoza in einen Topf geworfen. Alles - das (geistige und physische)
Handeln aus einsehbaren Gründen und das Handeln aus dunklen
organischen Bedürfnissen geschieht letztlich mit Notwendigkeit. Denn
Traumbeschlüsse und wache kommen nach derselben Notwendigkeit zustande.
Genetisch und qualitativ unterscheidet sich daher ein Vernunftgrund nicht
von einem geträumten und ein Vernunftbeschluss nicht von einem Traumbeschluss.
Ich handle in allen Fällen, ob ich die Gründe meines Handelns
kenne oder nicht, weil ich so handeln muss und gar nicht anders
kann. Das eine Mal aus Vernunftgründen und das andere Mal aus unbewussten
organischen. Auf diesen entscheidenden Punkt, - ob ein aus Vernunftgründen
vollzogenes Handeln vergleichbar ebenso aus Notwendigkeit geschieht wie
ein Handeln aus unbewussten organischen Ursachen -, so meine ich, zielt
berechtigterweise Steiners Kritik an Spinoza.
Dabei haben wir hier den kaum weniger entscheidenden Aspekt,
dass laut Spinozas Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik einschliesslich Anmerkungen
das Denken ohnehin nicht in der Lage ist (motorische) Handlungen zu steuern,
noch nicht einmal in die Bilanz aufgenommen. Tun muss man das freilich,
denn die motorischen Bewegungen vollziehen sich dort ja tatsächlich
frei vom Einfluss der individuellen Vernunft so notwendig wie die Bewegung
eines Steines. Siehe Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik: "Der
Körper kann den Geist nicht zum Denken bestimmen und der Geist nicht
den Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgend etwas anderem (wenn
es noch etwas anderes gibt.)" So gesehen ist die Frage nach einer
durch individuelle Vernunft oder Vernunftgründe geleiteten körperlichen
Handlung augenfällig überflüssig, da sie laut Lehrsatz
2, - ganz physikalistisch gedacht -, grundsätzlich nicht stattfinden
kann. Denn menschliche Willensakte, so Spinoza auch an anderer Stelle,
können nur einen äusseren verursachenden Anlass haben, von dem
sie notwendig bewirkt worden sind. Denn es sei so, : " ... daß
dieser oder jener Willensakt des Menschen [...] auch eine äußere
Ursache haben muß, von der er notwendig verursacht wird, ..."
(Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück,
Meiner Ausgabe Hamburg 1991, Kapitel sechs, § 5, S. 45 f. Siehe ebd
auch Kapitel sechzehn, Vom Willen, S. 86 ff.) Alles in allem tut man sich
schwer mit der Vorstellung, dass ein geistiges Multi - Mängel - Wesen,
das zu keiner einzigen Erinnerung willkürlichen Zugang hat, seine
Vernunftbeschlüsse wie Traumbeschlüsse fasst, und von der Vernunft
her keine körperlichen Bewegungen zu steuern vermag, dass dieses Wesen
mit der Macht des Verstandes ausgestattet und zu irgend einer nennenswerten
Form von Handlungsfreiheit fähig sein soll. Und damit dürfte
auf jeden Fall die von Hartmut Traub angestossene Frage, welche Konsequenz
eigentlich bei Spinoza das Wissen um die Gründe des eigenen Handelns
hat, beantwortet sein: In körperlicher Hinsicht gar keine! Ob ich
meine Handlungsgründe kenne oder nicht - für den Mechanismus
meiner leiblichen Abläufe hat das keinerlei Bedeutung. Der ist ohnehin
vom Denken her nicht zu erreichen und folgt vollständig seiner eigenen
Betriebsamkeit.
Angesichts dieser Umstände kann man sich unter mehr
menschenkundlichen Gesichtspunkten, und ohne seine zugrunde liegenden philosophisch-theologischen
Basisannahmen weiter zu thematisieren, die Frage stellen, was Spinoza eigentlich
dazu veranlasst, im Teil V der Ethik von der Macht des
Verstandes zu sprechen. Worauf gründet sich diese Macht? Worin
besteht sie? Und wie wird sie konkret ausgeübt? Nun sagt Spinoza im
Lehrsatz 3. im Teil V. der Ethik (wohlgemerkt: dort
geht es um die Macht des Verstandes): "Ein Affekt, der
eine Leidenschaft ist, hört auf, eine Leidenschaft zu sein, sobald
wir von ihm eine klare und deutliche Idee bilden." Das ist eine durchaus
empirisch zugängliche Behauptung. Oder besser vielleicht: eine empirisch
prüfbare Prognose. Wissen ist Macht! - so könnte man sein freiheitsphilosophisches
Credo hier etwas verkürzend in einem geflügelten Wort zusammenfassen.
Aufklärung befreit! Ihr Erkennen führt per se dazu, dass unerwünschte
Affekte und Leidenschaften ihren Einfluss auf den Menschen verlieren. Dann
wäre das vielleicht ein wünschenswertes Resultat von Vernunftgründen.
Wenn es schon bei den leiblichen Handlungen damit nicht klappt, und sie
zu nichts führen, dann aber doch vielleicht im Bereich des Seelenlebens.
Wenigstens im Umfeld von Affekten und Leidenschaften könnte man ihnen
eine unmittelbare Wirksamkeit zutrauen.
Eine erste Frage dazu, ganz pragmatisch genommen: Trifft
das zu? Verschwinden Affekte und unerwünschte Emotionen, nur weil
ich von ihnen deutlich weiss? Vielleicht auch weiss, dass es nicht unbedingt
förderlich ist, ihnen freien Lauf zu lassen? Der Leser wird mit mir
vermutlich seufzend einwenden: Schön wär`s! - Und Spinoza selbst
scheint wohl auch nicht recht an die Durchschlagskraft seines Konzeptes
zu glauben, wenn er in den ausführlichen Anmerkungen zum Lehrsatz
2 im Teil III der Ethik beklagt, dass wir so oft "das Bessere
sehen und dem Schlechteren folgen". (Die selbe Klage erhebt er übrigens
auch in dem von Steiner in der Philosophie der Freiheit zitierten
Brief.) Da scheint doch an dem ganzen Konzept: Aus Wissen folgt Macht
etwas nicht zu stimmen! Augenscheinlich ist dieser Gedankengang zu kurz
gegriffen, wenn er sich empirisch nicht bewährt. Es wird vermutlich
etwas sehr Wichtiges übersehen worden sein. Aus dem Wissen allein
folgt eben keineswegs ohne weiteres Macht. Menschenkundlich wäre es
naiv anzunehmen, dass lediglich aus dem Wissen allein schon eine Befreiung
von Affekten und Leidenschaften, Herrschaft gar über dieselben erfolgt.
Blosses Wissen ohne den Willen und die Möglichkeit zur
Anwendung führt ersichtlich zu nichts. Dieser philosophische Traum,
dass eine rein intellektuelle Wissenskultur und Aufklärung den Menschen
gewissermassen automatisch zu einer autonomen und von Affekten und unerwünschten
Emotionen unbelasteten Persönlichkeit macht, der dürfte wohl
längst ausgeträumt und von der Realität widerlegt sein.
Das Wissen selbst ist allenfalls eine Voraussetzung dazu, in seiner willentlichen
Anwendung so etwas wie Macht zu entfalten. Und das gilt auch und vor allem
für den von Spinoza hier angesprochenen Bereich der Affekte und Leidenschaften.
Blosses Wissen ohne den entschiedenen Willen und die geeignete Grundlage
es umzusetzen ist eben noch keine Macht. Es bleibt zunächst ein impotentes
intellektuelles Vermögen, so lange sich nicht eine entsprechend methodisch
darauf abgestimmte Willenskultur daran anschliesst; in Form einer gezielten,
willentlichen seelischen Auseinandersetzung an und mit dem erkannten Gegenstand
- sprich: den unerwünschten Emotionen, Affekten und Leidenschaften.
Das aber setzt ganz andere psychologische Grundannahmen und eine andere
pragmatische Vorgehensweise voraus, als sie Spinoza in seiner Ethik
vorlegt bzw vorschlägt, und wäre in dem dort vorgegebenen
Rahmen unmöglich zu entwickeln. Schon aus theoretischen Gründen
nicht.
Eine Frage, die sich daran anschliesst, ist: Wie verträgt
sich dieser von uns geforderte willenshafte und gedankengesteuerte Einfluss
aber mit Spinozas Theorie der (unmöglichen) Geist-Körper-Interaktion
und der Bewusstseinsvorgänge und Entscheidungsbildung aus dem Teil
III der Ethik? (Siehe oben) Noch im langen Vorwort zum Teil
V. der Ethik setzt sich Spinoza etwas eingehender mit Descartes
auseinander. Und gegen Ende dieser Besprechung sagt er: " ... weil
es kein gemeinsames Mass zwischen dem Willen und der Bewegung gibt, gibt
es auch kein Vergleichen zwischen der Macht oder den Kräften des Geistes
und denen des Körpers; und folglich können die Kräfte des
einen von denen des anderen überhaupt nicht bestimmt werden."
(Man beachte neuerlich, es geht hier um um die Macht des Verstandes)
Anders gesagt: Der menschliche Geist hat laut Spinoza auf den Körper
und seine Handlungen keinerlei willentlichen Einfluss. Das kennen wir bereits.
Es entspricht exakt dem oben schon erläuterten Lehrsatz 2 im
Teil III. der Ethik, der da lautet: "Der Körper
kann den Geist nicht zum Denken bestimmen, und der Geist nicht den Körper
zu Bewegung und Ruhe oder zu irgend etwas anderem (wenn es noch etwas anderes
gibt)." Das heisst, eine willentliche Interaktion zwischen Denken
(Vernunftgründen) und Körper - und das ist ja die Voraussetzung
jedes vom Denken her initiierten Handelns - wird von ihm kategorisch ausgeschlossen.
Und das bleibt wie gezeigt auch im Teil V. der Ethik so,
wo er das eigens im Vorwort wiederholt. Wie verträgt sich das mit
der angeblichen Macht des Verstandes, von welcher dieser Teil V.
der Ethik ausdrücklich handelt? Die geforderte Grundlage (Interaktionsmöglichkeit
zwischen Denken und Körper) Vernunfteinsichten in körperlich
vollzogene Handlungen einfliessen zu lassen, ist per definitionem nicht
vorhanden. Um es also noch einmal zu wiederholen: Nach vom Ich autonom
und willentlich gefassten reinen Begriffen oder Gedanken (moralischen Intuitionen),
wie bei Steiner, kann sich der Körper bzw. die Handlung laut Spinoza
nicht richten!
Und wie sieht das bei Entscheidungen, Beschlüssen,
Affekten und Leidenschaften aus? Nun, die Entscheidungen und Beschlüsse
- wie oben ebenfalls dargelegt - überkommen den Mensch mittels
eines unbeeinflussbaren Erinnerungsautomatismus und ähnlichem. So
dass die Frage schon sehr virulent ist, wie er unter diesen Verhältnissen
zumindest eine Beherrschung von Affekten und Leidenschaften noch plausibel
begründen und glaubhaft machen will, wenn er schon die denkerische
Einflussnahme auf körperliche Aktionen ausschliesst. Das Eigentümliche
bei Spinoza ist wie schon angedeutet: Vom Willen her hat der Mensch auch
im Bewusstseinsraum keinerlei wirkliche Kontrolle und Einflussnahme, sondern
die Dinge passieren wie sie eben passieren. Das heisst: eine gezielte Interaktionsmöglichkeit
zwischen dem Denken (Vernunftgründen) und dem restlichen Seelenleben
scheint ja auch nicht vorhanden zu sein. Er beschreibt sie in seinen empirischen
Beispielen fast nur aus dem Blickwinkel der Ohnmacht heraus. Und zwar -
und das ist interessant zu sehen - nicht nur philosophisch-theoretisch
(deterministisch), sondern auch der Bewusstseinsphänomenologie, also
der Erlebnislage nach. Es gibt keine positiven empirischen Beispiele, nicht
einmal die simpelsten, von willentlicher Affektkontrolle, Emotionssteuerung
und Beherrschung und sonstiger aktiver Einwirkung auf die Phänomene
des Bewusstseins. -
Um ein illustrierendes Beispiel davon zu geben, was damit
gemeint ist: Ich fühle mich von jemandem infolge einer witzigen Bemerkung
über mein Aussehen leicht gekränkt, unterdrücke dieses Gefühl
aber bewusst und erfolgreich, mit der Folge, dass ich den Kränkenden
freundschaftlich und unverkrampft umarme, und herzlich mitlache, ohne die
Kränkung zurückzugeben. Ohne meinen aktiven Umgang mit der negativen
Emotion hätte ich vielleicht reflexhaft selber damit begonnen, auszuteilen.
So aber ist die Emotion wirklich weg, und das Ganze nimmt einen anderen
Verlauf als ohne mein Eingreifen. Anzumerken ist: Mit dem Denken und der
Einsicht allein ist es im vorliegenden Fall nicht getan. Das kann der Leser
ja selbst einmal prüfen. Qualitativ ist dies etwas sehr anderes, als
sich nur einen deutlichen Begriff von einer unerwünschten Emotion
zu machen. Letzteres ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Sondern
man muss wirklich der Emotion aktiv etwas entgegensetzen und ihr die Wirksamkeit
nehmen. Sonst kommt nämlich keine unverkrampfte und authentische Handlung
dabei heraus, sondern eine geschauspielerte, die man in ihrer Verspanntheit
und Gespreiztheit leicht durchschaut. Das wirkt dann etwas verlogen. Die
Emotion der Kränkung ist dann immer noch lebendig und wird nur hinter
einer umgänglichen Fassade unsichtbar gemacht. Dass dies nicht von
jetzt auf gleich zu erreichen ist, dürfte einleuchten. Sondern es
verlangt längere Übung und innere Auseinandersetzung. Das meinte
ich in dem Hinweis auf die Willenskultur oben.
Oder ein anderes Beispiel - ein sehr häufiger Fall
der uns geläufigen aktiven Suche nach Erinnerungen: Mir ist entfallen,
wo in einem Buch ein bestimmtes Zitat steht. Also gehe ich seinen Inhalt
noch einmal strategisch im Geiste durch, und versuche gedanklich den Kontext
einzukreisen, wo ich es wiederfinden könnte. Bis ich es schliesslich
entdeckt habe. Das lässt sich mnemotechnisch bekanntlich vielfältig
verfeinern und einüben. Die spontane Erinnerung war zum Auffinden
nicht in der Lage, und ohne meinen aktiven Einsatz wäre das Zitat
erst einmal verloren gewesen. -
Das sind alles keine extravaganten Beispiele von innerer
Aktivität, sondern so etwas widerfährt uns tausendfältig
tagtäglich. Doch nichts davon ist bei Spinoza vorhanden. Scheint nicht
zu existieren. Er betont ausdrücklich in den Anmerkungen zum
Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik, dass wir auf Erinnern und
Vergessen keinen Einfluss haben: "Denn es gibt noch etwas anderes,
auf das ich hier besonders aufmerksam machen möchte," so hebt
er hervor, "dass wir nämlich aus einer Entscheidung des Geistes
gar nichts verrichten können, es sei denn, wir erinnern uns daran.
So können wir ein Wort, dessen wir uns nicht erinnern, nicht aussprechen.
Und es steht nicht in der freien Gewalt des Geistes, sich eines Dinges
zu erinnern oder es zu vergessen." So heisst es in der Ethik,
(Meiner Ausgabe, a.a.O, Hamburg 2010, S. 235) Und es folgt auch gleich
die weitere Konsequenz daraus: "Daher glaubt man nur, es stehe in
der Gewalt des Geistes, über eine Sache, deren wir uns erinnern, aus
blosser Entscheidung des Geistes schweigen oder reden zu können."
Man möchte fast bedauern, dass es damals anscheinend noch keine Kreuzworträtsel
gab. Von Spinoza ist das an der Stelle zunächst einmal (die Unfähigkeit
aktiv zu erinnern und zu vergessen) bewusstseinsphänomenologisch und
nicht theoretisch-deterministisch zu nehmen. Es ist offenbar doch ein Erfahrungsbeleg
- hoffentlich. Sollte es nicht so sein, dann umso schlimmer. Die philosophische
Konsequenz daraus im Nachfolgesatz ist allerdings und auf jeden Fall reine
Theorie und Schlussfolgerung aus dieser vermeintlichen Tatsache: Weil wir
auf das Erinnern und Vergessen keinen aktiven Einfluss (keine freie Gewalt)
haben, deswegen können wir uns auch nicht aktiv und frei dazu entscheiden,
über das Erinnerte zu reden oder zu schweigen. - Auch hier möchte
ich den Leser auffordern, beides einmal an sich selbst zu kontrollieren,
ob das so zutrifft. Spinoza scheint diesen Zusammenhang ja für sehr
wichtig zu halten, deswegen sein betonter Hinweis darauf. Sie folgen also
seiner ausdrücklichen Empfehlung, das einmal zu prüfen. Und glauben
Sie nicht, dass Sie dazu nicht imstande sind. - Sie können es! Anschliessend
können Sie lange darüber meditieren, warum philosophische Fehlurteile
von grosser Tragweite manchmal an furchtbar banalen Dingen hängen.
Und wie es möglich ist, dass jemand für sich in Anspruch nimmt
das Wesen Gottes zu erkennen, aber bei ziemlich simplen Dingen des alltäglichen
Lebens, die letztlich doch die Basis von all dem sind, einigermassen krauses
Zeug erfolgert?
Die Frage nach unsererm Vermögen zum aktiven Erinnern
und Vergessen können wir mit einem klaren "Jein" beantworten.
Wir besitzen es, und auch nicht - es kommt darauf an. Auf den Einzelfall
und auf vieles andere. Erinnern und Vergessen sind keine absoluten und
starren Grössen, die wir entweder beherrschen oder nicht. Sondern
es sind dynamische und wandelbare Eigenschaften, die vom völligen
(temporären) Unvermögen bis zu einer bedeutenden Seelenkraft
reichen, und auf jeden Fall aber bildsam sind. Eine absolute Grenze
lässt sich da nicht gut angeben. Wo sie jeweils liegt, das hängt
nicht nur an der biologischen und sonstigen Ausstattung des Menschen, sondern
auch an dem, was er daraus macht. Wir können unter unkontrollierten
Zwangsideen und Ideenflucht leiden (der ungünstige Fall, den Spinoza
anscheinend hier im Auge hat), aber auch Gedanken und Erinnerungen regelrecht
löschen und fortschaffen, die wir momentan oder dauerhaft nicht haben
wollen. Wir müssen sie nicht erleiden, sondern können sie bewusst
herbeizitieren und aufsuchen - und sie auch wieder fortschicken. Beides
ist möglich - unter gewissen Umständen, die durchaus variabel
und beeinflussbar sind. Diese Grenzen zu erweitern und das Vermögen
zu entwickeln ist uns als Fähigkeit an die Hand gegeben. Das ist kein
esoterisches Geheimnis, sondern man darf das heute als selbstverständliches
Allgemeinwissen und bekannt voraussetzen. Bücher und Journale sind
voll von diesen Dingen. In unserer Gewalt also sind das Erinnern und Vergessen
innerhalb gewisser und erstaunlich weit dehnbarer Grenzen schon. Ob das
eine absolut freie Gewalt ist, das sei erst einmal dahingestellt.
Nur: Wie will man herausbekommen, wo da die Möglichkeiten und Grenzen
liegen, wenn man diese Dinge in ihrer empirischen Tatsächlichkeit
gar nicht erst in Augenschein nimmt, und nur undifferenziert, eindimensional
und philosophisch einäugig auf das hinstarrt, was der Mensch angeblich
nicht kann, ohne sich eingehend mit dem zu beschäftigen was
er kann? Was haben die Menschen davon, wenn sich so ein Philosoph hinstellt
und ihnen aus seiner vorgeblichen Gotteserkenntnis heraus mit weitschweifender
Logik erklärt, wie metaphysisch ohnmächtig sie sind? Während
er die tatsächliche Macht, die sie tagtäglich erleben
können, keines Blickes würdigt, darüber aber verwickelte
Theorien ausheckt, die sich schon bei den einfachsten Dingen nicht bewähren?
Und die Frage ist daher: Warum blickt Spinoza hier in diesen langen Anmerkungen
nur auf das Unvermögen, wo er doch ebenso gut auf das Vermögen
hätte hinsehen können? Ist das für den Philosophen alles
ganz egal? War das zu seiner Zeit der Bewusstseinslage nach eben anders
als heute bei uns? Oder nur bei ihm? War es vielleicht noch nicht in den
Horizont der (wissenschaftlichen) Aufmerksamkeit geraten, so wie in unserer
Zeit die sogenannte Umwelt plötzlich seit den 60er und 70er
Jahren des vorigen Jahrhunderts im Horizont des Bewusstseins auftauchte,
so, als hätte es sie vorher nie gegeben? Und bei manchen bis heute
dort nicht angekommen ist.
Spinoza führt in den erläuterten langen Anmerkungen
zum Lehrsatz 2 im Teil III der Ethik weitläufige Begründungen
und empirische Belege dafür an, dass und warum das alles im Bewusstsein
so eigendynamisch und unzugänglich sein soll. Und der Blick ist vorzugsweise
auf einen Automatismus der Bewusstseinsvorgänge gerichtet -
von den zombiehaften körperlichen Aktionen und Wunderleistungen, die
er dort ebenfalls argumentativ bemüht, gar nicht erst zu reden. Man
erinnere sich nur an seinen grandios-paradoxen Vergleich von geträumten
und wachen Entscheidungen. Ein wirklich spektakulärer Fall, in dem
das Ganze gipfelt, und insofern besonders herausfordernd und geeignet,
sich darüber Gedanken zu machen! Heutzutage muss uns so etwas einfach
grotesk erscheinen. Und die Frage ist schon angebracht: Warum bemerkt er
angesichts seines philosophischen Scharfsinnes den gewaltigen Unterschied
zwischen wachen und geträumten Entscheidungen nicht, sondern setzt
sie gleich? Denn immerhin sind Entscheidungen und Beschlüsse Denkvorgänge!
Träumt er beim Denken? - Steiners Frage nach dem Ursprung und der
Bedeutung des Denkens bekommt angesichts solcher Verhältnisse noch
einen ganz anderen Akzent, als man ihn gewöhnlich beim Studium seiner
Grundschrift damit verbindet. - Und mit Blick auf Spinoza lässt sich
weiter überlegen: Steht hinter seinem Unvermögen sachlich zu
differenzieren bloss philosophische Betriebsblindheit, oder existiert dafür
auch eine Erfahrungsbasis? Ist die ganze Ohnmacht einfach nur erdacht,
weil sie so gut in sein Determinismuskonzept passt, und sind die empirischen
Gegenbeispiele taktisch herausselektiert worden, um das philosophische
Konzept nicht zu gefährden? Oder ist sie tatsächlich so oder
ähnlich von ihm erlebt, und deswegen vielleicht sein Konzept des Determinismus
von ihm erdacht worden?
Solche Fragen scheinen mir keine philosophischen Nebenschauplätze
zu sein, die eher in eine philosophiegeschichtliche Psychologie gehören.
Jedenfalls ist zu bemerken: Das zentrale Element der direkten willenshaften
Einflussnahme eines gedankenklaren Ich auf Vorgänge des Bewusstseins
(Denken, Erinnern, Emotionen etc) und auf Vorgänge des Leibes (besser:
Handlungen), fällt bei Spinoza weitestgehend, - um nicht zu sagen:
gänzlich - unter den Tisch. Was bleibt ist eine doch eher glaubensartige,
und gar schon nach seinem eigenen Eingeständnis wenig realistische
Überzeugung dahingehend, dass auf der Basis von Wissen die Leidenschaften
quasi von selbst verschwinden. Während Steiner doch wesentlich auf
dem Element der autonom willentlichen Aktivität aufbaut. Siehe
etwa PdF, Kap III: ": ... es kommt darauf an, daß nichts gewollt
wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem "Ich" nicht restlos
als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint.
Man muß sogar sagen, wegen der hier geltend gemachten Wesenheit des
Denkens erscheint dieses dem Beobachter als durch und durch gewollt."
(GA-4, Dornach 1978, auch 1995, S. 55) Nicht, dass Steiner hier etwa behauptet
der Mensch habe die volle Kontrolle über sämtliche leiblichen
und seelischen Vorgänge. Keineswegs! Aber er hat zumindest eine volle
willentliche und sachliche Kontrolle über die Aktivität
seines Denkens und der Beschlussbildung. - Da wird nicht geträumt.
Und von dort her ergibt sich zumindest insoweit eine Einflussnahme auf
leibliche Handlungen, dass sie im beschlossenen Sinne verlaufen können.
Dass diese willentliche Einflussnahme Steiners im Rahmen des anthroposophischen
Übungsweges dann weiter systematisch und methodisch auf sämtliche
Vorgänge des Seelenlebens (Denken, Fühlen, Wollen) vertieft und
ausgeweitet wird, mit entsprechenden Folgen für das Erkennen und Handeln,
das sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt, aber es soll
davon hier nicht mehr ausführlicher die Rede sein. Jedenfalls wäre
Vergleichbares bei Spinoza schon wegen seiner deterministischen und psychologischen
Grundannahmen ganz und gar ausgeschlossen.
Hartmut Traub scheint das alles nicht bekannt zu sein,
obwohl sein Buch den Titel trägt Philosophie und Anthroposophie.
Es gibt bei Spinoza keine ernst zu nehmende und vom Ich ausgehende
Entwicklung zur Freiheit. So etwas wie autonome (Selbst)Entwicklung
zu denken, oder dem Menschen gar eine aktive Rolle innerhalb einer irdischen
oder mehr noch: kosmischen Evolution zuzuweisen, das scheint ihm (noch)
völlig unmöglich zu sein. Was er dem Menschen zutraut ist lediglich,
sich via empirisch einigermassen fragwürdiger, weil auf dem alleinigen
Wege von Einsicht zu erwerbenden Affektkontrolle der gänzlich vorausbestimmten
göttlichen Weltordnung zu fügen, und auf diese Weise in
einer höchsten Erkenntnisstufe so etwas wie "höchste Zufriedenheit"
zu erlangen, "die es geben kann". (Siehe dazu Lehrsatz 27
im Teil V. der Ethik. Man verwechsle dies nicht mit Steiners
höchster Erkenntnisstufe, die methodisch ganz anders zu erwerben ist
und zu anderen Resultaten kommt. Und auch nicht primär zu höchster
Zufriedenheit führt, weil dies nicht ihr Anliegen ist. Sondern dem
Menschen ungeheuer viel Verantwortung für sich und die Welt aufbürdet,
und an sein Handeln appelliert, im Sinne dieser Verantwortung zu wirken.
Der Handlungsappell vor allem steigert sich ins Unermessliche. Mit Zufriedenheit
hat das alles bei Steiner relativ wenig zu tun. Vielmehr sieht der
Mensch auf diesem Wege vor allem auch, was alles noch zu leisten ist, und
wie wenig er davon bisher erreicht hat. Um dies zu ertragen und dem Selbstappell
erfolgreich zu folgen benötigt er allerdings des inneren Gleichgewichtes
wegen schon kompensatorisch eine extreme Form von Gedankenklarheit, Gelassenheit,
Geduld, Ausdauer, Umsicht, Selbstkontrolle, Mut und vor allem Liebe, was
zu erwerben ein massgeblicher Teil des Steinerschen Übungsweges ist,
der sowohl für das Erkennen selbst benötigt wird, als auch für
die individuellen Folgen davon. Natürlich geht es Steiner gleichermassen
um Erkenntnis auf hohen Stufen. Aber sie kann in seinen Augen unmöglich
abgelöst werden von allen übrigen Eigenschaften und Parametern
der menschlichen Persönlichkeit. Da sie andernfalls Gefahr läuft
sich zu vereinseitigen und ins Destruktive und Illusionäre abzugleiten.
Vielversprechende und gedeihliche höhere Erkenntnis ohne diese begleitende
Selbstentwicklung kann es bei Steiner nicht geben.)
Unterwerfung, und nicht autonome Selbstentwicklung
oder gar aktive Teilhabe an der Schöpfung lautet die Devise Spinozas.
Er kann seinem Schicksal im günstigsten Fall einsichtsvoll zusehen
und es in Zufriedenheit akzeptieren wie es ist. Aber er kann es nicht aktiv
in die Hand nehmen und getalten. Und selbst diese vom Subjekt gebilligte
Unterwerfung wäre gemäss der inneren Architektur von Spinozas
Gedankengebäude prädeterminiertes Resultat der alleinigen Wirksamkeit
eines alles verursachenden göttlichen Wesens. Da ist nichts drin,
was originär aus dem Menschen selbst kommt. Alleinige Folge göttlicher
Vorhersehung und Schicksalsbestimmung. Einzige und eigentliche Ursache
von allem was geschieht und was gedacht wird ist letztlich doch nur einer:
- der Allmächtige. Dies alles das Resultat eines Wesens, das in Steiners
Augen nichts anderes sein kann als ein rein logisches Konstrukt eines schlussfolgernden
philosophischen Denkens. Dessen Architekt (Spinoza) nach Steiners Einschätzung
kein Bewusstsein davon hat, dass "der Mensch das Bild, unter dem er
sich diese Notwendigkeit [Wesensnotwendigkeit Gottes, MM] vorstellt, seinem
eigenen Inhalte entnimmt" (s. o.). - Alles zusammen genommen das Ergebnis
einer gigantischen theoretischen (logisch-mechanistischen) Selbstblendung,
die den empirisch offenbaren schöpferisch-lebendigen Eigenanteil des
Ich an der Gedankenbildung und im Handlungsprozess hartnäckig
übersieht, und den Menschen infolgedessen zu einem willenlosen Sklaven
seines erdachten Gottes degradiert. Anstatt zu bemerken, dass in der geistigen
Gestaltungs- und Selbstgestaltungsfähigkeit des Menschen selbst so
etwas wie ein göttliches Element unmittelbar vorhanden ist. Dieser
also keineswegs schicksalhaft dazu vergattert ist, lediglich den ohnmächtigen
Lakaien und Automaten eines logisch postulierten allbestimmenden Herrn
abzugeben. Weil er er in seiner schöpferischen Potenz, in seiner Entwicklungs-
und Selbstentwicklungsfähigkeit, wenn auch keimhaft, selbst das freischöpferische
göttliche Element in sich trägt. Und zwar der Anlage nach wirksam
in sämtlichen Aspekten und Dimensionen seines geistigen, seelischen
und materiellen Lebens.
Wer den aufschlussreichen, von Steiner in der Philosophie
der Freiheit zitierten Brief Spinozas einmal studiert, und zwar vollständig,
einschliesslich jener Passagen, die Steiner nicht in sein Zitat aufgenommen
hat, der kann sich davon überzeugen, dass Spinoza nicht entfernt daran
denkt, dem Menschen so etwas wie Entwicklungsfähigkeit zur Freiheit
beizulegen. Sondern seine Sichtweise dort ist durch und durch deterministisch
und fatalistisch. Statisch und starr. - Wenn man so will ein Determinismus
der krudesten Art: nicht nur materiell, sondern auch spirituell. (Im Internet
im Original, so wie er Steiner vorgelegen hat, erreichbar unter: [http://archive.org/details/diebriefemehrer00spingoog]
Der von Steiner zitierte Brief Nr 62 findet sich auf S. 203 ff)
Dieser Brief ist, das kann man wohl sagen, ein auf wenige Seiten verdichtetes
Konzentrat der Spinozistischen Freiheitslehre, und zeigt, dass Steiner
doch einen recht präzisen Blick für das Wesentliche dieser Lehre
hatte. Sonst hätte er diese Auswahl vermutlich nicht getroffen. Eine
Bemerkung dazu am Rande: Dieser von Steiner zitierte Brief trifft Spinozas
Freiheitsphilosophie so genau, dass der Stuttgarter Kröner-Verlag
ihn 1955 in einer kürzeren Werkausgabe Spinozas als einziges und
kennzeichnendes Briefbeispiel für diese Freiheitsphilosophie auszugsweise
abdruckt. Das ist schon sehr bezeichnend. (Siehe: Spinoza, Die Ethik :
Schriften und Briefe; Hrsg. von Friedrich Bülow. Stuttgart: Kröner,
1955; S. 334 ) Merijn Fagard wird sich in absehbarer Zeit auf dieser Website
ausführlicher zu diesem Brief Spinozas äussern, und ich kann
dem Leser jetzt schon eine erhellende und an Überraschungen reiche
Lektüre garantieren. Mit der wenig tief schürfenden Feststellung
Traubs, Spinoza lasse auch eine Erkenntnis der Ursachen des Handelns zu
wie Steiner, ist letztlich doch nicht viel gewonnen. Es kommt schon noch
auf ein paar andere wichtige Details an. Bewusstseinsphänomenologisch
und auch auf der philosophischen Ebene, das kann man mit Fug und Recht
behaupten, leben Steiner und Spinoza in völlig verschiedenen Welten,
die miteinander nicht kompatibel sind. Und betroffen ist davon so gut wie
alles, was sie zum Thema Erkennen und Freiheit ausführen.
Angesichts dessen klingt Traubs Behauptung von Seite 272 seines Buches,
Steiner renne bei Spinoza offene Türen ein, doch reichlich bizarr.
Steiners Spinozakritik scheint mir also ganz und gar nicht
das "peinliche" und absehbare Ergebnis eines Versuchs bei Spinoza
offene Türen einzurennen, wie Traub S. 272 mit Blick auf die
von Spinoza erwähnten Vernunftgründe des Handelns seinem Leser
erklärt. Denn tatsächlich ist der angeblich freie Geist Spinozas
dem Erkenntnis- und Gottesverständnis Spinozas zufolge eingepfercht
in ein System aus Zwangshandlungen. Der Mensch ist einer umfassenden (materiellen
und geistigen) Natur vollständig ausgeliefert und kann dementsprechend
von sich aus nichts unternehmen, was seinem Glück oder Heil dienlich
ist: "Wir sehen also, daß der Mensch als ein Teil der gesamten
Natur, von der er abhängt und von der er auch regiert wird, aus sich
selbst nichts zu seinem Heil und Glück tun kann. " (Spinoza,
kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück, in der
Meiner Ausgabe, S. 93, Kap 18, § 1) Und ebendort in der Anmerkung
3, S. 89: "Weil es also kein Ding gibt, das irgendwelche
Kraft hätte, sich zu erhalten oder etwas hervorzubringen, bleibt nichts
anderes übrig, als zu schließen, daß Gott allein die wirkende
Ursache aller Dinge ist und sein muß und daß alles einzelne
Wollen von ihm bestimmt ist." Folglich kommt es nicht von ungefähr,
wenn Spinoza das Verhältnis des Menschen zu Gott in der Metaphorik
der Sklaverei fasst. Denn es " ... folgt daraus, daß wir in
Wahrheit Diener, ja Sklaven Gottes sind, und daß es unsere grösste
Vollkommenheit ist, es notwendig zu sein." (Ebd., S. 93, § 2)
Und ebendort, S. 95, § 8: Denn hierin besteht eigentlich der
wahre Gottesdienst und unser ewig Heil und Glückseligkeit. Denn die
einzige Vollkommenheit und der letzte Zweck eines Sklaven und eines Werkzeugs
ist, daß sie den ihnen auferlegten Dienst gehörig verrichten."
An anderer Stelle wiederum wird dem Leser berichtet, Spinoza habe erkannt,
daß die Seele nach bestimmten Gesetzen handelt und eine Art
geistiger Automat ist (Spinoza, Abhandlung über die Verbesserung
des Verstandes § 85, in der lateinisch-deutschen Studienausgabe
des Meiner Verlages, Hamburg, 2003, S. 79.) Woher kommen diese Bilder von
Sklaven, Werkzeugen und geistigen Automaten?
Zusammengefasst: "Von allen übrigen uns bekannten
Naturdingen unterscheidet sich der Mensch durch das Vermögen des Denkens;
...dieses macht ihn zum Menschen. Aber sowohl mit seinem Körper als
auch mit seinem Geist ist der Mensch integraler Teil der Natur ... und
damit deren (jeweiligen) Gesetzen vollständig unterworfen. Wie der
Körper gehört auch der Verstand zur "natura naturata";
...die Seele ist "sozusagen ein geistiger Automat" ... und mit
allen ihren Äußerungen, auch den "höchsten" in
Kunst und Wissenschaft, Religion und Philosophie, den Naturgesetzen, d.
h. den Gesetzen ihrer Natur vollständig unterworfen. Kurz: auch in
seinem gesamten Denken, Wollen und Handeln ist der Mensch notwendig und
vollständig durch die Gesetze seiner (jeweiligen) Natur determiniert."
Georg Geismann, Spinoza jenseits von Hobbes und Rousseau, in: Zeitschrift
für philosophische Forschung, 43,1989, S 405 f) Dass Steiner dies
kritisiert wird man ihm nicht als Naivität oder Verwechselung von
wirklicher mit illusionärer Freiheit bei Spinoza vorhalten können.
Im Kern wurzeln alle diese Zwangshandlungen Spinozas in
der Wesensnotwendigkeit und Vollkommenheit eines Gottes, den er in der
Ethik auf der Basis logischer Zwänge (nach geometrischer Ordnung)
erschliesst. Er steht folglich in dem permanenten Dilemma sich entweder
den Nötigungen der Vernunft oder den Nötigungen der Affekte zu
unterwerfen. Und schliesslich gezwungenermassen ein höchstes
Wesen (Gott) zu lieben, das ihn selbst weder lieben noch hassen
kann, weil das in Gottes Natur nicht vorgesehen ist. (Siehe dazu Lehrsatz
17 im Teil V. der Ethik) - Als theoretisches Fundament in ein pädagogisches
Gesamtkonzept implementiert zweifellos eine gute Grundlage für psychopathologische
Entwicklungen aller Art. Oder um es etwas moderater in den Worten Steiners
zu formulieren: "Und was wäre denn dieser ganze Mensch wirklich,
wenn die Behauptung des Spinoza wahr wäre, daß alles dasjenige,
was der Mensch tut und erlebt, so notwendig wäre, wie, wenn eine Billardkugel
von einer anderen getroffen wird, diese andere, zweite, mit einer gewissen
Notwendigkeit nach gewissen Gesetzen weiterfliegt. Wenn das so wäre,
dann könnte der Mensch nimmermehr ertragen eine solche Weltordnung.
Wie wenig sie zu ertragen wäre, das würden insbesondere diejenigen
Naturen zu empfinden haben, die «alle Wirkenskraft und Samen»
schauen!" (GA 163, Dornach 1986, S. 54, Vortrag Dornach 28. August
1915)
Mehr theologisch betrachtet könnte man den Eindruck
gewinnen, als habe sich Spinoza eher an einem mitleidlosen, alttestamentarischen
Vatergott der strengen Gesetzgebung und Notwendigkeiten orientiert. (Betrachtet
man seinen logisch-mechanistischen Denkansatz, so käme man vor dem
anthroposophischen Hintergrund unschwer auf so etwas wie eine ahrimanische
Wesenheit, die ihn vorzugsweise inspirierte.). Steiner hingegen eher am
christlichen Gott der (Nächsten)Liebe - das heisst: an der Christuswesenheit.
Und eine weitergehende Fage, gewiss auch im Sinne Hartmut Traubs, wäre:
Welchem Gott folgt eigentlich Goethe? Dem Christengott der Liebe oder dem
Gott der Notwendigkeiten des Philosophen Spinoza, dem er so vielerlei Anregung
verdankt? Und wie spiegelt sich das gegebenenfalls in seiner (Goethes),
- und dadurch vermittelt -, wiederum in Steiners, vor allem dessen früher
Weltsicht wieder?
Als weitere Studienempfehlung kann ich dem Leser hier
besonders Steiners Die Rätsel der Philosophie, GA-18, Dornach
1985 ans Herz legen. Steiner setzt sich da an sehr vielen Stellen mit Spinoza
auseinander. Zumeist in Verbindung mit der Besprechung anderer Philosophen.
Erkennbar wird dort, was ich bislang schon angedeutet habe. Was Steiner
an Spinozas Freiheitsverständnis vor allem bemängelt ist dessen
Verquickung von Freiheit und Notwendigkeit, wie sie in GA 18 exemplarisch
auf S. 230 f aus einer Erörterung Schellings hervorgeht: "Die
menschliche Einzelpersönlichkeit lebt in dem geistigen Urwesen und
durch dieses; dennoch ist sie im Besitze ihrer vollen Freiheit und Selbständigkeit.
Diese Vorstellung betrachtete Schelling als eine der wichtigsten innerhalb
seiner Weltanschauung. Wegen dieser Vorstellung glaubte er in seiner idealistischen
Ideenrichtung einen Fortschritt gegenüber früheren Anschauungen
erblicken zu dürfen: weil diese dadurch, daß sie das Einzelwesen
im Weltengeiste gegründet sein ließen, es auch ganz allein durch
diesen bestimmt dachten, ihm also Freiheit und Selbständigkeit raubten.
<<Denn bis zur Entdeckung des Idealismus fehlt der eigentliche Begriff
der Freiheit in allen neueren Systemen, im Leibnizischen so gut wie im
Spinozischen; und eine Freiheit, wie sie viele unter uns gedacht haben,
die sich noch dazu des lebendigsten Gefühls derselben rühmen,
wonach sie nämlich in der bloßen Herrschaft des intelligenten
Prinzips über das sinnliche und die Begierden besteht, eine solche
Freiheit ließe sich nicht zur Not, sondern ganz leicht und sogar
bestimmter auch aus dem Spinoza noch herleiten.>>"
Für Leser, die mit Steiners Gedankenwelt etwas
näher vertraut sind: Eine sehr viel weitergehende und intimere
Betrachtung der Persönlichkeit Spinozas im Lichte der Weltanschauung
Rudolf Steiners zeigt, dass der Philosoph Spinoza, so wie er oben gezeichnet
worden ist, - und infolge dieser groben Zeichnung ist vielleicht einiges
an Unbehagen, Ablehnung oder Irritation über diese Persönlichkeit
hervorgerufen worden -, durchaus Überraschendes zu bieten hat. Denn
Spinoza ist, - der Auffassung des späteren Steiner zufolge -, dieselbe
Individualität, die sich später in Johann Gottlieb Fichte inkarnierte.
Rudolf Steiner macht dies in verschiedenen Vorträgen deutlich. (Siehe
etwa GA-88, Dornach 1999, S. 184: "Als Beispiel für eine regelmäßige
Entwicklung einer Individualität können wir betrachten einen
Zeitgenossen von Jesus, Philo von Alexandrien. Seine Individualität
kam wieder als Spinoza und dann als Johann Gottlieb Fichte. Wir haben hier
also eine durchgehende Individualität in drei Persönlichkeiten.
Liest man Fichte ohne Kenntnis dieser Vorgänge, so versteht man ihn
nur wenig. Mit dieser Kenntnis aber findet man, daß seine Worte mit
Feuerschrift geschrieben sind. Alle diese großen Geister haben eine
regelmäßige Entwicklung durchgemacht." Siehe auch GA 158,
Dornach, 1993, S. 213: "Wer würde nicht unter scheiden können
den eigentümlichen Grundton Fichtes, des mitteleuropäischen Philosophen,
und den eigentümlichen Grundton Spinozas, der ja auch ein europäischer
Philosoph war. Es ist sogar in der Menschheitsevolution so, daß dasjenige,
was der allgemeinen Kultur angehört, von derselben Individualität
getragen werden kann. Denn dieselbe Individualität ist ja Spinoza
und Fichte, wie vielleicht schon einige unserer Freunde wissen. Aber Fichte
ist als einzelne Persönlichkeit des 18., 19. Jahrhunderts ein Geist,
der durchdrungen werden konnte von der ganzen Kraft des Christus-Impulses;
Spinoza, also dieselbe Individualität, steht aber in der andern Strömung
darinnen und hat nichts davon.") Und Johann Gottlieb Fichte wiederum
war, - wie uns dies Hartmut Traub mit einigem Recht und oftmals sehr guten
Gründen, und manchmal bis zum Überdruss versichert -, auch für
Rudolf Steiner ein ganz wesentlicher Vorläufer der Anthroposophie,
dem Steiner und die Anthroposophie viel verdanken. Unter einem gewissen
Blickwinkel könnte man, wenn man von Steiners ganz individuellen Voraussetzungen
einmal absieht, Fichtes Werke als einen der ursprünglichen philosophischen
Quellorte der anthroposophischen Geisteswissenschaft bezeichnen. Das wissen
wir von Steiners autobiographischen Äusserungen selbst. (Siehe Rudolf
Steiner, Briefe I., herausgegeben von Edwin Froböse und Werner Teichert,
Dornach 1948. Dort den mit Genehmigung von Marie Steiner abgedruckten
autobiographischen Vortrag Steiners vom 4. Februar 1913 in Berlin. S. 1
ff, insbes. S. 33 ff. [Im Internet in leicht überarbeiteter Form erreichbar
unter http://www.anthroposophie.net/steiner/Lebensgang/bib_steiner_lebensabriss.htm
Ebenso unter http://bdn-steiner.ru/cat/Beitrage/D83_84.pdf ]) Interessant
ist in diesem Zusammenhang zu sehen, mit welcher Energie Fichte sein Erkenntnisinteresse
auf etwas richtet, wofür Spinoza allem Anschein nach vollkommen blind
war: Auf die Aktivität des denkenden und handelnden Ich. Vermutlich
hat Hartmut Traub sogar auch darin recht, wenn er sagt, Steiner fusse weltanschaulich
weit mehr auf Fichte denn auf Goethe. Eine ernst zu nehmende und diskutable
These ist das allemal. Vor allem vor dem Hintergrund der eben erwähnten
autobiographischen Skizze Steiners. Und zumindest methodisch lässt
sich zeigen, dass Fichte im Gegensatz zu Goethe eine absolut zentrale
Figur für Steiner war. Insofern nämlich, als es Fichte war,
der die philosophische Aufmerksamkeit so sehr auf die Beobachtung des Denkens
- genauer: auf die Tathandlung des Ich beim Denken - gerichtet hat, auf
der die anthroposophische Empirie des Geistes eigentlich aufbaut. Und daran
(an die Beobachtung des Denkens) knüpft Steiner in der Anthroposophie
(vor allem schon in den philosophisch geprägten Frühschriften)
ganz explizit und eindrücklich methodisch an. Steiners Methode der
wissenschaftlichen Geistesforschung ist ohne die Beobachtung
des Denkens weder möglich noch vorstellbar. (Wobei anzumerken ist:
Was Hartmut Traub zu diesem Thema - wissenschaftliche Geistesforschung
- schreibt, ist im wesentlichen nichts als Nonsens. Er hat von diesem
Aspekt der Anthroposophie so gut wie nichts verstanden.) Während Goethe
demgegenüber einer bekannten Bemerkung zufolge, angeblich nie über
das Denken gedacht hat, - einer der wenigen wirklich markanten Anlässe
für Steiner, an Goethe ernsthaft Kritik zu üben. Wobei er beides
moniert: Sowohl dessen mangelndes Erkenntnisinteresse dem Denken gegenüber,
wie auch die daraus resultierende fehlende Einsicht bezüglich der
Freiheit. (Siehe Goethes Weltanschauung, GA06, Dornach 1990, S.
84 ff). Jedenfalls hat Goethe niemals eine Weltanschauung darauf gegründet
wie Fichte oder Steiner. Da war Spinoza in der neuen Gestalt Fichtes offensichtlich
- zumindest in dieser Frage - weiter als Goethe. Nimmt man hinzu, dass
Spinoza gewissermassen als eine philosophische Leitfigur Goethes wiederum
von dieser rezeptiven Seite in Steiners philosophischen Gedankengängen,
vor allem in seinem frühen Idealismus einigen prägenden Eingang
gefunden hat, dann bekommt die Frage nach dem Verhältnis von Steiner
zu Spinoza noch eine vollkommen andere Dimension, als sie einer vordergründigen
rezeptionsgeschichtlichen Betrachtung zugänglich ist.
*
Zurück zu Popper: Hier zeigt sich nicht nur die bemerkenswerte
Kraft des Popperschen Argumentes, sondern auch die unglaublich enge Verquickung
der Freiheitsfrage mit der Erkenntnisfrage. Denn für die Anerkennung
Gottes wie jedes anderen Geistwesens, dessen manipulative Existenz vom
spirituellen Fatalisten vorausgesetzt wird, gilt das Prinzip seiner rationalen
Begründbarkeit. Ein Gott, für dessen Existenz es keine Argumente
gibt, ist eine leere und nichtssagende Hypothese. Dasselbe gilt für
alle anderen Entitäten der geistigen Welt, von denen der Mensch möglicherweise
gesteuert werden könnte. An diese Entitäten kann dann nur noch
unbegründet geglaubt, aber nicht von ihnen begründet gewußt
werden. Das begründete Wissen wiederum setzt die Überzeugung
von der logischen Gültigkeit und Verbindlichkeit der Gründe des
Wissens voraus und damit implizit den Freiheitscharakter des Erkennens.
Im Sinne Poppers ließe sich dazu sagen: «Wenn wir glauben,
wir hätten eine Theorie wie den geistigen Determinismus wegen
der logischen Kraft bestimmter Argumente angenommen, dann täuschen
wir uns gemäß der Theorie des geistigen Determinismus;
oder genauer: Wir befinden uns in einem geistigen Zustand, der uns
dazu bestimmt, uns zu täuschen.» Das heißt bei Annahme
eines geistigen Determinismus bricht überhaupt das ganze Begründungsgebäude
nicht minder zusammen wie bei Annahme eines physikalischen Determinismus.
Es gibt dann weder rationale Gründe für noch gegen den Geist,
womit zwangsläufig auch die These vom geistigen Determinismus nichtig
wird und nur noch den Status einer Glaubenüberzeugung oder unbegründeten
geistigen Ideologie einnimmt. Das heißt: im Vollzug des Erkenntnisprozesses
kann der Mensch weder materiell noch geistig durchgängig determiniert
sein. Wäre er es, dann würde er nicht erkennen, sondern hätte
lediglich den Charakter eines subtilen Automaten, der im einen Fall physikalisch,
im anderen Fall geistig einen Prozeß vollführen muß,
auf den er nicht den geringsten Einfluß hat. Im zweiten Fall wird
der Mensch zum willenlosen Subjekt, Werkzeug bzw Knecht des Geistes
bzw der Idee. (Ein Gott, der dem Menschen keine Freiheit gewährt,
sondern ihn bis in jedes kleinste Detail beherrscht, könnte von diesem
gar nicht erkannt werden. Auch nicht in marginalen Einzelheiten seiner
Gottesnatur.)
Die Freiheit gegenüber der geistigen Welt verlangt
also nicht minder nach einer Begründung wie die Freiheit gegenüber
der materiellen Welt. Und in beiden Fällen wurzelt die Begründung
der Freiheit in der Erkenntnistheorie, die nicht nur unserer Überzeugung
von den materiellen Dingen sondern auch von den geistigen Dingen die Rechtfertigungsbasis
liefert.
Beide Fälle hat Rudolf Steiner mit der Philosophie
der Freiheit im Auge. Eben auch den Aspekt der Freiheit von geistigen
Determinationen. Schlaglichtartig kommt dies zum Ausdruck, wenn er dort
am Ende der Schrift im zweiten Anhang zur Neuausgabe von 1918 schreibt:
"Man muß sich der Idee erlebend gegenüberstellen können;
sonst gerät man unter ihre Knechtschaft." (Die analoge
Stelle am Ende des ersten Kapitels der Erstausgabe lautet weniger zurückhaltend:
"Man muß sich der Idee als Herr gegenüberstellen, sonst
gerät man unter ihre Knechtschaft.") |
Wenden wir den Blick kurz zurück auf die Abschnitte I und
II dieser Arbeit, dann können wir festhalten: Popper macht hier der Sache
nach die selben Argumente geltend wie Steiner, wenn dieser im dritten Kapitel der
Philosophie der Freiheit (S. 44 f) sagt: "Diese durchsichtige Klarheit
in bezug auf den Denkprozeß ist ganz unabhängig von unserer Kenntnis
der physiologischen Grundlagen des Denkens. Ich spreche hier von dem Denken, insoferne
es sich aus der Beobachtung unserer geistigen Tätigkeit ergibt. Wie ein materieller
Vorgang meines Gehirns einen andern veranlaßt oder beeinflußt, während
ich eine Gedankenoperation ausführe, kommt dabei gar nicht in Betracht. Was
ich am Denken beobachte, ist nicht: welcher Vorgang in meinem Gehirne den Begriff
des Blitz es mit dem des Donners verbindet, sondern, was mich veranlaßt,
die beiden Begriffe in ein bestimmtes Verhältnis zu bringen. Meine Beobachtung
ergibt, daß mir für meine Gedankenverbindungen nichts vorliegt, nach
dem ich mich richte, als der Inhalt meiner Gedanken; nicht nach den materiellen
Vorgängen in meinem Gehirn richte ich mich." Der argumentative Kontext
im engeren Sinne ist bei Popper die Logik. Bei Steiner ist es vordergründig
die durch Beobachtung feststellbare Tatsache, daß sich das intuitive
Denken in seinem Fortgang ausschließlich nach begrifflichen Inhalten richtet.
Der Sachlage nach liegt aber die Argumentation in beiden Fällen auf der gleichen
Ebene. Denn der von Popper ins Feld geführte Beweisgang: «Logische Erwägung
ist überhaupt nur möglich wenn und weil das begriffliche Denken von den
kausalen Vorgängen des Organismus unabhängig ist», setzt voraus,
daß sich das Denken nach begrifflichen Inhalten richten kann und nicht von
den physiologischen Bedingungen seine Bestimmungen erhält. Das heißt,
er spricht hier von denselben grundlegenden Tatsachen, die bei Steiner unter die
Rubrik Intuitives Denken; Woher erhält dieses seine Bestimmungen?;
Und in welchem Verhältnis steht es zu unserer leiblichen Organisation? fallen.
Es ist nur konsequent und liegt in der Natur dieser Sache begründet, wenn
Popper gemeinsam mit Eccles den erheblichen hirnphysiologischen Impikationen dieser
Faktenlage nachzugehen versucht.
(Bemerkung vom 09.08.05: Man kann natürlich in dieser kurzen
Gegenüberstellung nur einige wenige Aspekte berücksichtigen, die für
einen Vergleich zwischen Steiner und Popper in der diskutierten Frage von Belang
sind. Ich sage das extra, um den Gedankengang nicht zu arg zu verkürzen. Was
bei Steiner unter allen Umständen zu berücksichtigen ist, das ist die
sich selbst tragende und erklärende Eigenschaft des Denkens. Dafür gibt
es bei Popper, soweit ich bislang sehe, nichts vergleichbares. Er hätte diesen
Aspekt vermutlich an die von ihm nicht übermäßig hoch geschätzte
Denkpsychologie verwiesen. Einer Wissenschaft, der er in jungen Jahren als Schüler
Karl Bühlers noch nahe gestanden hatte. Die er aber, frustriert von ihrem
unreifen methodischen Instrumentarium, sehr bald verließ, um sich den aussichtsreicheren
Naturwissenschaften philosophisch zuzuwenden. Eine kontrastierende Abklärung
zwischen den logischen Gedankengängen Poppers und Steiners wäre eigentlich
ein (Teil)-Thema einer umfangreichen Arbeit - etwa einer Dissertation. Und als
solche durchaus interessant und erfolgversprechend.)
Manche Philosophen, die sich um das ausgehende 19. Jahrhundert
mit dem Verhältnis von Logik und Naturkausalität befaßt haben,
waren in dieser Hinsicht zielbewußter als etwa Peter Bieri. Karl Popper habe
ich hier nur pars pro toto angeführt. Tatsächlich führt die Frage
nach der Freiheit noch sehr viel tiefer in Erkenntnisfragen hinein bis hin zu den
Grundlagen von Logik und Erkenntnis überhaupt. Sehr viel tiefer noch, als
bei Popper auf den ersten Blick deutlich wird. Aber es ist ein sehr plastisches,
sehr drastisches und folgerichtiges Beispiel, das er hier gibt. Die problematische
Beziehung zwischen logischen Gründen einerseits und Kausalgründen andererseits
findet in der Erkenntnistheorie und Logik einen regelrechten Kulminationspunkt.
Und dort zeigt sich, daß ein durchgängiger physikalischer Determinismus
eine rein logisch begründete Einsicht nicht nur ausschließt, sondern
die Grundprinzipien des Erkennens selbst zerstört und mit ihnen - wie es Popper
andeutet - auch die Möglichkeit für den Determinismus zu argumentieren,
weil es dann gar keine Argumente mehr gibt. Der Determinist weiß es nur noch
nicht, oder will es vielleicht auch gar nicht wissen. Anders gesagt: Der physikalische
Determinismus des Erkennens ist mit den Grundprinzipien von Logik und Erkenntnis,
auf die sich der Physikalist inkonsequenterweise selbst beruft, absolut unverträglich.
Die Frage nach der Freiheit des Erkennens ist also - wie bereits gesagt - eine
der Schlüsselfragen der Freiheitsphilosophie schlechthin. Und sie ist auch
- was den Physikalisten mit Recht sehr beunruhigt - eine physikalische Schlüsselfrage.
Denn falls es sich so verhält, daß unser Erkennen kein Epiphänomen
der Hirnphysiologie, sondern unser eigenes von logischen Gründen geleitetes
freies Tun ist, dann ist in der Tat das physikalische Weltbild der Gegenwart
betroffen und in Frage gestellt. Denn Freiheit des Handelns und Erkennens schließt
eine durchgängige und lückenlose Naturkausalität aus, und untergräbt
damit eine der stabilsten Grundüberzeugungen der gegenwärtigen Physik:
den Energieerhaltungssatz. 3)
(Siehe hierzu auch Anmerkung 1)
Anmerkungen:
1)
Vor allem in den Kritiken an der Philosophie des Geistes von Popper und Eccles
(Karl R. Popper, John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, München, 1982.
Ebenso John C. Eccles, Daniel N. Robinson, Das Wunder des Menschseins - Gehirn
und Geist, München 1985) kommen diese Argumente und Befürchtungen
zum Ausdruck. Siehe hierzu etwa:
Henrik Walter, Neurophilosophie der Willensfreiheit, Paderborn
1998, S. 80 f. :
"Wie wechselwirken die beiden Welten [gemeint sind die physikalische
Welt und die intelligible Welt unseres Geistes, MM] miteinander? Wie wirkt die
zweite Welt in die erste hinein und wie werden die beiden Welten koordiniert? Jede
Wechselwirkung verletzt den Energieerhaltungssatz und ist daher eine wissenschaftliche
Anomalie."
Ebenso S. 123: "Einerseits behauptet Eccles, daß der
selbstbewußte Geist nicht den üblichen Naturgesetzen unterworfen ist,
andererseits erklärt er, daß der selbstbewußte Geist in der Lage
sei, mit der physikalischen Welt, d.h. dem Gehirn, in Wechselwirkung zu treten.
Er hält also am Begriff der mentalen Verursachung fest. Eine Veränderung
physikalischer Gegebenheiten im Gehirn erfordert jedoch Energie und eine mentale
Verursachung, die in der physikalischen Welt vorher nicht vorhandene Energie einführte,
bedeutet eine Verletzung des Energieerhaltungssatzes."
Ausführlicheres ebendort S. 178 ff.
Siehe auch: Mario Bunge, Rubén Ardila, Philosophie der
Psychologie, Tübingen 1990, S. 14:
"An der Philosophie des Geistes von Popper und Eccles ist
folgendes offensichtlich: Erstens, sie ist unausgegoren, weil ihre Schlüsselbegriffe
- vor allem Welt, Geist und Interaktion - undefiniert bleiben, und sie enthält
überdies keinerlei präzise Hypothese über den Geist und seine angebliche
Interaktion mit dem Gehirn. Zweitens verletzt sie ein fundamentales physikalisches
Prinzip, nämlich den Energieerhaltungssatz (postuliert sie doch, der immaterielle
Geist könne Materie in Bewegung setzen). Drittens mißachtet sie eine
jedweder experimentellen Wissenschaft stillschweigend zugrunde liegende Voraussetzung,
daß nämlich der Geist nicht unmittelbar auf Materie wirken könne,
...")
In seiner grundsätzlichen Struktur wird dieses Problem der
Interaktion einer immateriellen mit der materiellen Welt erörtert bei Peter
Bieri (Hgr.), Analytische Philosophie des Geistes, 3. Aufl, Königsstein/Ts.,
1997, S. 5 ff. Bieri schreibt dort etwa (S. 6): "Wenn mentale Phänomene
nicht-pysische Phänomene sind und wenn es mentale Verursachung gibt, dann
kann der Bereich physischer Phänomene nicht kausal geschlossen sein. Wenn
er jedoch kausal geschlossen ist und wenn mentale Phänomene nicht-physische
Phänomene sind, dann kann es allem Anschein zum Trotz keine mentale Verursachung
geben. Und wenn es sie trotz der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt gibt,
dann kann es nicht sein, daß mentale Phänomene nicht-physische Phänomene
sind."
Eine umfassende Übersicht über die derzeitige Forschungslage
zum Thema mentale Verursachung aus der Sicht der analytischen Philosophie gibt
Godehard Brüntrup, Mentale Verursachung, Stuttgart, Berlin, Köln,
1994.
2)
Ein Argument dieses Typs - daß es in einer völlig deterministischen
Welt keine Erkenntnis im eigentlichen Sinne geben könne bzw. "Wenn der
Determinismus nun zutrifft, bin ich gar nicht in der Lage, wirkliche Untersuchungen
oder Nachforschungen anzustellen; daher kann ich kein Vertrauen in die Wahrheit
des Determinismus haben. " - empfindet der oben erwähnte Henrik Walter
(S. 84) als ernstzunehmende "Herausforderung". Siehe hierzu auch obiges
Selbstwiderlegungsargument Poppers gegen den Determinismus.
Siehe hierzu auch Popper/Eccles, Das Ich und sein Gehirn,
a.a.O., S. 105 ff; S. 641 f, dort die Anmerkung 3.
3)
Zu diesem Thema: Physikalische Implikationen des Denkens und
Erkennens finden Sie einen Artikel von mir in der Zeitschrift Die Drei,
7, Juli 2005, S. 31-39: Michael Muschalle, Errettung des Denkens. Roger Penroses
Erkundungen des Bewussten und Rudolf Steiners Bewußtseinsphilosophie
Siehe weiter dazu die Kritik zu diesem Aufsatz von Ernst Oldemeyer,
Dualistische oder monistische Rettung des Denkens und der Freiheit, in Die Drei,
10, Oktober 2005, S. 61 ff; (http://www.diedrei.org/Heft%2010%2005/09%20Oldemeyer.pdf)
ebenso meine Antwort an Ernst Oldemeyer, Quantenphysik und
Gedankenleben, in Die Drei 11, November 2005, S. 59 ff.
(http://www.diedrei.org/Heft%2011%2005/09%20Muschalle-Erwiderung.pdf)
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